El Male Rachamim – Gott voller Erbarmen hebt die flehende Stimme des Kantors an, sie schneidet die eisige Kälte und fährt auf zum scharf blauen Himmel. Das Gebet zum Gedenken an jüdische Märtyrer, die Einleitung vor dem Kaddisch, schwebt über der massiven Stein-skulptur hinweg in den nahen Wald, wo noch die hohen Böschungen zu sehen sind, an denen Männer und Frauen, Greise und Kinder vor 77 Jahren standen, bevor Pistolenschüsse sie in die Gruben beförderten.
Einer sehr gemischten Gruppe von Menschen bringt Shmuel Barzilai, Oberkantor des Wiener Stadttempels, diese musikalisch-beschwörende Klage zu Gehör: Dazu zählen der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine Delegation, der Langzeitpräsident Weißrusslands, Aleksander Lukaschenko, umgeben von zahlreichen finster blickenden Sicherheitsleuten, Vertreter der orthodoxen und anderer Kirchen, des diplomatischen Corps, belorussische Kriegsveteranen sowie einige jüdische Verwandte der Ermordeten aus aller Welt.
Sie alle sind zur Einweihung des Massivs der Namen gekommen, des österreichischen Mahnmals für ausschließlich jüdische Opfer. Trotzdem gelingt es Präsident Lukaschenko, in seiner Rede das Wort „Juden“ konsequent zu vermeiden. Für ihn „starben Menschen ethnischer Herkunft und diverser Religionen“. Bundeskanzler Kurz sprach nach seinem Gastgeber und reagierte schnell: Im ersten Satz des vorbereiteten Textes war noch von „zehntausend Österreicherinnen und Österreichern“ die Rede, doch jetzt hieß es abgeändert so: „Wir stehen hier an diesem Ort, um uns an unsere Toten, an jene annähernd zehntausend Jüdinnen und Juden zu erinnern, deren Leben hier in Maly Trostinec gewaltsam ausgelöscht wurden.“
Korrekterweise müssten die zehn dunkelgrauen Betonblöcke zur Erinnerung an die zehn Transporte der rund 10.000 österreichischen Juden und Jüdinnen, die zwischen Mai und Oktober 1942 von Wien nach Minsk deportiert und im nahen Maly Trostinec ermordet wurden, als Massiv der VORnamen bezeichnet werden. Denn wir lesen nur „Herta, Margarete, Rosa, Elisabeth“ oder „Victor, Othmar, Schmelke, Nikolaus“. Die Errichtung dieses einzigen nationalen Denkmals –nach dem Entwurf des österreichischen Architekten Daniel Sanwald – musste mit den weißrussischen Behörden detailliert abgestimmt werden – und die vollständige Namensnennung wurde abgelehnt (siehe dazu Kasten).
Den menschlich-bewegendsten Moment in dieses von Männern bestimmte offizielle Gedenkritual bringt eine außergewöhnliche Frau ein. Waltraud Barton, die fast im Alleingang diese Mordstätte und damit auch die Opfer der vollständigen Vergessenheit entrissen hat, umgeht kurzfristig das Verbot der vollen Namensnennung, indem sie hier und jetzt „nur“ an jene erinnern möchte, die am 28. März – am Tag der Einweihung – Geburtstag hätten. „Harry Zimmermann, Elsa Bacher, Ignatz Nasch, Gisela Kirnbauer, Robert Trepper, Alice Brust und Alfred Grab.“ Insgesamt dreißig Namen liest die gelernte Schauspielerin vor: Und auf einmal imaginiert man Leben und Schicksale hinter diesen Frauen- und Männernamen.
