Antisemitismus nimmt bei Jüngeren zu und ist in manchen Migrantengruppen weit höher als in der Durchschnittsbevölkerung

Seit 2018 führt das das Institut für empirische Sozialforschung IFES gemeinsam mit Braintrust im Auftrag des Parlaments alle zwei Jahre eine Studie durch, die antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung erhebt. WINA sah sich nun die Ergebnisse im Detail an. 

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Eingeführt wurde diese Studie unter Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP), der sich in der vergangenen Legislaturperiode insgesamt für die Bekämpfung von Antisemitismus stark machte. Zu wissen, wovon man spricht, war dabei eine seiner Maximen. Das Abfragen antisemitischer Einstellungen und dabei auch das Unterscheiden in verschiedene Kategorien – vom rassistischen und religiösen Antisemitismus über den Verschwörungs- und den Holocaust-bezogenen Antisemitismus bis hin zum Israel-bezogenen Antisemitismus – sollte hier eine wissenschaftliche Grundlage bieten. Durch das kontinuierliche Monitoring lassen sich auch Entwicklungen besser ablesen.

Präsentiert wurden die Studienergebnisse stets in einer Pressekonferenz im Parlament, zu der alle Medien, die zu dem Thema berichten wollten, Zugang hatten. Unter Sobotkas Nachfolger als Nationalratspräsident, Walter Rosenkranz von der FPÖ, gestaltete sich die Präsentation der Ergebnisse für 2024 Anfang April gänzlich anders. Rosenkranz sprach dazu mit einem einzigen Medium. So unterblieb eine breite, vor allem aber eine detaillierte Berichterstattung.

WINA entschloss sich daher, die Studie und deren Ergebnisse genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Lektüre zeigte: die Ergebnisse machen wenig froh. Da ist zum einen die konstant hohe Zustimmung zu antisemitischen Aussagen in migrantischen Gruppen. Da ist zum anderen ein Steigen des Antisemitismus unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Befragt wurden für diese Erhebung 2.037 Personen quer durch alle Altersgruppen. In einer Zusatzstichprobe wurden zudem 577 Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund (entweder sie selbst oder zumindest ein Elternteil wurde in der Türkei geboren) und 503 Personen mit einem Familienbezug zu einem arabischsprachigen Land interviewt. Sie selbst oder jeweils zumindest ein Elternteil kommen/kamen aus Ägypten, Algerien, dem Irak, dem Jemen, Jordanien, dem Libanon, Marokko, Saudi-Arabien, dem Sudan, dem Südsudan, Syrien oder Tunesien.

Was sich dabei zeigte: der Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat nicht nur, wie etwa aus der Erfassung antisemitischer Übergriffe durch die Antisemitismus-Meldestelle der IKG Wien bekannt ist, zu einer massiven Zunahmen von judenfeindlicher Aggression sowohl im realen Leben als auch im Netz und in den Sozialen Medien geführt. Auch die antisemitischen Einstellungen haben zugenommen – vor allem bei ganz jungen Personen. Das lässt sich aus mehreren Fragen ablesen, die alle zwei Jahre im Rahmen dieses Monitorings gestellt werden – dazu später mehr.

Neu aufgenommen gegenüber früheren Befragungen haben die Studienautoren diese Aussage: „Der Überfall der Hamas auf Israel war ein verabscheuungswürdiger Terrorakt.“  Die überwiegende Mehrheit der Menschen in Österreich stufte laut Studie den Angriff der Hamas auf Israel zwar als Terrorakt ein. Doch die Antworten variieren wieder stark je nach befragter Gruppe. Der oben zitierten Aussage stimmten 53 Prozent der Gesamtbevölkerung „voll und ganz“ und weitere 19 Prozent „eher schon“ zu. Nur drei Prozent meinten, das stimme „überhaupt nicht“, weitere sechs Prozent meinten, das treffe „eher nicht“ zu. Im Umkehrschluss bedeutet das: sie sehen in dem Überfall der Hamas keinen Terror. Die 16- bis 25Jährigen kamen hier zu einem völlig anderen Schluss: Hier meinten nur 23 Prozent, es habe sich „voll und ganz“ um einen Terrorakt gehandelt, weitere 22 Prozent meinten „eher schon.“ Noch etwas niedriger fielen diese Werte bei der Zusatzstichprobe unter Menschen mit türkischem oder arabischen Migrationshintergrund aus. 17 Prozent von ihnen orteten „voll und ganz“ einen Terrorakt, weitere 22 Prozent „eher schon“.

Religiösem Antisemitismus waren die Studienautoren mit der Aussage „Juden haben nach wie vor den Tod Jesu Christi zu verantworten“ auf der Spur. Dem stimmten 2022 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ganz oder eher zu. 2024 waren es zwölf Prozent. Bei den 16- bis 25-jährigen betrug dieser Wert aktuell 16 Prozent, bei den Befragten mit Migrationshintergrund 23 Prozent.

Verschwörungsantisemitismus wurde unter anderem mit dem Statement „Die Juden beherrschen die internationale Geschäftswelt“ abgefragt. 2022 stimmten hier in der Gesamtbevölkerung 36 Prozent ganz oder eher zu. 2024 waren es 32 Prozent. Bei den Jüngeren waren nun 25 Prozent dieser Ansicht, bei den Befragten mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund 52 Prozent.

