„Antisemitismus ist ein Problem der Nichtjuden“

Das Sir Peter Ustinov Institut lädt im Mai in Wien zu einer Konferenz über „Kontinuität und Aktualität des Antisemitismus“. WINA sprach mit der Theologin Regina Polak, die für die Programmerstellung verantwortlich zeichnet.

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Regina Polak, geb. 1967 in Wien, ist katholische Theologin. Aktuell ist sie Assoziierte Professorin und Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Zudem ist sie theologische Beraterin der Migrationskommission der Deutschen und der Europäischen Bischofskonferenz sowie OSCE-Personal Representative on Combating Racism, Xenophobia and Discriminiation, also focusing on Intolerance and Discrimination against Christians and Members of Other Religions. 2016 lehrte sie an der Universität Haifa in Israel als Visiting Professor. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration und Religion, interreligiöser Dialog (christlich-jüdisch, christlich-islamisch), Rassismus und Antisemitismus sowie Werteforschung. © Joseph Krpelan, derknopfdruecker.com

Konferenz
Kontinuität und Aktualität des Antisemitismus.
Eine österreichische und globale Herausforderung.
27. und 28. Mai 2021 an der Universität Wien.
Veranstaltet vom Sir Peter Ustinov Institut in Kooperation mit der katholisch-theologischen und evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien sowie dem Forschungszentrum Religion and Transformation in Contemporary Society.
ustinov.at

WINA: Das Programm der Konferenz macht einen Bogen von der Wiener Gesera bis zu den antisemitischen Verschwörungstheorien von heute. Wie viel Detailwissen braucht es, um die Mechanismen von Antisemitismus zu verstehen?
Regina Polak: Die Antisemitismusforschung ist interdisziplinär heute nahezu unüberschaubar. Bereits bei der Begriffsdefinition fangen die wissenschaftlichen Debatten an. Ich versuche daher, bei solchen Konferenzen immer Experten und Expertinnen aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammenzubringen, weil wir auch diese Vernetzung untereinander benötigen. Dieses Thema kann man als einzelne Person kaum ausreichend erfassen. Was aber möglich ist, ist eine grundsätzliche Sensibilisierung, dass das Phänomen eine relevante Bedrohung für Juden und Jüdinnen in Österreich und für jüdisches Leben darstellt. Und diese Sensibilisierung braucht es.

Was als antisemitisch einzustufen ist, dafür hat die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) mit ihrer Definition und den angefügten Beispielen eine Grundlage geschaffen. Warum ist es im Einzelfall so schwierig, dass in Österreich von allen anerkannt wird, dass diese oder jene Aussage antisemitisch ist?
In Österreich und Deutschland ist das tatsächlich eine besondere Herausforderung. Man weiß um die Verantwortung um die Rolle des Antisemitismus in der Schoah. Niemand möchte den Vorwurf bekommen, er sei Antisemit oder würde sich antisemitisch äußern. Das macht offene Auseinandersetzungen schwierig. Daher ist es umso wichtiger zu verstehen, dass es eine Jahrhunderte alte Geschichte des Antisemitismus gibt, der sich in unterschiedlichsten Formen gezeigt hat und zeigt, und dass im Kampf gegen den Antisemitismus in Österreich zwar viel Positives geschehen ist, dass aber der Antisemitismus nach wie vor zu unserem kollektiven Gedächtnis gehört. Antisemitische Stereotypen sind darin so selbstverständlich, dass man sie oft gar nicht wahrnimmt. Für viele Österreicher und Österreicherinnen ist es dann besonders unangenehm zu entdecken, wie schwierig es ist, antisemitischen Stereotypen zu entkommen. Man übernimmt Wahrnehmungs- und Deutungsmechanismen und ist sich dessen gar nicht bewusst. Diese Stereotype wahrzunehmen, ist aber bereits der erste Schritt, sich selbst davon zu entfernen.

Können Sie ein Beispiel für ein solches Stereotyp nennen?
Pauschale Aussagen über Juden und Jüdinnen aller Art, etwa: „Juden wissen, wie man reich wird“, „Juden sind besonders erfolgreich“, „Juden wissen ihre Interessen durchzusetzen“, „Juden sondern sich von der Gesellschaft ab.“ Hier sieht man die traditionellen Stereotypen in zeitgenössischer Form.
Über Antisemitismus gibt es inzwischen viele Studien und Publikationen. Immer neue Aspekte – Stichwort BDS, aber auch aktuell Verschwörungstheorien in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie – sind jedoch zu beforschen.