»Von Weitem leuchteten die gelben Schilder mit den Namen meiner Verwandten.«
Waltraud Barton
Der Schilderwald von Blagowtschina. Bei dieser bilateralen Zeremonie auf höchster politischer Ebene konnte man als österreichische*r Teilnehmer*in nur emotional berührt sein, weil man knapp davor in jenem Wald war, in dem die Massenerschießungen stattgefunden haben. Denn hier steht man vor eng gesetzten Kiefern, die grell gelbe Namensschilder tragen: „Alice Hahn, geb. 28.10.1907, aus Wien deportiert am 9.6.1942; in Maly Trostinec ermordet 15.6.1942.“ Darunter: „Otto Hahn, geb. 17.6. 1931, aus Wien deportiert am 9.6. 1942; in Maly Trostinec ermordet 15.6.1942.“ Otto war der Sohn der 35-jährigen Alice und wurde hier zwei Tage vor seinem elften Geburtstag gemeinsam mit seiner Mutter ermordet. Therese Füchsel war mit 86 Jahren das älteste und Gerson Schwarz mit sieben Wochen das jüngste Opfer.
Waltraud Barton übergibt hier das 551. Namensschild an Bundeskanzler Kurz und IKG-Präsident Deutsch, die es gemeinsam um den Baum binden. „Arthur Loschitz wäre heute 90 Jahre alt geworden. Er starb jedoch bereits mit 13 Jahren, am 9. Oktober 1942“, so Barton. Vier Tage vorher war der jüdische Bub von den Nazis aus einem Lehrlingsheim in der Wiener Seegasse hierher verschleppt worden. Es ist beklemmend still hier im Wald. Dicht sind die scharf gelben schlichten Namensschilder, oft mehrere an einem Baum, montiert. Sofort denkt man an die gleichfarbigen Judensterne, die die Verfemten und Verfolgten auf ihre Kleidung nähen mussten. Und trotzdem ersetzen diese so improvisiert wirkenden Baumzettel eigentlich Grabinschriften – für menschliche Überreste, die nie bestattet wurden.
Dass diese Menschen und die Mordstätte Maly Trostinec spät, aber doch in das Bewusstsein jener Gesellschaft zurückgeholt wurde, aus der sie brutal ausgestoßen wurden, ist allein der 1959 in Wien geborenen evangelischen Mutter zweier Söhne zu danken. „Ich habe erst spät in meinen 40ern, eigentlich für meine Söhne, begonnen, meine Familiengeschichte zu erforschen“, erzählt Waltraud Barton. „Bis dahin hielt ich die Schoah für das grausamste Kapitel der österreichischen Geschichte, in das ich ‚nur indirekt‘ als Teil der österreichischen Gesellschaft verstrickt bin.“ Sie verschlang zwar viele Bücher zu dem Thema, war aber nie auf den Ort Maly Trostinec gestoßen. Bei ihren privaten Nachforschungen entdeckte sie sowohl väterlicherseits wie auch mütterlicherseits jüdische Verwandte. Bei der Internetrecherche fiel ihr auf, dass Mitglieder aus der Großelterngeneration, nämlich sowohl Malvine Barton wie auch die 13-jährige Herta Ranzenhofer und ihre Eltern Rosa und Viktor Ranzenhofer, nach Maly Trostinec deportiert und dort ermordet worden sind. „Ich hielt dies erst für einen bemerkenswerten Zufall. Da ich von Maly Trostinec in Zusammenhang mit österreichischen Opfern noch nie gehört oder gelesen hatte, dachte ich zuerst, dass nur eine kleine Anzahl dorthin verbracht wurde.“
Zu ihrem 50.Geburtstag beschloss Barton, ihrem eigenen Älterwerden einen tieferen Sinn zu geben und nach Maly Trostinec zu fahren, um das Museum und den österreichischen Gedenkort, den es dort sicher geben würde, zu besuchen. Sie war fassungslos, als sie entdeckte, dass es damals nichts dergleichen gab. „Absolut nichts erinnerte 2009 an die Tausenden Österreicher und Österreicherinnen, die nach Maly Trostinec deportiert und dort ermordet worden waren. Ich kann das bis heute nicht verstehen, dass offensichtlich niemand gefragt hat, wo denn die zahllosen Wiener und Wienerinnen geblieben sind. Bei der Abfahrt vom Aspangbahnhof haben ja viele zugeschaut“, erzählt die spätere Gründerin des Vereins IM-MER (Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern). „Und das, obwohl auf den Deportationslisten im österreichischen Staatsarchiv alle Namen fein säuberlich verzeichnet und öffentlich zugänglich waren und sind“, empört sich Barton noch heute, die seit zehn Jahren 20 Stunden in der Woche ihrem Projekt der Erinnerung widmet. Für ihren Brotberuf beim Samariterbund bleiben dann noch 30 Stunden pro Woche.
