Anton Pelinka: „Israel sollte stolz auf seine Normalität sein“

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Über Sonderstatus, Doppelmoral und die Zukunft des Judenstaates schreibt der Politikwissenschafter Anton Pelinka in seinem neuesten Buch Israel – Ausnahme oder Normalstaat. Zu den Hauptaussagen seines fundierten und engagierten Werkes befragte ihn Marta S. Halpert.

WINA: Was waren Ihre Beweggründe, dieses Buch zu schreiben?

Anton Pelinka: Als häufiger Besucher Israels ist mir immer die in Europa vorherrschende Doppelmoral aufgefallen. Die gibt es auch in den USA, aber in etwas geringerem Ausmaß. Man hat Israel immer an Standards gemessen, die für andere Staaten nicht gegolten haben. Das hat mich vor allem auch als Politikwissenschafter gestört, und ich wollte ein Buch schreiben, das möglichst nüchtern ist. Wenn es um Israel geht, haben viele Leute schon eine Meinung, bevor sie etwas wissen. Ich wollte zunächst beschreiben und analysieren und dann vorsichtig Meinungen formulieren und nicht gleich mit Meinungen beginnen – was ich als Schwäche des Israel-Diskurses auf allen Seiten sehe.

Sie argumentieren – auf viele einsichtige Fakten gestützt –, dass Israel ein ganz normaler Staat ist und sich auch als solcher selbstbewusst darstellen sollte. Israel wird aber vom überwiegenden Teil der Staatengemeinschaft so nicht wahrgenommen. Was hilft dann die Selbstdefinition?

Anton Pelinka:  Israel.  Ausnahme- oder Normalstaat. Braumüller 2015,  240 S.,  21,90 EUR
Anton Pelinka: Israel.
Ausnahme- oder Normalstaat.
Braumüller 2015,
240 S., 21,90 EUR

❙ Es gibt dafür kein Rezept. Aber zur Normalität gehört auch, was Israel gerne vergisst oder nicht sehen will, dass es als Staat im Nahen Osten liegt. Israel ist kein Staat mitten in Europa und muss sich daher in einer feindseligen, nicht-jüdischen, nicht europäischen Umwelt zurechtfinden. Ein wenig habe ich den Eindruck, das wird nicht zur Kenntnis genommen. Die Zukunft Israels ist die eines Nahoststaates, und diese Realität wird ein wenig weggeschoben. Ich weiß schon, dass es außer mit Ägypten und Jordanien keine Friedensverträge gibt, und ich weiß auch, dass es kurzfristig nichts bewirken wird, wenn sich Israel als Nahoststaat definiert. Aber längerfristig, glaube ich, ist es im Interesse Israels zu vermeiden, dass Israel sich selbst als eine Art koloniale Insel in einem postkolonialen Umfeld sieht und auch so wahrgenommen wird: Was angesichts der Realitäten in den Nachbarstaaten ohnehin absurd ist, denn was ist kolonialistischer als diese vom wahhabitischen Sunni-Islam beherrschte Region.

Eine Ihrer zentralen Thesen in dem Buch lautet, Israel sollte sich allmählich von der existenziellen Verbindung mit der Schoah lösen, also das Thema nicht weiter in die Zukunft mitschleppen. Wie meinen Sie das?

❙ Erstens ist Israel objektiv ein Produkt des europäischen Antisemitismus, und zweitens wäre Israel ohne die Schoah vermutlich nicht erfolgreich gegründet worden. Diese Verbindung gibt es und die kann man nicht wegschieben. Aber drittens gibt es, vor allem in Europa, diesen eigenartigen Umkehrreflex. Weil Israel von den Überlebenden der Schoah und den Opfern des europäischen Antisemitismus gegründet wurde, muss Israel besser sein. Warum sollte Israel besser sein? Warum sollen Juden bessere Menschen sein als andere? Das ist ja schon an sich eine umgedrehte Übernahme der Begrifflichkeit des nationalsozialistischen Wahnsinns. Aber wenn Israel ständig über den Konnex mit der Schoah seinen Ausnahmestatus betont, wird es auch als Ausnahmestaat behandelt. Das heißt, wenn Israel Fehler macht, wird es als besonders und kritisch wahrgenommen. Wenn Israel sich als normaler Nahoststaat versteht, kommt es stärker in den Vergleich mit seinen Nachbarstaaten – und das kann für Israel nur von Vorteil sein.