. . .  auch antisemitische Einstellungen werden über Familiennarrative weitergegeben.
Regina Polak

Wieso lässt sich Ihrer Ansicht nach diese Kontinuität nicht einfach durchbrechen?
Das frage ich mich, seitdem ich mich mit diesem Thema beschäftige. Mich erschreckt, dass es im Angesicht der Schoah und trotz sechs Millionen ermordeter Juden und Jüdinnen nicht zu einem fundamentalen Bruch mit dem Antisemitismus gekommen ist. Daher lautet auch meine Frage: Wieso hört das nicht auf?
Ich denke, da gibt es mehrere Erklärungsansätze. In Österreich und Deutschland hat es meiner Ansicht nach auf der Ebene der Familien zu wenig Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in den Nationalsozialismus und damit auch mit den eigenen antisemitischen Stereotypen gegeben. Man weiß aus der Forschung, dass auch auf Täterseite Traumata infolge von nicht bearbeiteter Schuld transgenerationell weitergegeben werden. Aber auch antisemitische Einstellungen werden über Familiennarrative weitergegeben. Andererseits gibt es in Österreich auf der politischen Ebene ein klares Commitment gegen den Antisemitismus und eine durchaus elaborierte Erinnerungskultur. Die Auseinandersetzung in der Familie ist aber weiter schmerzhaft und mit Schamgefühlen behaftet. Hier bräuchte es eine entsprechende Begleitung und auch die Mittel dafür. Ich sehe bei Studierenden im Alter von 20, 25 Jahren bis heute diffuse Schuldgefühle, etwa, dass sie Angst haben, Fehler zu machen, wenn sie etwas zu Juden und Jüdinnen sagen. Wenn man da nachforscht, hängt das oft damit zusammen, dass man sich nicht mit der eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt hat. Gerade, weil man kein Antisemit sein möchte, findet dann keine tiefere Auseinandersetzung satt, und es bleibt bei Appellen.
Es gibt aber auch eine geisteswissenschaftliche Erklärung. In seiner Studie über Antijudaismus zeigt der Historiker David Nirenberg, dass über die Jahrhunderte bei allen Krisen und Umbrüchen Juden und Judentum eine Projektionsfläche für das jeweils „Andere“, „Ausgeschlossene“ bildeten. Wir befinden uns heute in Europa und global in einem umfassenden Transformationsprozess, es gibt Kämpfe um die politische und ökonomische Hegemonie. Migration und Klimakatastrophe, nicht zuletzt die Corona-Pandemie führen zu Krisen, und die Bevölkerung ist auf die damit verbundenen Herausforderungen kognitiv, psychisch und spirituell nicht vorbereitet. Das bringt Konflikte und Spannungen, und in bewährter negativer Manier werden Juden und Jüdinnen erneut zur Projektionsfläche. So dokumentiert zum Beispiel der jüngste Bericht der OSZE, dass jüdische Communitys für die Entstehung und Verbreitung des Coronavirus verantwortlich gemacht werden, sie sollen sich sogar durch die Impfung „bereichern wollen“. Der Kern solcher Verschwörungsmythen ist regelmäßig antisemitisch.
Zu einer theologische Erklärung hat mich das Buch der liberalen Rabbinerin Delphine Horvilleur inspiriert, die die Auseinandersetzung von Rabbinern mit der Judenfeindlichkeit beschreibt. Aus meiner Sicht tritt mit der Tora zum ersten Mal in der Geschichte ein Glaube an G-tt in die Geschichte ein, der untrennbar mit Ethik und Recht verbunden ist. Und diese Ethik tritt für die Würde und Einzigartigkeit des Einzelnen, aber auch für Gerechtigkeit und Rechte, besonders für marginalisierte Gruppen, etwa für Fremde, für Arme, ein. Für streng imperiale Ordnungssysteme wie das Alte Ägypten, in denen Fremde ausgeschlossen waren und die Armen die unterste Schicht bildeten, war und ist das eine enorme Irritation. Von daher ist für mich Antisemitismus theologisch auch ein Kampf gegen G-tt, wie ihn die Heilige Schrift offenbart, und wofür dieser G-tt steht. Diese egalitäre Gerechtigkeit für alle ist eine Provokation. Ich sehe das Anwachsen von Antisemitismus in einer Gesellschaft daher immer auch als Indikator, dass es um die Würde des Menschen und die strukturelle Gerechtigkeit schlecht bestellt ist. Parallel zu Antisemitismus wächst auch immer der Hass auf andere Menschen. Das gehört zusammen.

Niemand möchte den Vorwurf bekommen, er sei Antisemit oder würde sich antisemitisch äußern. Das macht offene Auseinandersetzungen schwierig.

Die Corona-Pandemie hat ein ganz besonderes paradoxes Phänomen produziert: Menschen stecken sich bei Demonstrationen gegen die virusvorbeugenden Maßnahmen die gelben Judensterne der Nazis an, in die sie „Geimpft“ schreiben, oder sie posten dieses Sujet auf den Social Media. Warum ist dieses Bild so falsch?
Das ist ein Fall für die Psychoanalytiker. Ich halte dieses Phänomen für eine Identifikation mit den jüdischen Opfern und eine Täter-Opfer-Umkehr. Gleichzeitig ist es eine Abwehr von Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Das Phänomen ist wohl auch im Kontext dessen zu verorten, was man in der Forschung sekundären Abwehrantisemitismus nennt. Dazu hat der Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich vor Jahren eine Studie gemacht. Das ist ein psychologisch höchst komplexes Phänomen.