Die Erschütterung über das österreichische Vergessen hielt nach der Rückkehr an. Barton gründete den Verein und sammelte in ihrem privaten Umfeld Unterschriften für eine Erinnerungsstätte, um auf die Verbrechen in Maly Trostinec aufmerksam machen: „Ich wollte, dass wir die Verantwortung für die Toten übernehmen, damit dieser Vernichtungsort im kollektiven Gedächtnis Österreichs verankert wird. Damit die österreichische Gesellschaft, die Republik Österreich, die Verantwortung für ihre Toten übernimmt.“
Zu Pfingsten 2010 organisierte sie die erste Gedenkreise nach Maly Trostinec und hängte die ersten Namensschilder für Malvine Barton sowie Herta, Rosa und Viktor Ranzenhofer auf. Ohne irgendeine Behörde zu fragen, beschloss sie, im rigide regierten Weißrussland das weiter zu tun, solange „diese Menschen keinen richtigen Grabstein haben“. Ein Jahr später, im Juni 2011, näherte sie sich zum zweiten Mal dem Wäldchen und wusste nicht, ob die Schilder noch da sein würden. „Von Weitem leuchteten die gelben Schilder mit den Namen meiner Verwandten. Immer wieder denke ich mit großer Dankbarkeit an jene zwei älteren Frauen, die uns im Wald von Blagowtschina gefragt haben: ‚Habt ihr eure Toten gefunden?‘ Als ich das bejahte, flüsterten sie: ‚Wir werden auf sie aufpassen.‘ “
Der beharrliche, unermüdliche Einsatz von Waltraud Barton zeigte erst im Oktober 2016 die ersten Früchte, als ein Entschließungsantrag des Nationalrats die Bundesregierung aufforderte, die Umsetzung eines Denkmals zu ermöglichen. Trotz der Bemühungen von Kanzler Christian Kern dauerte es noch bis zum Ministerrat vom 17. Dezember 2017: Da gab die neue Bundesregierung das „Bekenntnis zur Errichtung eines würdigen Denkmals für die aus Österreich stammenden Opfer bei Maly Trostinec“ ab. „Plötzlich musste alles sehr schnell gehen“, erinnert sich Barton. Das Bundeskanzleramt nahm die Verhandlungen mit den weißrussischen Behörden auf, die erstmals zuließen, dass ein nationales Denkmal auf dem weißrussischen Gedenkareal ermöglicht wird. „Jetzt, da sich alles auf Regierungsebene abspielt, muss ich Genehmigungen für meine Schilder in Blagowtschina einholen“, schmunzelt Barton. „Jetzt ist auch unser leuchtender Wald Teil der weißrussischen Gedenkstätte geworden. Bis vor einem Jahr hat es hier von offizieller Seite nichts gegeben. Jetzt führt die Installation Korridor der Waggons des lokalen jüdischen Künstlers Leonid Lewin symbolisch zum Wald.