Das eigentliche Problem des Antisemitismus sind die Antisemiten, nicht die Juden, Denn „Die Antisemiten erfinden nötigenfalls die Juden, wenn sie ihnen ausgehen.“

Sie zitieren den angesehenen jüdischen Historiker Yehuda Bauer mit der Feststellung, dass die Schoah „erstmalig“, aber nicht „einmalig“ ist. Der Widerspruch aus der jüdischen Gasse ist Ihnen hier gewiss. Wie begründen Sie das?

❙ An sich ist die inhaltliche Bedeutung der Definition von Yehuda Bauer viel schlimmer, denn „Erstmaligkeit“ bedeutet, es ist wiederholbar. Einer der vielen Gründe, warum ich von Bauer so überzeugt bin, ist, weil er damit festhält, dass all die anderen genozidalen Vorgänge, z. B. der armenische Völkermord, nicht die schreckliche „Qualität“ der Schoah haben. Das heißt, bis zur Schoah hat es diese „Qualität“ nicht gegeben. Aber sagt man „einmalig“, dann findet man Phänomene, die der Schoah relativ nahe kommen: Ruanda, Rote Khmer. Das ist alles nicht völlig identisch mit der Schoah, auch nicht von der gleichen schrecklichen Intensität, dennoch nicht so weit entfernt. „Wiederholbarkeit“ heißt ja auch nicht, dass es das jüdische Volk treffen muss, aber es kann sein. Für mich ist Yehuda Bauer eine Warnung: Hört damit auf, die Schoah als ein abgeschlossenes Kapitel zu sehen, egal, ob es sich um Jüdinnen und Juden oder andere handelt. Vorsicht: Die menschliche Gesellschaft ist – unter bestimmten Voraussetzungen – wieder dazu fähig.

Sie prangern die Doppelmoral bei der Beurteilung Israels sowohl im rechten wie auch im linken politischen Spektrum an. Doch wie kann sich Israel dagegen wehren?

❙ Das kann nur durch Überzeugungsarbeit und intellektuellen Diskurs geschehen, das führt nie rasch zu einem Ergebnis, aber es hat eine Sickerwirkung. Vor allem bei den linken Antizionisten, bei denen der Übergang zum Antisemitismus nicht unbedingt fern liegt, ist vielleicht doch eine Dekonstruktion möglich. Die Frage nach den Rechten der Frauen in Saudi-Arabien, nach der Religionsfreiheit im Iran, das muss ja Nachdenklichkeit schaffen. Das bedeutet nicht, dass man Israel als perfekte Gesellschaft ohne Fehl und Tadel darstellt, aber die Frage ist erlaubt, warum man auf die Fehler, die Israel macht, so fixiert ist. Es gibt viel eindrucksvollere, schlimmere und ins Auge springende Fehler anderswo – gerade auch im Nahen Osten.

Sie schreiben auch davon, dass „die romantische sozialistische Identifikation mit Israel verschwunden ist“. Hat Israel die linken Sozialromantiker enttäuscht?

❙ Für die Linke, auch für die nicht kommunistische Linke, war Israel ein Modell. Ein Vorbild an stark ausgeprägter Gleichheit von Mann und Frau im Alltag, ein genossenschaftliches Wirtschaftssystem mit rotierenden Positionen – das hat natürlich den Linken imponiert. Das hat sich geändert, Israel ist nicht mehr ein Land der Kibbuzim, obwohl es die noch gibt, aber ihre Gesamtbedeutung ist heute viel geringer. Israel ist kapitalistischer geworden, es ist in die Weltökonomie massiv integriert, Israel benimmt sich normal. Das hat bei manchen Linken zu einer Entfremdung geführt, zu einer Art enttäuschten Liebe, mit einer gewissen Aggression gegen das Objekt, das man früher naiv romantisch geliebt hat.

