Das Objekt, das liebevoll den Spitznamen Banana Boy trägt, ähnelt einem dunkelgrauen Holzkohleklumpen, der die Größe und Form einer Banane hat. Doch hinter dieser humorvollen Bezeichnung verbirgt sich ein bedeutendes historisches Objekt. Es handelt sich um eine verkohlte Papyrusrolle, die in den Ruinen einer Villa in der antiken römischen Stadt Herculaneum am Golf von Neapel gefunden wurde. Diese Papyrusrolle, zusammen mit Hunderten anderer Schriftrollen in der Bibliothek der Villa, wurde Opfer der Zerstörung durch Lava während des Ausbruchs des Vesuvs im Jahr 79 n.d.Z. Es wird angenommen, dass die fragliche Villa Lucius Calpurnius Piso gehörte, dem Schwiegervater von Julius Cäsar. Die Schriftrollen der gut ausgestatteten Bibliothek wurden so stark verkohlt, dass ein einfaches Ausrollen unmöglich ist und den vollständigen Zerfall der Rolle bedeuten würde.
„Ich kann nicht glauben, dass es funktioniert hat!“, sagte Nat Friedman, Mitbegründer der Vesuvius Challenge in einem Interview auf YouTube. Diese Challenge hatte Preise von über einer Million USDollar für jeden ausgelobt, der Programme Künstlicher Intelligenz (KI) entwickeln konnte, um die verkohlten Papyrusrollen zu entziffern. Gemeinsam mit Daniel Gross initiierte Nat Friedman die Vesuvius Challenge. Beide Männer hatten bereits beachtliche Erfolge in der Technologiebranche erzielt. Daniel Gross wurde 1991 in Israel geboren und gründete die von Künstlicher Intelligenz unterstützte Suchmaschine Cue, die Apple 2013 für über 40 Millionen US-Dollar kaufte. 2023 bezeichnete ihn das Time Magazine als einen der einflussreichsten Menschen im Bereich der Künstlichen Intelligenz.
Dank eines aufsehenerregenden internationalen
Wettbewerbs konnte eine verkohlte Papyrusrolle
wieder lesbar gemacht werden.
Nat Friedman war Gründer des Unternehmens GitHub, das später von Microsoft für 7,5 Milliarden US-Dollar erworben wurde. 1977 in Charlottesville, USA, geboren, schloss er sein Studium am Massachusetts Institute of Technology (MIT) als Programmierer ab. Schon als Jugendlicher hatte er ein großes Interesse an der römischen Antike. Als er von der Problematik der Lesbarkeit von Banana Boy erfuhr, wurde er neugierig. Um die Dinge zu beschleunigen, beschloss er gemeinsam mit Daniel Gross, die Vesuvius Challenge zu organisieren.
Am 5. Februar dieses Jahres wurde von den beiden Informatikern bekanntgegeben, dass ein dreiköpfiges Team 700.000 US-Dollar für die erfolgreiche Extraktion von vier Textpassagen erhalten hat, wobei jede Passage mindestens 140 Zeichen lang war und mindestens 85 Prozent der Zeichen mit Hilfe Künstlicher Intelligenz und spezieller Algorithmen wiederhergestellt wurden bzw. nun lesbar waren.
Die drei Gewinner, Luke Farritor, Youssef Nader und Julian Schilliger, sind begabte Informatikstudenten aus verschiedenen Ländern. Obwohl sie einander nie persönlich getroffen haben, arbeiteten sie kurz vor Ablauf der Challenge zusammen und beschlossen, ihre Fähigkeiten zu bündeln. Sie verpflichteten sich vertraglich, dass im Falle eines Gewinns jeder ein Drittel des Preisgelds erhalten würde. Luke Farritor, der Informatik an der University of Nebraska-Lincoln studiert hatte, konnte durch die Analyse eines Knistermusters die Tinte auf der Rolle filtern. Youssef Nader, Biorobotikstudent an der Freien Universität Berlin, entwickelte mithilfe eines verfeinerten neuronalen Netzwerks ein Bild mit vier nebeneinander angeordneten Textspalten. Und Julian Schilliger, Absolvent der ETH Zürich, automatisierte mithilfe eines von ihm entwickelten Tools einen größeren Teil des Segmentierungsprozesses der Schriftrolle. Der theoretische Zugang der drei Informatiker war dabei die Annahme, dass es die Lösung zu einem Problem bereits gibt und diese nur gefunden werden müsse.
