Auf der Flucht vor dem Erbe

Väter und Söhne, Ehemänner, Verführer und Samenspender. Entgegen dem Titel Ein Mann sein vermisst die amerikanischjüdische Romanautorin Nicole Krauss in ihrem ersten Story-Band nicht nur das männliche Rollenspektrum in Zeiten fluider Geschlechteridentitäten neu.

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Nicole Krauss: Ein Mann sein. Storys. Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt 2022, 256 S., € 24,70

Wie wirft man das alte Leben ab, wie wird man geerbte Bürden los, wie gelangt man zum eigenen Selbst? Häutungen und Metamorphosen hat Nicole Krauss bereits in ihrem letzten Roman Waldes Dunkel thematisiert. In Sussja auf dem Dach, eine der zehn Storys ihres neuen Erzählbandes und vielleicht die beste, zitiert sie dazu eine rabbinische Parabel. „Warum bist du nicht Sussja gewesen?“, fragt G’tt den verstorbenen Rabbi Sussja, der sich schämt, nicht Moses oder Abraham gewesen zu sein. Professor Brodman, der Held dieser Geschichte, halluziniert im Fieberrausch Sussjas Antwort: „Weil ich ein Jude war und kein Raum blieb, um etwas anderes zu sein, nicht einmal Sussja.“

Unter der Last der religiösen Pflichten, in einer „ununterbrochenen Kette der Geschlechter“ vom frommen Vater auf den Sohn weitergegeben, leidet der jüdische Historiker Brodman sein Leben lang. Gleichzeitig mit seiner wundersamen Genesung von einer Todeskrankheit kommt im selben Spital sein einziger Enkel zur Welt, der Sohn seiner lesbischen Tochter und eines homosexuellen Samenspenders. Zumindest ihn will er von diesem schweren jüdischen Erbe befreien, und so entführt er das Neugeborene, während schon die „Mohelet“, also eine Beschneiderin, vor feierlich versammelter Familie das Messer wetzt, in einem unglaublichen Kraftakt 22 Stockwerke hinauf auf das Dach des New Yorker Wohnhauses. In wenigen Strichen, auf wenigen Seiten, zeichnet Nicole Krauss eindrucksvoll das Porträt eines gebrochenen Mannes, der insgeheim seine beiden Töchter beneidet, die ihren Vater und alles, was er ehrt, eben so gar nicht ehren.

 

„Wir waren europäische Juden, sogar in Amerika, was bedeutete,
dass
katastrophale Dinge geschehen waren und wieder geschehen konnten.“

 

Amerikanisches Judentum. Ein väterliches Erbe ganz anderer Art tritt eine Tochter in der Erzählung Ich schlafe, aber mein Herz ist wach an. Nach dem Tod ihres Vaters, Universitätsprofessor wie Brodman, übrigens spielen viele der Storys im akademischen Milieu, erhält sie die Schlüssel eines Appartements in Tel Aviv, von dessen Existenz sie ebenso wenig wusste wie von einem Freund des Vaters, der sich in dieser Wohnung breit macht. Offenbar war der Verstorbene mit dem Fuß in Amerika und mit dem Herzen in Israel zu Haus gewesen, ein Dilemma, das Krauss aus eigener familiärer Prägung ebenso kennt wie den langen Schatten des Holocaust.

„Wir waren europäische Juden, sogar in Amerika, was bedeutete, dass katastrophale Dinge geschehen waren und wieder geschehen konnten“, sagt die Ich-Erzählerin in der Story Die Schweiz, wo sie als amerikanisches Kind Französisch, nicht aber Schweizerdeutsch lernen darf, das sich „kaum“ von der Sprache der Nazis unterscheidet. Im Genfer Eliteinternat erfährt das Mädchen von ihrer Zimmergenossin, einer frühreifen Lolita, von der auch fatalen Macht von Erotik und Sex.

Auf die Endzeit der elterlichen Ehe blickt Tochter Noa zurück in einer anderen Geschichte zurück. Ihr Vater gräbt sich als Archäologe in Israel durch die Jahrtausende, die aus Wien stammende Mutter durch die deutsche Literatur. Zum „Get“, der religiösen Scheidung, lädt das in aller Freundschaft auseinandergehende Paar in Kalifornien sogar seine Kinder ein.

In der offenbar autobiografisch grundierten Titelgeschichte schließlich findet sich die geschiedene junge Amerikanerin, deren Großeltern Holocaust-Überlebende waren, in Berlin im Bett mit einem deutschen Hühnen und Amateurboxer, der ihr ohne Umschweife erklärt, dass er wohl ein Nazi gewesen wäre. „Ich bin genau der Typ, den sie für die Napola rekrutiert hätten.“ Noch im selben Sommer reist sie mit ihren Söhnen nach Israel.

Liebe in Zeiten der Polyamorie, in Zeiten fließender Gender-Grenzen, in Zeiten von Leihmüttern und Samenspendern, sich auflösender Familien und Ehen, in denen man dennoch und allem zum Trotz das Erbe der Väter nicht so einfach los wird, davon erzählt Nicole Krauss mit Empathie und teilweise sogar Ironie in ihren klugen, brillanten Short Storys, die in a nut shell oft einen ganzen Lebensroman enthalten.

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