Sie bezeichnen Israel als „Westminster-Demokratie mit einem Makel“ und machen diesen Fehler an der „Besatzungspolitik auf der Westbank“ fest. Israel argumentiert mit Sicherheitsbedenken. Wie beurteilen Sie dieses Argument?

❙ Das Argument ist kurzfristig überzeugend. Das heißt, dieses Defizit, dieser Makel der Besatzungspolitik kann von Israel nicht einseitig weggeschafft werden. Israel kann sich nicht zurückziehen, insbesondere nicht nach der Erfahrung mit Gaza: Israel hat sich zurückgezogen, die Folge waren Raketen auf Israel – und das kann keinem Land zugemutet werden. Aber die Besatzungspolitik bleibt ein Makel, der auf Dauer mit demokratischen Vorstellungen nicht vereinbar ist. Auch wenn ich nicht weiß, wie Israel kurz- oder mittelfristig davon loskommen könnte. Eine einseitige Lösung durch Israel wäre theoretisch möglich, das wird aber nicht umsetzbar sein, daher wird es auch niemand tun. So bleibt Israel Herr über einige Millionen unwilliger, feindselig gesinnter Palästinenser auf der Westbank, das ist ein Defizit, kann aber nicht heute auf morgen gelöst werden.

Ist damit auch das Osloer Abkommen obsolet?

❙ Ich sehe trotz aller Kritik am Oslo-Abkommen etwas Gutes, das man nicht total rückgängig wird machen können. Denn egal, wie man es auch dreht und wendet: Die Autonomie der Palästinenser im Westjordanland hat das Leben für die Betroffenen verbessert. Auch wenn der Oslo-Akkord nicht gehalten hat, was er versprochen hat, war es ein kleiner Schritt in die richtige Richtung – aber ein zu kleiner Schritt.

Sie beschreiben sehr plastisch, dass sich Israel den Friedensprozess betreffend im Status quo eingerichtet hat, sich selbst damit lähmt und genau so eingebunkert ist wie die Palästinenser. Beide Seiten sind abhängig von extremen Positionen. Das klingt sehr pessimistisch?

❙ Ich bin kurzfristig auch pessimistisch, denn ich sehe keine Friedenslösung. Wobei ein inhaltliches Konzept zur Friedenslösung auf dem Tisch liegt, man weiß ja, wie es grundsätzlich gehen könnte: Ein weiterhin vereintes Jerusalem mit der symbolischen Präsenz eines palästinensischen Staates; Beendigung der Okkupation des Großteils des Westjordanlandes mit Gebietsentschädigungen für einen palästinensischen Staat. Statt der Rückkehr der 1948 Geflohenen oder Vertriebenen könnte es eine finanzielle Abgeltung mit internationaler Unterstützung geben. Wie der Frieden aussehen müsste, ist bekannt, aber er ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Für Israel ist es so bequem, weil das Land über eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit verfügt, auf eine boomende Ökonomie und wachsenden Wohlstand verweisen kann. Viele europäische Staaten könnten Israel um sein Wachstum beneiden. Da ist man schon geneigt zu vergessen, dass das auch schnell kippen könnte.

Sie beschreiben die vielen Spielarten des Antisemitismus unter anderem so: „Der Staat Israel erspart diesem Antisemitismus aber die Notwendigkeit, Juden neu erfinden zu müssen. Israel ist ein Staat, geschaffen von Juden und für Juden. Auf ihn kann alles Scheinwissen projiziert werden, das sich im Laufe der Jahrhunderte des Judenhasses angesammelt hat. Dass Israel durch seine Existenz und seine Erfolge diesen traditionellen Antisemitismus Lügen straft, stört, aber zerstört nicht den intellektuell unerträglichen, aber nach wie vor wirksamen Mischmasch der antijüdischen Vorurteile.“ Keine positiven Aussichten, oder?

