Im Budapester jüdischen Viertel florieren wieder die Konditoreien. Wer backt das beste Flódni?
Text von Osteuropa-Korrespondent Silviu Mihai; Fotojournalistin: Dagmar Gester
Budapest – eine Schicht kleingehackter Äpfel, dann gedämpfter Mohn, obendrauf süße Wallnussfüllung. Dazwischen dünner, delikater Teig, fast nur ein Film. Als Ráchel Raj das große Blech aus dem Backofen holt, füllt sich der Raum mit dem Duft der Feiertage. Einige Minuten später schneidet sie den Blechkuchen großzügig in rechteckige Stücke und stellt diese hinter der Theke aus. „Das ist Flódni, das Lieblingsgebäck der ungarischen Juden – und mittlerweile auch vieler anderer“, erklärt die Frau stolz. Die ausgebildete Modedesignerin hat vor zehn Jahren das Café Noé, ihre erste Konditorei, eröffnet und an eine alte Familientradition angeknüpft. Das Geschäft ist langsam gewachsen und wurde in den letzten Jahren zu einer Institution, erst im jüdischen Viertel, dann in ganz Budapest.
In der Wesselényi-Straße
Vor der Eingangstür in der Wesselényi-Straße wirbt eine Tafel für Ráchels Flódni. Das Haus stammt aus der Zeit um 1900, wie die ganze Gegend beeindruckt es mit seiner soliden neoklassischen Architektur und seinen spielerischen Jugendstilelementen. In unmittelbarer Nähe liegt die große Synagoge und Budapests Jüdisches Museum, in den benachbarten Gassen machen seit Jahren immer wieder neue Kneipen und Biergärten auf. Das kleine Café Noé, dessen Namen auf Deutsch „Noah“ heißt, hat kaum zehn Tische auf zwei Ebenen. Die Holztreppe hoch und wieder runter läuft jeden Tag Miklós Maloschik, Rachel Rajs Ehemann, der gleichzeitig den Verkäufer, den Kellner und den Geschäftsführer spielt.
Purim-Spezialität
„Das Flódni war ursprünglich vor allem eine Purim-Spezialität“, erzählt Maloschik und setzt sich gemütlich an einen Tisch. „Doch als die jüdische Kultur Anfang des letzten Jahrhunderts die Hauptstadt prägte, wurde dieser Kuchen nicht nur, wie sie damals sagten, zum Botschafter des Judentums, sondern unter allen Budapestern zum Ganzjahresschlager“, berichtet der kleine junge Mann mit langen dunkelblonden Haaren und Bart. „Nach dem Krieg war dieser Teil jüdischer Kultur so gut wie ausgestorben, erst nach der Wende hatten wir die Chance, die Tradition wiederzubeleben. Wir bieten unseren Gästen auch andere altjüdische Bäckereiprodukte wie die Macesz-Torte, das Kleingebäck Hámán Füle, aber auch ungarische Delikatessen. Heute kaufen viele Ungarn Flódni neben ihrem traditionellen Beigli-Kuchen – zu Weihnachten“, lacht Maloschik.
In der Wesselényi-Straße, wenige Meter vom Café Noé entfernt, arbeitet Ráchel Rajs Mutter, Maja Pataki. In ihrem kleinen Buch- und Souvenirladen namens Ars Judaica finden ihre Kunden alles, was mit Judentum zu tun hat: von den Meisterwerken vieler jüdisch-ungarischer Autoren über Plüschbärchen mit Kippas bis hin zu handgenähten Tischdecken. „Die Näharbeit mache ich selber“, erklärt die vornehme Frau mit leiser Stimme. Zusammen mit ihrem mittlerweite verstorbenen Mann, dem angesehenen Rabbiner und Abgeordneten Tamas Raj, hat sie kurz nach der Wende beschlossen, etwas für die Wiederbelebung der jüdischen Kultur in Ungarn zu unternehmen. „Wir wollten verhindern, dass so viele schöne Sachen völlig in Vergessenheit geraten“, erzählt sie.
Ars Judaica war das erste
Aus der ursprünglichen Idee, eine Art kulturelle Grundversorgung der jüdischen Gemeinde zu organisieren, sind im Laufe der Jahre mehrere konkrete Projekte entstanden. „Ars Judaica war das erste. Wir wollten einen Raum für unterschiedliche Aspekte der jüdischen Tradition, einen Anknüpfungspunkt für die Gemeindemitglieder und Anwohner, einen kleinen literarischen Salon schaffen“, erklärt Pataki. Heute ist das beschauliche, überfüllte Geschäft nicht nur für die Bewohner des jüdischen Viertels, sondern auch für viele Touristen eine Attraktion. Denn mittlerweile gilt die Gegend als eine der berühmtesten Ausgehecken der ungarischen Hauptstadt. „Später sind wir auf die Idee gekommen, das Literarische mit der Café- und Konditoreikultur in Verbindung zu bringen“, fährt sie fort.
Ráchels Flódni wurde in kurzer Zeit zum Geheimtipp und öffnete Anwohnern und Besuchern den Appetit für die Wiederentdeckung eines Bestandteils der mitteleuropäischen Geschmackskultur. „Das Backen und Kochen hat mir meine Mutter beigebracht. Natürlich sind inzwischen auch viele andere Delikatessen zu unserem Sortiment dazu gekommen. Aber die traditionellen Spezialitäten bereite ich heute noch ganz nach dem ursprünglichen Rezept vor. So gehört zu meinem Flódni auch ein bisschen Pflaumenmousse, weil es in unserer Familie immer so war“, erklärt die junge Unternehmerin.