In groben Umrissen sind die – heute begrünten – Böschungen zu erkennen, von wo aus die Erschießungen stattgefunden haben. Erschütterndes zu den Funden auf diesem Terrain berichtet der Archäologe Vadim Koshman bei einem Historikerworkshop am Institut für Geschichte der Staatlichen Universität Minsk. „Als Archäologe sollte ich bei den Massengräbern arbeiten, doch meine Ausbildung war da nicht erforderlich, denn ich musste nicht tief graben: Die persönlichen Gegenstände, die die Ermordeten zum Zeitpunkt ihrer Erschießung bei sich hatten, waren unter einer dünnen Schicht Erde leicht zu finden: Taschenspiegel, Kämme – und Schlüssel, weil die armen Menschen wirklich dachten, sie kämen noch einmal heim.“
Zu einem „Abend der Erinnerung“ hatte Ministerpräsidenten Sergej Rumas die österreichischen Gäste und lokale Vertreter aus Kultur und Politik in den Palast der Republik in Minsk geladen. IKG-Präsident Oskar Deutsch dankte in seiner Ansprache Waltraud Barton für ihre Arbeit: „Die Vernichtungsstätte Maly Trostinec ist nicht nur ein Synonym für Massenmord, sondern auch für jahrzehntelanges Schweigen, für Verdrängung und Passivität. In Österreich ist es schließlich einer Privatinitiative gelungen, das Schweigen zu durchbrechen und einen Prozess der Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in Gang zu setzen.“
Gemeinsam mit Jackie Young aus England, Kurt Gutfreund aus Chicago, Jerry Harel aus Israel, Edna Magder aus Toronto und Heather Kurzbauer aus den Niederlanden, deren engsten Angehörigen hier ermordet wurden, lauschte man den musikalischen Darbietungen junger weißrussischer Künstler. Begleitet vom Akademieorchester sang Oberkantor Barzilai ein hebräisches Lied. Das war berührend schön. Durch Mark und Bein ging sein inbrünstig gesungenes Gebet im Freien, das er fragend gegen den Himmel schickte.
17 von 10.000 österreichischen Jüdinnen und Juden überlebten das Vernichtungslager Maly Trostinec. Nun erinnert ein Denkmal an die Ermordeten.
Mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 setzte in den eroberten sowjetischen Gebieten die systematische Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung ein. Ab Herbst 1941 wurden Juden und Jüdinnen aus West- und Mitteleuropa in das „Reichskommissariat Ostland“ deportiert. Dieses war eine Verwaltungseinheit des Deutschen Reichs, die die früheren baltischen Staaten sowie den größten Teil des westlichen Weißrussland umfasste.
Wien war einer der Hauptorte, aus denen Juden nach Maly Trostinec deportiert wurden. 18 volle Züge waren für den Zeitraum zwischen Mai und September 1942 geplant, geworden sind es neun. Der erste Zug verließ den Wiener Aspangbahnhof am 6. Mai 1942. Von den fast 10.000 nach Maly Trostinec verschleppten österreichischen Juden und Jüdinnen überlebten nur 17. Zwischen Mai und Oktober 1942 trafen insgesamt 16 Deportationszüge aus Wien, Königsberg, Theresienstadt und Köln in Minsk ein. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Deportierten sofort nach der Ankunft ermordet.
Ort der Massenexekutionen war eine schwer einsehbare Lichtung im Waldgebiet von Blagowtschina, unweit des Zwangsarbeitslagers, elf Kilometer südöstlich von Minsk gelegen, mit einem Bahnanschluss für die Deportationszüge aus dem Dritten Reich. Getötet wurde von Exekutionskommandos – Gruppen von zehn bis zwölf mit Pistolen bewaffneten Männern – per Genickschuss. Die Mehrheit jedoch wurde in zu „Gaswagen“ umgebauten LKWs erstickt, die Leichen in zuvor ausgehobene, riesige Gruben geworfen, mit Chlorkalk überschüttet und verscharrt. Rund 60.000 Menschen wurden in Maly Trostinec ermordet, mehr als die Hälfte davon waren Juden. Neben Auschwitz gilt der Ort als jener mit den meisten österreichischen Schoah-Opfern.
Die Finanzierung des österreichischen Denkmals erfolgte durch das Bundeskanzleramt und den Österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus. Zur Kritik, dass die Skulptur – auf expliziten Wunsch der weißrussischen Behörden – nur die Vornamen der Opfer aufzählt, meint der österreichischer Historiker Winfried R. Garscha: „Die Forderung, die Namen sämtlicher deutscher und österreichischen Opfer am Ort ihrer Ermordung sichtbar zu machen, ist verständlich. Man muss aber wissen, dass von den Namen der sehr viel größeren Zahl der ermordeten einheimischen Juden und Jüdinnen (laut European Jewish Congress waren das rund 800.000) sowie der weißrussischen NS-Opfer und der von der Wehrmacht getöteten rund 700.000 sowjetischen Kriegsgefangenen nur ein winziger Bruchteil bekannt ist. Daher finde ich die jetzige Lösung mit den Vornamen gut.“