❙ Rückblickend wissen wir, dass es höchst naiv war anzunehmen, dass die Schoah den Antisemitismus aufheben würde. Selbst wenn die Schoah hundertprozentig umgesetzt worden wäre, sage ich mit Jean Paul Sartre, „die Antisemiten erfinden nötigenfalls die Juden, wenn sie ihnen ausgehen sollten.“ Das eigentliche Problem des Antisemitismus sind die Antisemiten, nicht die Juden. Da gibt es letztlich diese vulgär Version, die Allianz mit der Wallstreet, die Juden sind am globalisierten Kapitalismus schuld, aber auch an allen Formen des Sozialismus, insbesondere des ursprünglichen, des Kreml-Kommunismus. Kurzum, die Juden sind an allem schuld und auch am Gegenteil von allem. Für diese simplifizierte Schuldzuweisung brauchen die Antisemiten die Juden, sonst geht ihnen die Erklärung aus, weil sie einen irrationalen Zugang haben.

Israel muss sich in einer feindseligen, nicht-jüdischen, nicht europäischen Umwelt zurecht finden.

Also bleibt uns der Antisemitismus erhalten?

❙ Ja, er bleibt uns stabil erhalten, mit kleinen oder auch größeren Veränderungen. Ich sehe doch eine wesentlich Änderung in der katholischen Kirche, nicht insgesamt, aber in wichtigen Teilen. Ich beobachte in den USA eine gewisse Normalisierung des jüdischen Lebens, die mir in Europa fehlt.

Sehen Sie eine Bedrohung durch den Islam?

❙ Ich sehe die Gefahr von neuen Spielarten, die auch in diese Region erst durch den Nationalsozialismus gekommen ist. Im 21. Jahrhundert ist es zu einer Globalisierung gekommen – jetzt gibt es auch einen japanischen Antisemitismus. Es gibt aber den viel bedrohlicheren islamischen Antisemitismus. Da hilft auch nur der Diskurs, obwohl ich sehe, dass Islam nicht gleich Islam ist. Das typische Beispiel dafür hatten wir in Frankreich: So schrecklich die Morde an den Charlie Hebdo-Journalisten waren, sie hatten eine rationalen Hintergrund: Die Muslime sind beleidigt worden, und sie reagierten auf diese schreckliche Art. Die Mörder im jüdischen Supermarkt wurden von niemandem beleidigt, sie wollten Juden umbringen, weil sie Juden waren. Der Aufschrei war hauptsächlich wegen Charlie Hebdo so groß. Das zweite Ereignis war viel erschreckender, aber die Reaktionen viel zögerlicher. Dieser zweite Akt war viel schlimmer.

Anton Pelinka, geb. 1941 in Wien. 1975 wurde er als Professor an das Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck berufen. Von 1987 bis 1989 war er Dekan der Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und von 2004 bis 2006 Dekan der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie. Diverse Gastprofessuren u. a. in Jerusalem, Neu-Delhi, New Orleans und Brüssel sowie an der Stanford University und Havard University. Seit 2006 Professor of Nationalism Studies and Political Science an der Central European University in Budapest.

Bild: © Flash 90/Tomer Neuberg

1 KOMMENTAR

  1. Pelinka kennt im Gegensatz zu anderen Autoren die lokalen Sprachen in Israel nicht; weder arabisch noch hebräisch. Außerdem hat A.P. nicht einige Jahre vor Ort verbracht.

    So kommt es, daß andere Autoren wie Shlomo Sand, Moshe Zuckermann, Petra Wild, etc. der ‚Antisemistismus‘ Realität deutlich näher kommen, welche diese Abwesenheitsnachteile nicht haben.

    Ein großer Teil von A.P. sind #hasbara-Standpunkte, also rechtszionistische Standpunkte, die unter den Juden eine Minderheitsmeinung darstellen. Standpunkte wie sie JStreet, JVP-USA, liberale Juden vertreten (die häufig anti-zionistisch sind) vermißt man bei A.P. weitgehend.

    Verglichen mit Saudiarabien ist Israel sicherlich eine Demokratie; verglichen mit westlichen, liberalen Staaten eher eine Ethnokratie (mit Herrschaft über Nichtjuden – Gojim genannt) bzw. für religiös-angehauchte Politiker (Bait Yehudi) sogar eine Theokratie.

    Schade, daß A.P. heute jene Ausgewogenheit vermissen läßt, für die er früher bekannt war. Heute kann man den Autor von seiner Denke her, zu den Zionisten rechnen, eine Minderheit innerhalb der Juden.

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