Antisemitismus sollte uns alle angehen

Da es keine Anzeichen für ein Abklingen gibt, müssen wir Rassismus und Intoleranz ein für alle Mal beenden.

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Antisemitismus bedroht nicht nur Juden, sondern die gesamte Gesellschaft. © Swen Pfˆrtner / dpa / picturedesk.com

Kurz bevor das Treffen der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) diesen Sommer in Stockholm stattfand, wurde mir die Ehre erteilt, im europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss in Brüssel zum Thema Antisemitismus zu sprechen. Ein Thema, mit dem ich mich täglich im Rahmen meiner Arbeit, aber als Enkel von Holocaust-Überlebenden auch in einem persönlicheren Kontext auseinandersetze.

Bedauerlicherweise ist der Antisemitismus fast 80 Jahre nach dem Holocaust wieder auf dem Vormarsch, angeheizt durch Verschwörungsmythen und angetrieben durch die sozialen Medien. Während der Covid-19-Pandemie haben wir beispielsweise einen starken Anstieg des Hasses auf der ganzen Welt erlebt. Menschen wurden beschuldigt, das Virus verursacht, und/oder davon profitiert zu haben. Gleichzeitig fand auch eine massive Verharmlosung des Holocaust statt, indem Antiimpfdemonstranten gelbe Sterne trugen oder die Quarantänemaßnahmen mit den Erfahrungen von Anne Frank verglichen wurden.

Was vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, ist die Tatsache, dass der heutige Antisemitismus nicht nur für Juden, die er am unmittelbarsten und direktesten trifft, sondern auch für Menschen außerhalb der jüdischen Gemeinschaft ein ernstes Problem darstellt.

Antisemitismus bezeichnet zwar den Hass auf das jüdische Volk, bedroht aber alle Gesellschaften, und sein Ausmaß ist stets ein Indikator für umfassendere Probleme. Als „ältester Hass“ der Welt deckt er die Schwächen jeder Gesellschaft auf, und obwohl Jüdinnen und Juden oft die Ersten sind, die zu Sündenböcken gemacht werden, sind sie leider nicht die Letzten. Die Geschichte hat uns immer wieder gelehrt, dass sich hasserfüllte Äußerungen, die sich zunächst gegen Juden richten, bald auf andere Mitglieder der Gesellschaft ausweiten.

Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, dass sich hasserfüllte Äußerungen, die sich zunächst gegen Juden richten, bald auf andere Mitglieder der Gesellschaft ausweiten.

Darüber hinaus gibt es Antisemitismus unabhängig von der Größe oder Präsenz einer jüdischen Gemeinde. Wie die Generaldirektorin der UNESCO, Audrey Azoulay, erläutert, braucht es für den Antisemitismus nicht einmal die Anwesenheit einer jüdischen Gemeinde, um sich auszubreiten, denn es „gibt ihn in religiösen, sozialen und politischen Formen und Gestalten und auf allen Seiten des politischen Spektrums“.

Jüdinnen und Juden werden gleichzeitig als „kapitalistisch“ und „kommunistisch“ angegriffen, als reich und arm, als inselhaft und kosmopolitisch. Sie werden beschuldigt, die Welt zu kontrollieren, mal als Puppenspieler, mal als Marionetten, und egal wie: Heimlich steuern sie in jedem Fall Medien, Regierungen und die Weltwirtschaft.

Die Ironie dabei ist, dass so sehr der Antisemitismus „die Juden“ in den Mittelpunkt all dessen stellt, was in der Welt schief läuft, so wenig hat der antisemitische Diskurs selbst mit Juden zu tun.

Leon Saltiel ist Vertreter des Jüdischen Weltkongresses bei den Vereinten Nationen in Genf und bei der UNESCO sowie deren Koordinator für die Bekämpfung des Antisemitismus. © Shahar Azran

Kurz nach der Befreiung von Paris von den Nazis schrieb der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, der Antisemit sei „ein Mann, der Angst hat“. Er habe Angst „nicht vor den Juden, um sicher zu sein, sondern vor sich selbst, vor seinem eigenen Bewusstsein, seiner Freiheit, seinen Instinkten, seiner Verantwortung, der Einsamkeit, der Veränderung, der Gesellschaft und der Welt – vor allem außer den Juden“. Und Sartre fügte hinzu: „Wenn es den Juden nicht gäbe, würde der Antisemit ihn erfinden.“

Antisemitismus geht auch mit antidemokratischer Politik einher, seine Verschwörungsmythen schaffen bzw. stärken eine Wählerschaft, der es an kritischem Urteilsvermögen mangelt, die sich mit populistischen Antworten zufrieden gibt, die zu einer illiberalen Politik und zu Extremen neigt und damit leicht manipulierbar wird. Es ist kein Zufall, dass die Schnittmenge jener Menschen, die antisemitisches Gedankengut äußern und jenen, die der Anti-Vax-Bewegung angehören, recht groß ist. Und es ist wohl kein Zufall, dass es während der Covid-19-Pandemie einen alarmierenden Anstieg antisemitischer Vorfälle weltweit gab.

Wir müssen Rassismus und Intoleranz ein für
alle Mal beenden und den künftigen Bürgern und Bürgerinnen die grundlegenden Werte von Demokratie und Toleranz vermitteln.

Der aktuell aufkeimende Antisemitismus richtet sich in erster Linie nicht gegen Juden, die zahlenmäßig eine kleine Minderheit in Europa darstellen. Vielmehr wirkt er sich, wenn er nicht eingedämmt wird, auf die gesamte Bevölkerung aus, da er Vorurteile und aktive Diskriminierung in der europäischen Gesellschaft ermöglicht und damit moderne Demokratien, die Rechtsstaatlichkeit und die Durchsetzung der Menschenrechte bedroht. Abgesehen von dem unsäglichen Leid und Schmerz hat diese Pandemie gezeigt, dass wir nicht nur gegen einen Virus ankommen müssen – die in unseren Gesellschaften tief verwurzelte Intoleranz sowie ein beachtliches Bildungsdefizit gilt es ebenso zu besiegen.

Im Oktober 2021 haben sich auf dem Internationalen Forum zum Holocaust-Gedenken und zur Bekämpfung des Antisemitismus zahlreiche europäische Regierungen und NGOs in Malmö verpflichtet, dafür etwas zu tun. Und tatsächlich sind seitdem beachtliche Fortschritte erzielt worden. Die erste EU-Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung des jüdischen Lebens, die 2021 vorgelegt wurde und von Katharina von Schnurbein und ihrem engagierten Team koordiniert wird, oder der Aktionsplan des UN-Sonderberichterstatters für Religions- und Glaubensfreiheit stellen beispielsweise wichtige Maßnahmen dar. Der Jüdische Weltkongress als Vertreter des jüdischen Volkes unterstützt nachdrücklich diese wichtigen Schritte in ihrer Umsetzung. Wir müssen gemeinsam unsere Anstrengungen verdoppeln, um Rassismus und Intoleranz ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und eine Bildungspolitik zu ermöglichen, die künftige Bürgerinnen und Bürger mit den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der anderen vertraut macht. Wir brauchen jede und jeden in diesem Kampf um die Zukunft Europas, so auch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, der als Plattform der europäischen Zivilgesellschaft in der Lage ist, ein wichtiger Verbündeter zu sein.

Wir haben keine Zeit zu verlieren!**


* Das IHRA-Treffen fand Ende Juni in Stockholm statt: www.holocaustremembrance.com.
** Aus der Rede vor der Fachgruppe für Außenbeziehungen des europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in Brüssel am 9. Juni 2022.

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