„Antikriegsstücke haben kein Ablaufdatum“

In einer packend dichten Inszenierung bringt die deutsch-iranische Regisseurin die Trilogie der Ungarin Ágota Kristóf auf die Bühne des Akademietheaters.

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© Tommy Hetzel / burgtheater

WINA: Die Schriftstellerin Ágota Kristóf, die 1956 mit ihrem Mann und der viermonatigen Tochter nach dem Ungarnaufstand in die französische Schweiz nach Neuchâtel (Neuenburg) geflohen war, hat mit ihrer Trilogie Das große Heft/Der Beweis/Die dritte Lüge ein aufwühlendes Antikriegsbuch geschrieben. Sie zeigt schonungslos die schrecklichen Auswirkungen, die ein Krieg auf die Zivilbevölkerung hat, hier am Beispiel von neunjährigen Zwillingen. Frau Salehpour, Sie hatten im gleichen Alter ein Fluchterlebnis, da sie auch mit neun Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern aus dem Iran geflohen sind. Fühlen Sie sich mit Ágota Kristóf seelenverwandt?

Mina Salehpour: Absolut, ich bin ein großer Fan ihrer Arbeit, ihrer Sprache. Ihr Schicksal ist spannend und berührend: wie sie durch die Flucht ihre Muttersprache und damit auch ihr wichtigstes Instrument verloren hat, alles neu lernen musste. Sobald es einigermaßen ging, publizierte Kristóf in französischer Sprache. Während sie ihr Kind versorgte, musste sie in einer Uhrenfabrik arbeiten, das kann atmosphärisch nicht leicht gewesen sein, in meiner Phantasie ist der Rhythmus, in dem sie schrieb, von tickenden Uhren beeinflusst. Ich hätte Ágota sehr gerne kennengelernt, das habe ich leider verpasst!

 

Am 30. Oktober jährt sich Ágota Kristófs Geburtstag zum 90. Mal. Sie hat spät in ihrem Leben, erst mit 40 Jahren, wieder publiziert und ist 2011 mit nur 76 Jahren gestorben. Sie haben die Trilogie vor knapp zwei Jahren in Köln inszeniert. War das Ihre Idee? Hatten Sie Kristófs Werke schon gekannt?

I Es war meine Idee, denn ich hatte Das große Heft zunächst als Roman gelesen, etwas später die Folgeromane. Ich hatte das schon länger mit mir herumgetragen, es war mir klar, dass ich das auf die Bühne bringen wollte, und in Köln haben wir das realisiert. 

 

„Die Belehrung von der Bühne
herab fand ich nie richtig, sie
ist ja auch fehlgeschlagen.“
Mina Salehpour

 

Ihre Muttersprache war Persisch, und sie konnten ein wenig Englisch. Wie ist es Ihnen 1994 nach der Ankunft in Deutschland ergangen?

I Wir landeten an einem Freitag in Frankfurt am Main – am Montag war ich bereits in der Schule. Eine Tante lebte bereits im oberfränkischen Forchheim, so hatten wir gleich Anschluss. Ich traf auf eine sehr freundliche Klassenlehrerin, und da ich so eine Plaudertasche bin, konnte ich leichter Freundschaften schließen. Nach einem Jahr schaffte ich den Umstieg ins Gymnasium, und obwohl ich mir anfänglich mit Latein etwas schwer tat, ging es trotzdem gut weiter. Ich würde sagen, das ist eine Erfolgsgeschichte! (lacht)

 

An welchen Krieg dachten Sie bei der Produktion in Köln, und jetzt am Wiener Akademietheater?

I Damals wie heute an den Krieg in der Ukraine. Das Stück finde ich so großartig, weil es kein Ablaufdatum hat. Es ist kein modisches Thema, das jetzt en vogue ist und dann wieder verschwindet. Was Menschen sich gegenseitig antun, wie sich das auf Kinderseelen auswirkt, ist mehr als brutal. Auch wenn man die Flucht überlebt, ist die Geschichte mit dem nackten Überleben nicht vorbei, das hört ja nicht auf, nur weil irgendwelche Mächte einen Vertrag unterschreiben. Der Überlebenstrieb steht zwar an erster Stelle, aber der wahre Kampf für ein neues Leben beginnt erst mit den Auswirkungen der Flucht. Wer denkt das mit Geflüchteten die nicht integrierbereit oder auch gewaltbereit sind? Jeder reagiert anders auf diese Torturen.

 

Bedrückend und beeindruckend: Ágota Kristófs Trilogie am Wiener Akademietheater. © Andreas Schlager / Burgtheater

 

In Wien spielen die gleichen Schauspieler wie in Köln. Haben Sie an Ihrer Inszenierung für Wien etwas geändert?

I Nein, wir haben nichts verändert, es war schön, es hier wieder einzurichten, das gesamte Team hier, die Kollegen und Kolleginnen waren so freundlich und engagiert bei der Umsetzung am Akademietheater. Eine positive Änderung gibt es schon: Wir konnten in Wien die Mikroports weglassen, denn die Akustik im Akademietheater ist wunderbar. 

