„Auf das Leben!“

Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur schreibt über das Sterben, den Tod, die Lebenden und das Judentum.

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Delphine Horvilleur studierte Medizin und Journalistik, bevor sie Rabbinerin wurde. © JOEL SAGET / AFP / picturedesk.com; 123RF

Für dieses Buch benötigt man nicht einen Bleistift, sondern mehrere. Nicht, um es zu schreiben. Sondern um so viel auf den Textseiten anzustreichen, herauszuschreiben und zu memorieren. Mit sich zu tragen, über die Lektüre, über den Tag hinaus.
Als 2014 Elias Canettis Das Buch gegen den Tod erschien, eine Edition aus dem gewaltigen Nachlass des Literaturnobelpreisträgers – geboren in Rustschuk, heute das bulgarische Rousse, ausgebildet in Wien, geflohen nach London, bis zu seinem Tod lange ansässig in Zürich –, enthüllte sich ein Lebensbuch, das zugleich ein Totenbuch war, ein Todesbuch. Vor allem aber: ein Buch gegen den Tod.

Die Todesgegnerschaft war der Antrieb Elias Canettis, sich jeden Morgen mit großer Disziplin an den Schreibtisch zu setzen. Auf der Tischplatte lagen nur ein Block und eine Batterie an Bleistiften. Canetti füllte Seite um Seite mit Sätzen und Gedanken, die er zum Thanatos-Thema über fünfzig Jahre hinweg festhielt, notierte und damit – und zwar mit Furor und verbaler Verve – das Vergehen bannen, einschränken, verhindern wollte. „Sag dich von allen los, die den Tod hinnehmen. Wer bleibt dir übrig?“, fragte ein Eintrag aus dem Jahr 1943. „Der Tod lässt sich nicht erzählen“: ein Notat von 1970. Und der allerletzte Eintrag von 1994 lautete: „Es ist Zeit, mir wieder Dinge mitzuteilen. Ohne dieses Schreiben löse ich mich auf. Ich spüre, wie mein Leben sich in stumpfes, trübes Sinnen auflöst, weil ich nicht mehr Dinge über mich aufschreibe. Ich will versuchen, dies zu ändern.“

Essayistisch knapp. Für dieses Buch benötigt man nicht nur einen Bleistift. Mehrere vielmehr. Nicht, um es zu schreiben. Sondern, um so einiges, und dann immer mehr, auf den Textseiten anzustreichen. Mit kleinen Kommentaren und Zeichen zu versehen. Hier ein Ausrufe-, dort ein Fragezeichen, da eine Unterstreichung, dort ein Verweis. Um sich zu ändern.

„[…] da ich nicht weiß, wer ich
heute wäre, wenn ich mich bewusst von ihm
[dem Tod] ferngehalten hätte.“
Delphine Horvilleur

Delphine Horvilleurs Mit den Toten leben ist keine Sammlung von Gedanken, Aphorismen, Splittern. Stattdessen handelt es sich um einen Essay in guter französischer Literaturtradition. Die liberale, „laizistische“ Rabbinerin, die erst in Jerusalem Medizin studierte, diesen Studiengang nicht abschloss, anschließend ein Journalistik-Studium in Paris absolvierte, drei Jahre lang Radiojournalistin war, dann das Rabbinerseminar am Hebrew Union College in New York besuchte und heute mit ihrer Familie in Paris lebt, hat in den letzten Jahren nicht nur hohe Auszeichnungen der Republik Frankreich erhalten – 2019 wurde sie Officier de l’ordre des Arts et des Letters, 2020 erhielt sie das Kreuz der Legion d’honneur, der Ehrenlegion – , sie hat auch in den vergangenen zweieinhalb Jahren erstaunlich viel publiziert, was von der Titelgebung her bereits hehr, intellektuell elementar wie herausfordernd komplex klang, den Band Réflexions sur la question antisémite im Jahr 2019, ein Jahr darauf Le rabbin et le psychanalyste. L’exigence de l’interprétation und nur wenige Monate später Comprendre la monde – die Welt verstehen (und das auf 90 Seiten!). Es relativiert sich, sieht man sich den Umfang der einzelnen Bücher an: allesamt essayistisch knapp.

Delphine Horvilleur: Mit den Toten leben. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Hanser Berlin Verlag 2022, 188 S., 22,70 €

Um über den Tod zu schreiben, über damit verbundene Riten und Trauerzeiten und Emotionen, beginnt Horvilleur mit Menschen, mit Toten, die sie kannte, wie eine Psychoanalytikerin und Kolumnistin bei Charlie Hébdo, die im Jänner 2015 beim Mordanschlag auf die Zeitschrift erschossen wurde, oder die ihr wenig bis gar nicht bekannt waren, deren Familien sie aber begleiten durfte.
Besonders eindringlich gerät Horvilleur das Kapitel Marceline und Simone über die KZ-Überlebende Simone, die hochbetagt starb und zu Lebzeiten eine starke, sehr lebenszugewandte Frau und, so Horvilleur, „eine große Theologin“ war, „die mit der Zigarette im Mundwinkel gleichzeitig G-ttes Abwesenheit in Auschwitz, den weiblichen Orgasmus und die Vorzüge von Wodka erörtern konnte – ein und dasselbe Gespräch über alles, was ihr im Leben heilig war“.
Wieso Friedhof auf Hebräisch „haH’ayim“ heißt, erläutert Horvilleur auch – so eignet sich das Buch auch als Einstiegs- und Einsteigerlektüre. Dabei geht es, schreibt sie, „nicht darum, den Tod leugnen oder ihn auslöschen und damit abwenden zu wollen“ – vielmehr geht es um das genaue Gegenteil, „ihm jenseits der Sprache eine klare Botschaft zu erteilen“ und darum, dass er nicht einmal auf dem Friedhof das letzte Wort haben wird.

Delphine Horvilleur schreibt klar, ohne in gefühlige Naivität oder in leeren rhetorisch pathetischen Klingklang zu verfallen. Sie schreibt durchweg verständlich, oft angereichert durch konkrete, plastische Beschreibungen winziger Details, etwa dass man bei der Ausfahrt aus Jerusalem aus dem Autofenster sachte wahrnehmen kann, wie sich die Erdkrume anders zu färben anschickt. Sie schreibt klug, ohne an Empathie einzubüßen, stilsicher navigiert sie am Kitsch vorbei. Und klug wie anregend kann man bis zum Ende an zahlreichen Stellen wider sie argumentieren und verspürt dabei allerdings dieselbe Dezenz und eine ähnlich sensible Diskretion wie sie als Menschenzeichnerin und Menschenerinnerungsbeschwörerin.

Diesem schmalen, von Nicola Denis gut übersetzten Buch ist große Eindringlichkeit ebenso zu eigen wie großes Gewicht. „Ich weiß nicht“, liest man an einer Stelle, „wie der Tod auf die Lebenden wirkt, die mit ihm konfrontiert sind oder ihn begleiten. Ich bin außerstande zu sagen, welchen Einfluss er auf mich hat, da ich nicht weiß, wer ich heute wäre, wenn ich mich bewusst von ihm ferngehalten hätte.“

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