Die Aussage „Wenn ich jemanden kennenlerne, weiß ich in wenigen Minuten, ob dieser Mensch Jude ist“ zielt darauf ab, rassistischen Antisemitismus zu erfassen. Diese Feststellung bejahten 2022 zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung ganz oder eher, zwei Jahre später waren es elf Prozent. Unter den Jüngeren stimmten allerdings 19 Prozent dieser Aussage ganz oder eher zu, im Sample von Befragten mit Migrationshintergrund waren es 26 Prozent.

Ein ähnliches Bild zeigte sich beim Abfragen von Holocaust-bezogenen Antisemitismus. 2022 stimmten elf Prozent der Gesamtbevölkerung der Aussage „In den Berichten über Konzentrationslager und Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg wird vieles übertrieben dargestellt“ ganz oder eher zu. 2024 lag dieser Wert bei acht Prozent. In der Gruppe der 16- bis 25Jährigen waren es nun allerdings 15 Prozent, und unter den Menschen mit Migrationshintergrund 22 Prozent.

Insgesamt höhere Zustimmungswerte gab es bei Fragen, die sich dem Schuldumkehr-Antisemitismus widmeten. So stimmten 2022 19 Prozent der Gesamtbevölkerung dem Satz „Es ist nicht nur Zufall, dass die Juden in ihrer Geschichte so oft verfolgt wurden; zumindest zum Teil sind sie selbst schuld daran“ ganz oder eher zu. 2024 waren es ebenfalls 19 Prozent, auch unter den Jüngeren. In der Zusatzstichprobe stimmten allerdings 33 Prozent der Befragten mit türkischen oder arabischem Migrationshintergrund zu.

Eine deutliche Zunahme von Israel-bezogenem Antisemitismus zeigten die Items auf, die die diesbezüglichen Einstellungen abklopften. So stimmten 2022 23 Prozent der Gesamtbevölkerung der Aussage „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“ zu. 2024 waren es 31 Prozent, bei den Jüngeren 27 Prozent und bei den migrantischen Befragten 44 Prozent. Und dem Satz „Die Israelis behandeln die Palästinenser im Grunde auch nicht anders als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Juden“ stimmten 2022 noch 30 Prozent ganz oder eher zu, zwei Jahre später waren es nun 35 Prozent. Bei den Jüngeren stieß diese Aussage bei 41 Prozent auf Zustimmung, bei den Menschen mit türkischem oder arabischen Familienhintergrund sogar 57 Prozent.

Auf Non-Antisemitismus zielte unter anderem die Aussage „Juden werden ungerechtfertigt angefeindet, wenn es Krisen gibt“ ab. Dem stimmten 2022 56 Prozent der Befragten aus der Gesamtbevölkerung ganz oder eher zu, 2024 waren es mit 53 Prozent etwas weniger. Jüngere stimmten hier zu 49 Prozent zu, die migrantische Gruppe allerdings nur zu 33 Prozent.

Die Studie versucht allerdings seit Beginn auch einzuschätzen, inwiefern bestimmte Faktoren mit einer höheren Zustimmung zu antisemitischen Aussagen korrelieren. Hier zeigte sich in der aktuellen Auswertung wie auch bereits in den Studien der vorangegangenen Jahre: Wer zu Verschwörungsmythen neigt, wem Wissen zu Judentum und jüdischem Leben fehlt, wer antiamerikanische Aussagen unterstützt und wer nur über eine niedrige formale Bildung verfügt, neigt eher zu antisemitischen Einstellungen. Aus den Interviews ergaben sich zuletzt hier aber auch zusätzliche Erklärungsfaktoren. Demnach gehen patriarchale Haltungen, der Wunsch nach dem „politisch starken Mann“ sowie eben – siehe oben – die Einschätzung, ob der Überfall der Hamas vom 7. Oktober ein Terrorakt war oder nicht – ebenfalls mit stärker ausgeprägten antisemitischen Einstellungen einher.

Für die Gruppe der jungen Menschen bis 25 Jahre halten die Studienautoren zudem fest: hier werde fehlendes Wissen sichtbar. So wisse nur einer von drei Personen zwischen 16 und 25 Jahren, wieviele Juden und Jüdinnen im Holocaust ermordet wurden. Jüngere Menschen würden zudem patriarchalen Aussagen öfter zustimmen als die Gesamtbevölkerung. Und sie würden den Überfall der Hamas, siehe entsprechende Werte weiter oben, weniger stark als die Gesamtbevölkerung als Terrorakt wahrnehmen und Israel häufiger die Schuld geben. „Da hier ein starker Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen vorliegt, ist dieses Thema geradezu ein Einfallstor für antisemitische Einstellungen von jungen Menschen“, wird dazu in der Studie festgehalten.

Bezüglich der Befragten mit türkischem oder arabischen Migrationshintergrund fanden die Studienautoren heraus: die Neigung zu Verschwörungsmythen ist in dieser Gruppe stärker ausgeprägt als in der Gesamtbevölkerung. Sie tendieren zudem stärker zu Antiamerikanismus und auch zu patriarchalen Werten. Und: Jede und jeder Zweite in dieser Gruppe meinte, ein „starker Mann“ wäre gut für Österreich. Das seien um zehn Prozentpunkte mehr als in der Gesamtbevölkerung. Außerdem stellte mehr als jede und jeder Dritte in dieser Gruppe die Vorschriften der Religion über die Gesetze des Landes und damit auch den Rechtsstaat in Frage. In der Gesamtbevölkerung war es im Vergleich jeder und jede Siebte.

Die gesamte Studie kann hier abgerufen werden: https://www.parlament.gv.at/fachinfos/rlw/Antisemitismus-2024

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