 

Wenn ich Ihre zahlreichen prämierten Regiearbeiten anschaue, haben Sie höchst erfolgreich Literaturadaptionen auf die verschiedensten Bühnen gebracht. Wie kam es dazu?

I Das frage ich mich auch immer, denn das ist schon eine große Mehrarbeit, die ich mir mit der Textfassung antue – da bin ich viele Wochen an meinem Schreibtisch festgenagelt. Einerseits lese ich gerne und viel, sehr gerne Romane, da entstehen gleich Bilder in meinem Kopf. Aber angefangen hat es mit einer Kollegin, die mir etwas Literarisches zu lesen gab, mit der Absicht, dass ich es dramatisiere. Das habe ich gut geschafft, vielleicht kamen deshalb später diese Aufträge wieder zu mir. Oft empfinde ich eine gewisse Einengung des Blicks, die mir die Theaterautoren rigide vorschreiben. Beim Bearbeiten eines Romans muss man nicht alles sprechen, man kann es oft nur in Andeutungen, Blicken und Bewegungen oder assoziativen Bildern verständlich machen.

 

Vielleicht gibt es zu wenig Theaterautoren, die gute aktuelle Stücke schreiben?

I Mich sprechen jedenfalls Romane mehr an.

 

Zurück zu Ágota Kristóf und Ihrer dichten Inszenierung, in der die minimalistische und schonungslose Sprache der Autorin in extremer Brutalität sichtbar wird. Die völlig auf sich gestellten Buben passen sich dieser vom Krieg geprägten Gesellschaft auf ihre Art an, indem sie sich verbal und körperlich zu wehren lernen und ihre eigenen moralischen Standards entwickeln. Dadurch sind sie keine Kinder mehr, sondern – zu sich und anderen – erbarmungslose junge Erwachsene. Sehen Sie ähnliche Tendenzen bei Jugendlichen heute?

I Nicht direkt, möglich wäre es nur bei Kriegen in den Ländern, wo zumindest jetzt noch Frieden im herkömmlichen Sinn herrscht. Kinder dürfen noch Kinder sein, und wenn man dieses Stück sieht, merkt man erst, was auf dem Spiel steht: dass wir dann alle unsere Unschuld und Naivität verlieren, die wir uns ohne Krieg auch als Erwachsene bewahren dürfen. Ich weiß nicht, wie es den Kindern in der Ukraine oder in Gaza geht, denen wird es ähnlich ergehen wie unseren beiden Burschen bei Kristóf: die Verrohung, die Gewalt, der Verlust des normalen Lebens. Denn alles, was man bis dahin gelernt hat, nützt einem nicht mehr. Was nützt mir mein Latein, wenn ich etwas zum Fressen brauche?

 

In unserer heutigen politischen Realität sehen wir nicht nur kriegerische Konflikte, sondern auch einen starken gesellschaftlichen Ruck nach rechts, analog zum Wunsch nach einfachen Lösungen: Was kann Kultur da noch ausrichten?

I Sie kann weiter existieren, das ist ihre erste Aufgabe! Es ist wichtig, sich nicht unterkriegen zu lassen. Die Zeit, die wir haben, als luxuriöses Gut zu schätzen, weil keine Bomben draußen fallen. Herzensgroßzügigkeit ist das Wort der Stunde: Allen etwas zu gönnen, vor allem auch anderen Theatern, denn je mehr wir sind, um so besser. Die Belehrung von der Bühne herab fand ich nie richtig, sie ist ja auch fehlgeschlagen.

 

Aber wenn die freie Kulturlandschaft von den Machthabern ausgehungert wird?

I Wenn Sie sich die Biografie unser beider Eltern anschauen, wissen Sie, wie die auf Repression reagiert haben. Sie wussten noch klar, wo sie die Freiheit finden, aber schon für uns gilt, auswandern ja, aber wohin? Wenn man bleibt, muss man die eigene Freiheit ins Private ziehen, wie das meine Kolleginnen und Kollegen im Iran machen: Filme drehen und ins Ausland schmuggeln. Ich kenne viele im Iran, die das laufend tun.

 

Sie sind im Kontakt mit den Berufskollegen im Iran?

I Ja, natürlich, aber ich habe auch viel Familie dort, und zwar in allen Altersgruppen, u. a. meine 94-jährige Oma.

 

Sie haben sehr gute Kritiken für Ihre erste Arbeit am Burgtheater eingeheimst, u. a. schrieb Die Presse: „Regisseurin Mina Salehpour hat aus der Prosa dieser Trilogie von Ágota Kristóf ein stringentes, minimalistisches, ausgezeichnetes Drama gemacht. Diese Umsetzung von drei kurzen Romanen auf der Bühne ist durchaus geglückt.“ Wann arbeiten Sie wieder hier?

I Ich komme Ende Januar wieder an die Burg und probe Alles ist erleuchtet nach dem Roman von Jonathan Safran Foer, das ist ein fantastisches Buch. Premiere ist am 20. März, wieder am Akademietheater.

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