
WINA: Sie sind Historiker, unter anderem mit dem Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte, insbesondere im Kontext von Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, mit renommierten Abschlüssen in Harvard und Berlin. Derzeit arbeiten Sie an Ihrem Opus magnum mit dem Titel Wissenschaftswandlungen in politischen Umbruchzeiten: 1918, 1933/38, 1945, 1989. Dennoch nehmen Sie sich Zeit für die Anliegen des österreichischen Centers for Israel Studies. Wo liegt die Wurzel für das Interesse an Israel?
Mitchell Ash: Diese Wurzel ist mindestens dreifach verästelt. Erstens habe ich mich schon seit meiner Post-doc-Zeit in Berlin mit der Vertreibung deutscher Wissenschaft aus Europa beschäftigt, und da war ja die Rassentheorie der Nazis inbegriffen. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik beschäftigt mich bis heute. Über jüdische Professoren an der Universität Wien habe ich bereits vor Längerem geschrieben, inklusive eines Beitrags zu einer Festschrift für den österreichischen Nobelpreisträger Eric Kandel, den ich im Auftrag des Zeitgeschichtlers Oliver Rathkolb erstellt habe. Bei dieser Recherche hoffte ich, auf reichlich Sekundärliteratur über diese Gruppe zu stoßen. Aber im Gegensatz zu Deutschland gab es keine umfassende Literatur, nur hie und da Einzelschicksale. Und das, obwohl fast alle Ikonen der österreichischen Gedächtnispolitik wegen ihrer „jüdischen Herkunft“ verfolgt wurden; obwohl sie durch Konversion keine Juden mehr waren. Auch in der Gedächtnispolitik sind sie Juden geblieben. Da frage ich mich schon, ob es richtig ist, sich wie „wohlmeinende Luegers“ zu benehmen, die sich, wie er, anmaßen zu bestimmen, wer Jude ist.
Was war die zweite Motivation?
I Über das Judentum als wissenschaftliches Standbein haben wir gesprochen, jetzt folgt das Judentum als politisches Standbein: In den 1980er-Jahren bin ich in Berlin einer Gruppe beigetreten, die sich „Kritische Juden“ nannte. Im Libanonkrieg 1982 positionierten wir uns gegen diesen Krieg. So stellte sich die Frage, ob man als Jude politisch agieren kann oder ob man das Judentum ablegen muss, um politisch zu sein. Mein persönlicher Schluss war, nein, das geht gut zusammen. Nachdem ich 1984 in Iowa meine erste Stelle angetreten habe, habe ich mit 39, also mit dreimal dreizehn Jahren beschlossen, die Bar Mizwa nachzuholen. Mit mir gemeinsam lernte eine 70-jährige Polin, die sagte nur: „In Polen durfte ich das damals nicht machen, aber jetzt!“
Jetzt kommt die Brücke zum Center for Israel Studies?
I Ja, fast. Der Libanonkrieg hat mir klar gemacht, wie wichtig Israel für mich persönlich ist – aber auch, wie umstritten es als Staat ist. Die negative Identifizierung mit Israel nur durch die Shoah war mir damals in den USA doch zu wenig, außerdem war mir das dortige Reformjudentum zu blutleer. Vielleicht ist es jetzt als Konversionsquelle nützlich, auch Kinder von jüdischen Vätern als Juden anzuerkennen – bei uns in Wien in der liberalen Gemeinde Or Chadasch ist das aber nicht so. So viel Tradition ist mir recht, schließlich ist mein Judentum bis ins 18. Jahrhundert zurück dokumentiert: Von einem Forscher der Familie habe ich erfahren, dass wir Nachkommen von Scholem Asch* sind.
