Über Sonderstatus, Doppelmoral und die Zukunft des Judenstaates schreibt der Politikwissenschafter Anton Pelinka in seinem neuesten Buch Israel – Ausnahme oder Normalstaat. Zu den Hauptaussagen seines fundierten und engagierten Werkes befragte ihn Marta S. Halpert.
WINA: Was waren Ihre Beweggründe, dieses Buch zu schreiben?
Anton Pelinka: Als häufiger Besucher Israels ist mir immer die in Europa vorherrschende Doppelmoral aufgefallen. Die gibt es auch in den USA, aber in etwas geringerem Ausmaß. Man hat Israel immer an Standards gemessen, die für andere Staaten nicht gegolten haben. Das hat mich vor allem auch als Politikwissenschafter gestört, und ich wollte ein Buch schreiben, das möglichst nüchtern ist. Wenn es um Israel geht, haben viele Leute schon eine Meinung, bevor sie etwas wissen. Ich wollte zunächst beschreiben und analysieren und dann vorsichtig Meinungen formulieren und nicht gleich mit Meinungen beginnen – was ich als Schwäche des Israel-Diskurses auf allen Seiten sehe.
Sie argumentieren – auf viele einsichtige Fakten gestützt –, dass Israel ein ganz normaler Staat ist und sich auch als solcher selbstbewusst darstellen sollte. Israel wird aber vom überwiegenden Teil der Staatengemeinschaft so nicht wahrgenommen. Was hilft dann die Selbstdefinition?
❙ Es gibt dafür kein Rezept. Aber zur Normalität gehört auch, was Israel gerne vergisst oder nicht sehen will, dass es als Staat im Nahen Osten liegt. Israel ist kein Staat mitten in Europa und muss sich daher in einer feindseligen, nicht-jüdischen, nicht europäischen Umwelt zurechtfinden. Ein wenig habe ich den Eindruck, das wird nicht zur Kenntnis genommen. Die Zukunft Israels ist die eines Nahoststaates, und diese Realität wird ein wenig weggeschoben. Ich weiß schon, dass es außer mit Ägypten und Jordanien keine Friedensverträge gibt, und ich weiß auch, dass es kurzfristig nichts bewirken wird, wenn sich Israel als Nahoststaat definiert. Aber längerfristig, glaube ich, ist es im Interesse Israels zu vermeiden, dass Israel sich selbst als eine Art koloniale Insel in einem postkolonialen Umfeld sieht und auch so wahrgenommen wird: Was angesichts der Realitäten in den Nachbarstaaten ohnehin absurd ist, denn was ist kolonialistischer als diese vom wahhabitischen Sunni-Islam beherrschte Region.
Eine Ihrer zentralen Thesen in dem Buch lautet, Israel sollte sich allmählich von der existenziellen Verbindung mit der Schoah lösen, also das Thema nicht weiter in die Zukunft mitschleppen. Wie meinen Sie das?
❙ Erstens ist Israel objektiv ein Produkt des europäischen Antisemitismus, und zweitens wäre Israel ohne die Schoah vermutlich nicht erfolgreich gegründet worden. Diese Verbindung gibt es und die kann man nicht wegschieben. Aber drittens gibt es, vor allem in Europa, diesen eigenartigen Umkehrreflex. Weil Israel von den Überlebenden der Schoah und den Opfern des europäischen Antisemitismus gegründet wurde, muss Israel besser sein. Warum sollte Israel besser sein? Warum sollen Juden bessere Menschen sein als andere? Das ist ja schon an sich eine umgedrehte Übernahme der Begrifflichkeit des nationalsozialistischen Wahnsinns. Aber wenn Israel ständig über den Konnex mit der Schoah seinen Ausnahmestatus betont, wird es auch als Ausnahmestaat behandelt. Das heißt, wenn Israel Fehler macht, wird es als besonders und kritisch wahrgenommen. Wenn Israel sich als normaler Nahoststaat versteht, kommt es stärker in den Vergleich mit seinen Nachbarstaaten – und das kann für Israel nur von Vorteil sein.