Was versteht man unter sekundärem Abwehrantisemitismus?
Man kann in zweiter, dritter Generation der Tätergesellschaft nicht von Schuld sprechen, aber Menschen der zweiten, dritten Generation tragen mitunter Schuldgefühle in sich. Und diese werden abgewehrt, in dem man aggressiv gegenüber Juden und Jüdinnen ist – man hört Sätze wie „Es muss auch einmal Schluss sein mit der Erinnerung an die Schoah“ oder „Wann hören Juden auf, sich darüber zu beklagen?“ Oder man identifiziert sich mit Juden als Opfern und stellt das eigene Leid in den Mittelpunkt: „Uns ist es im Krieg auch schlecht gegangen, es war ja bei der alten Generation auch nicht alles falsch.“ Dabei wird das eigene Leid über das Leid der Juden gestellt. Das kann dann zu solchen Umkehrungen führen, die auf verdrehte Weise antisemitisch sind, denn der Vergleich der Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen mit dem Leid der Opfer von Judenverfolgung ist schlichtweg unangemessen.

Ich sehe das Anwachsen von Antisemitismus in einer Gesellschaft daher immer auch als Indikator, dass es um die Würde des Menschen und die strukturelle Gerechtigkeit schlecht bestellt ist.

Die aktuelle politische Debatte zu Antisemitismus in Österreich ist beherrscht von der Frage: Welcher Antisemitismus wiegt schwerer und welcher ist bedrohlicher, der von rechts, von links, von islamischer Seite? Inwiefern helfen diese Kategorien bei der Bekämpfung von Antisemitismus?
Ich halte die Unterscheidung der verschiedenen Formen für zentral, um Antisemitismus zu bekämpfen. Das Phänomen ist so heterogen, dass es keine „Gießkanne“ gibt. Wenn man Antisemitismus differenziert bearbeiten will, ist es wichtig, dass ich die Phänomene auch in ihrer Genese verstehen kann. Es macht einen Unterschied, ob jemand aus dem arabischen Raum kommt und antisemitisch ist oder ob das ein lang eingesessener Österreicher mit familiärer Nazivergangenheit ist. Es macht auch Sinn zu fragen, welche Form des Antisemitismus die größere Bedrohung ist. Problematisch wird es, wenn solche Unterscheidungen politisch instrumentalisiert werden. Dann kann zum Beispiel der Verweis auf „importierten“ Antisemitismus zu einer Entlastung von rechtem Antisemitismus benützt werden. Da müssen Wissenschaftler aufpassen, dass ihre Befunde nicht missbraucht werden. Leider werden Studienergebnisse heute oft zum politischen Spielball, das kann das Phänomen noch verstärken. Außerdem befinden wir uns in einer schwierigen Situation mit widersprüchlichen Phänomenen: Es gibt Antisemitismus in verschiedenen Formen, zugleich gibt es Muslimfeindlichkeit und religiös und islamistisch motivierten Extremismus. Das macht eine differenzierte Auseinandersetzung schwierig und kann für politische Interessen benützt werden.

Die Regierung hat Anfang dieses Jahres eine Nationale Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus vorgelegt. Wie beurteilen Sie diesen Plan?
Grundsätzlich sehr gut, weil die Bekämpfung des Antisemitismus damit auch zur politischen Querschnittsmaterie wird. Das entspricht auch den Vorgaben der EU. Ich finde auch die Ziele, jüdisches Leben in Österreich langfristig abzusichern, die Forschung zu intensivieren und Antisemitismus auf gesellschaftlicher Ebene einzudämmen, gut. Als Theologin finde ich es auch positiv, dass geschaut wurde, was es seitens der Kirchen und Religionsgemeinschaften bereits an Initiativen gibt. Was man aber zurückfragen kann: Wie werden die Pläne finanziert, und welche Strukturen gibt es dafür? Für die Sicherheit der jüdischen Gemeinden werden finanzielle Mittel bereitgestellt, und das ist gut. Aber auch die Plattform für eine gesamt-
gesellschaftliche Abstimmung muss finanziert werden. Sonst bleiben das nur Ankündigungen.
Was mir auch wichtig ist: Angesichts der ausgeprägten Kontinuität von Antisemitismus reichen keine punktuellen Aktionen. Diese sind wichtig für den öffentlichen Diskurs, aber um einen umfassenden Bewusstseinswandel herbeizuführen, braucht es einen langen Atem, Geld, Personal und Kooperation mit allen Akteuren, die sich mit Antisemitismus beschäftigen. Der Antisemitismus ist in seiner Wirkung ein Problem für Juden und Jüdinnen. Aber in der Sache ist es ein Problem der Nichtjuden – die Gesellschaft muss das wollen. Denn der Antisemitismus wird ja nicht durch die Juden ausgelöst, sondern ist eine Entscheidung derer, die antisemitisch oder generell menschenfeindlich agieren.

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