Mitchell G. Ash
wurde 1948 in Mineola, New York, geboren und ist in Louisville, Kentucky, aufgewachsen. Er studierte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University und der Freien Universität Berlin und erwarb in Harvard 1982 das Doktorat. Anschließend arbeitete er an der Universität Mainz und lehrte von 1984 bis 1996, zuletzt als Professor, an der University of Iowa. Er war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und wurde, nach Gastprofessuren in Göttingen und Wien, 1997 als Nachfolger von Günther Hamann Ordentlicher Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien. Danach hatte er Gastprofessuren und Gastaufenthalte an der Hebrew University of Jerusalem, der University of California at Berkeley und der Princeton University. Seit 2016 ist er emeritiert. Von 2010 bis 2018 hatte er die Leitung des Doktoratskollegs The Sciences in Historical, Philosophical and Cultural Contexts, gefördert vom FWF, inne. Von 2018 bis 2021 war er Gastforscher am Großprojekt zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft am MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Publikationen u. a.: Die Max-Planck-Gesellschaft im Prozess der deutschen Vereinigung 1989–2002. Eine politische Wissenschaftsgeschichte. Göttingen 2023; Universität – Politik – Gesellschaft. Göttingen 2015 (650 Jahre Universität Wien, Bd. 2); Materialien zur Geschichte der Psychoanalyse in Wien 1938–1945. Frankfurt/M. 2012; Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Göttingen 2010 (als Mithg.).
Sie waren bei Or Chadasch 20 Jahre lang ehrenamtlicher Kantor und leiten gelegentlich noch immer G’ttesdienste?
I Ja, das mache ich sehr gerne, da fühle ich mich auch wohl. Der letzte Schritt vor dem Center for Israel Studies war noch meine Aufnahme in die B’nai-BrithLoge; dort hatte man in einem Anflug von Liberalität auch den Arzt Theodor (Dori) Much, Arthur Hirsch von der Webster University und mich akzeptiert. Zu Israel zu stehen, ist in der Loge von zentraler Bedeutung, und es soll ja möglich sein, kritische Ansichten über das Verhalten israelischer Regierungen zu haben und dennoch Zionist zu sein.
„Die enge Verknüpfung des Zionismus mit Wien und
die historische Bedeutung Wiens machen die Stadt zu
einer idealen Heimstätte für das Center.“
Wofür steht das 2013 gegründete Center for Israel Studies, welchen akademischen Status hat es?
I Das Center wurde mit dem Ziel gegründet, eine nationale und internationale Plattform für Forschung und Lehre über Israel in Österreich zu etablieren. Es ist ein Verein der Zivilgesellschaft, der Interesse am modernen Israel in seiner gesellschaftlichen Vielfalt wecken soll. Wir versuchen auf hohem wissenschaftlichen Niveau, aber durchaus gemeinverständlich zu bleiben. Die enge Verknüpfung des Zionismus mit Wien und die historische Bedeutung Wiens machen die Stadt zu einer idealen Heimstätte für das Center.
Es ist nicht bei einer Fakultät der Universität Wien angesiedelt?
I Ursprünglich war das schon die Idee von Susi Shaked, der ersten Präsidentin, und Dr. Sandra Goldstein, die den Kontakt zu Univ. Prof. Itamar Rabinovich von der Tel Aviv University hergestellt hatte. Da es aber weder bei der Judaistik noch in der Politologie gut aufgehoben schien, verzichteten wir darauf. Die Vorträge finden an vielen Orten, darunter an der Universität Wien und an der Diplomatischen Akademie in Wien statt, die eine unserer Kooperationspartner ist. Ich wurde zuerst in den Beirat des Centers geholt, bald darauf sagte man mir einfach: „Du machst das jetzt!“ Begründet wurde meine Bestellung mit den guten Verbindungen zu akademischen Kreisen in Österreich und Israel.

Ende November 2024 war ich in der Diplomatischen Akademie, wo das Symposium Remembering What Herzl Stood For: The Past and Future of Zionism stattfand. Sie sagen, das Center sei unparteiisch, geht das bei Israel überhaupt? Die Veranstaltung wurde auch vom Israel-kritischen New Israeli Forum unterstützt?
I Wir im Vorstand sind sicher nicht parteiisch, denn wir kooperieren auch mit der Botschaft des Staates Israel. Wir versuchen, informativ zu sein, es geht uns nicht darum, eine bestimmte Position einzunehmen. Themen aus der israelischen Geschichte, Gesellschaft und Kultur sowie Film, bildender Kunst und Musik werden von prominenten Wissenschaftler:innen aller Fachgebiete, internationalen Expert:innen sowie Künstler:innen, Autor:innen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beleuchtet. Dafür stehen unsere Vorstandsmitglieder wie die Politologin Barbara Prainsack, die Historiker:innen Dieter und Luisa Hecht sowie der Autor und Publizist Doron Rabinovici.