Die Enthüllung dieser Texte könnte die Zahl der aus der Antike erhaltenen Texte erheblich erweitern und stellt eine bedeutende Entwicklung für die Papyrologen dar.
Über 1.200 junge Teams beteiligten sich an der Challenge, und nach nur knapp neun Monaten wurde im Dezember 2023 bereits jene Technologie entwickelt, um die Schriftrollen zu lesen. Den Organisatoren Nat Friedman und Daniel Gross war es wichtig, dass jeder Software-Code nachvollziehbar ist, um die Vorgänge des virtuellen Entrollens zu verstehen. Daher wollten sie, dass die Software als Open Source für jeden zugänglich ist, und Friedman stellte GitHub für die Veröffentlichung der Codes zur Verfügung.
Die erfolgreiche Methode des virtuellen Entrollens von Banana Boy erfolgt in drei Schritten. Zunächst wird ein 3D-Scan der Schriftrolle oder eines Fragments mittels Röntgentomografie erstellt. Danach werden die zerknitterten Schichten des Papyrus im 3D-Scan nachgezeichnet und virtuell abgerollt. Dafür wird der beste Scanner der Welt, der Diamond Light Source, der in der Nähe von Oxford steht, verwendet. Schließlich werden die eingefärbten Bereiche in den abgeflachten Segmenten mithilfe eines maschinellen Lernmodells identifiziert. Diese Methode ermöglicht nicht nur die Lesbarkeit der Texte, sondern eröffnet auch neue Perspektiven für die Forschung.
Bahnbrechende Erkenntnisse. Das Besondere der jetzigen Methode ist vor allem das Erkennen der Schriftzeichen. Alle vorangegangenen Versuche scheiterten bisher an der Lesbarkeit der Tinte, die vor über zweitausend Jahren verwendet wurde. 2015 wurden bereits Teile der über 900 Schriftrollen von En Gedi in Israel mit Röntgenstrahlen untersucht. Die Texte der Qumran-Rollen werden auf das dritte Jahrhundert v.d.Z. datiert. Bei der Untersuchung konnte aber nur festgestellt werden, dass der Text aus dem Buch Levitikus stammt. Das fragmentarische Lesen dieser Texte aus den beschädigten oder zerfallenen Schriftrollen erhielt damals internationale Anerkennung von Science Advances und wurde unter anderem in der New York Times, Le Monde und The Times of London veröffentlicht. Sie galt als eine der bedeutendsten Entdeckungen der biblischen Archäologie der letzten Jahrzehnte. Für die Judaistik eröffneten die Handschriften vom Toten Meer neue Einsichten in die Entwicklung der Halacha.
Die technische Verbesserung der Computertomografen ermöglichte es aber erst jetzt, die karbonisierte Schriftrolle Banana Boy digital auszurollen. Um den Inhalt zu lesen, musste zusätzlich eine komplexe Software mit neuronalem Lernen entwickelt werden, die von den drei Hauptpreisträgern der Vesuvius Challenge geschrieben wurde.
Es wird vermutet, dass Philodemus, ein Philosoph aus der epikureischen Schule, der Verfasser des Textes von Banana Boy sein könnte. Der Inhalt ist eine Abhandlung darüber, wie man das Leben genießt, ein zentrales Prinzip der epikureischen Philosophie, um ein erfülltes Leben zu führen.
Für das Jahr 2024 wurde eine weitere Challenge mit Preisgeldern von Nat Friedman und Daniel Gross ausgeschrieben, um die noch ausstehenden 500 Schriftrollen aus dem Herculaneum zu entziffern. Ziel dieser neuen Challenge ist es, nicht nur Teile der Schriftrollen lesbar zu machen, sondern mindestens neunzig Prozent davon. Die Enthüllung dieser Texte könnte die Zahl der aus der Antike erhaltenen Texte erheblich erweitern und stellt eine bedeutende Entwicklung für die Papyrologen dar, die darin die größte Revolution seit der Renaissance sehen.