„Es geht beiden [Netanjahu und Trump] nicht um
Prinzipien, sondern nur um die Frage, was dient mir
jetzt am besten, um mein Ziel zu erreichen?“
Wie erging es dem Center nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023? Hat sich etwas verändert?
I Wir waren erschüttert. Klarerweise hatte das starke Auswirkungen auf unser Programm. Doron Rabinovici hat sofort ein deutliches Statement verfasst, unter dem Motto: „Wer immer versucht, die horrenden Taten der Hamas durch den Hinweis auf die Besatzung zu relativieren, befürwortet den Massenmord.“ So steht es auch auf unserer Webseite.
Sie leben seit Ihrer Berufung (siehe Bio-Kasten) an die Universität Wien 1997 als Doppelstaatsbürger in dieser Stadt. Sie werden u. a. auch im ORF immer wieder als USA-Experte befragt. Wie beurteilen Sie die derzeitige Harmonie und Symbiose zwischen Trump und Netanjahu? Werden sie sich jetzt gegenseitig bei ihren jeweiligen politischen Eskapaden unterstützen?
I Das ist schwer zu sagen, aber Tatsache ist, die beiden sind seit ihrer Jugend innig miteinander verbunden. Bibis Vater, Benzion Netanjahu, war ein israelischer Historiker und zionistischer Aktivist. Er forschte und veröffentlichte schwerpunktmäßig zur Geschichte der spanischen Juden und Konvertiten/Marranen im späten Mittelalter sowie der Spanischen Inquisition. Er lehrte von 1971 bis 1975 als Professor für Jüdische Studien an der renommierten New Yorker Cornell University. In dieser Zeit hat Benjamin Netanjahu bei Donald Trump und seiner Familie auch oft gegessen, ob er auch übernachtet hat, weiß ich nicht. Also wenn der US-Präsident sagt, er ist „mein Freund“, stimmt das auch.
Die Schwächung der Justiz sowie die langsame Aushöhlung der Demokratie haben sich auch beide auf die Fahnen geschrieben?
I Es geht beiden nicht um Prinzipien, sondern nur um die Frage, was dient mir jetzt am besten, um mein Ziel zu erreichen? Netanjahu hat nicht unverdient den Ruf, ein geschickter Taktierer zu sein. Doch das ist nicht das vollständige Bild, denn Netanjahu ist seit seiner Jugend ein Annexionist. Sein Vater war noch extremer in seinen Ansichten.** Das heißt, der Apfel, Sohn Bibi, fiel nicht weit vom Stamm. Was auch nicht beachtet wird: Die Worte „From the sea to the river Jordan there will only be Jewish sovereignty“ stehen bereits im Gründungsprogramm der LikudPartei von 1976. Die Hamas-Terroristen haben den Slogan nur um den Zusatz „Palestine will be free“ er weitert. Netanjahu war schon einmal nahe daran, die Westbank einzugemeinden. Es lag nur am Druck der Amerikaner, ihn davon abzuhalten. Daher stimmt auch das Märchen nicht, dass Netanjahu diese rechte Regierung aufgezwungen worden wäre. Im Gegenteil: Er will selbst entscheiden, wann er annektiert, in diesem Sinne stimmt das Taktieren. Daher sind von ihm keine echten Kompromisse zu erwarten.
Also war die „Gaza-Riviera“-Idee inklusive „Verfrachtung der Palästinenser“ abgesprochen?
I Nein, das war nicht abgesprochen, Netanjahu war schon sehr überrascht. Aber Donald Trump denkt manchmal länger über etwas nach und schiebt es dann plötzlich heraus; auf jeden Fall ist auch der US-Präsident wesentlich komplexer gestrickt, als er dargestellt wird.
* Scholem Asch (geb. 1. Januar 1880 in Kutno, Warschauer Gouvernement, Russisches Kaiserreich; gest. 10. Juli 1957 in London) war ein jiddischer Schriftsteller und Dramatiker. Seine Hauptwerke sind in fast alle Weltsprachen übersetzt.
** Politisch engagierte sich Benzion Netanjahu (geb. 1910 in Warschau, gest. 2012 in Jerusalem) in der Bewegung des Revisionistischen Zionismus, er war Sekretär von Zeev Jabotinsky, dem „Vater des revisionistischen Zionismus“ und nach dessen Tod von 1940 bis 1948 Geschäftsführer der New Zionist Organization.