Aus der Geschichte: Gestern Angst, heute Furcht

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Dohány utca/ © Hungarian Jewish Archives

Es gibt nichts Neues unter der Sonne; zumindest dort, wo Juden leben. Und das erst recht in Ungarn. Immerhin: Nach Frankreich, England und Deutschland leben die meisten Juden Europas heute in Ungarn: rund 90.000. Von Peter Stiegnitz

Die eigentliche jüdische Geschichte beginnt im frühen Mittelalter, obwohl archäologische Befunde beweisen, dass sich im Gefolge römischer Legionen Juden in den Provinzen Pannonien und Dakien niederließen. Die ersten schriftlichen Quellen stammen aus dem 11. Jahrhundert: Im Jahre 1092 stellte die katholische Kirche die jüdisch-christlichen „Gemischtehen“ unter schwere Strafen. Andererseits wiederum schützten einige ungarische Könige „ihre“ Juden – natürlich nur aus ökonomischen Gründen – vor den mordenden Kreuzrittern. So entstanden ab dem 12. Jahrhundert bedeutende Gemeinden in Buda, Esztergom und Pozsony (heute Bratislava). Die gesellschaftliche Bewegungsfreiheit der „nützlichen“ Juden ließ König Andreas II. („II. András“) in seiner „Goldenen Bulle“ 1222 festschreiben. Diese Privilegien reichten nicht nur für den Aufstieg in mehrere „königliche Ämter“, sondern ermöglichten auch den Erwerb von Adelstiteln. Die Kirche ließ jedoch nicht locker: In ihrem Budaer Konzil (1279) verbot der Klerus Juden, Grund und Boden zu erwerben, und befahl ihnen, einen „Judenring an sichtbarer Stelle“ zu tragen. König Adalbert II. („II. Béla“) widerrief allerdings diese Diskriminierung.

„Insgesamt wurden in der Schoa über 600.000 Juden aus den ehemaligen ungarischen Gebieten verschleppt und ermordet.“

Die Kirche ließ jedoch nicht locker und zwang König Ludwig den Großen („Nagy Lajos“) um das Jahr 1350 nach dem Ausbruch einer Pestepidemie, die Juden aus Ungarn zu vertreiben; irgendjemand musste doch an der tödlichen Krankheit schuld sein. Erst der legendäre König der Magyaren, Matthias Corvinus („Mátyás király“), lockerte das kirchliche Verbot und gewährte um 1465 den „heimgekehrten“ Juden einen gewissen Schutz. Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert herrschte in Ungarn offene Pogromstimmung.

Unter solchen Umständen konnte sich in Ungarn keine wirkliche jüdische Geistigkeit entwickeln; die wenigen im ganze Land zerstreut lebenden Juden waren froh, ihr nacktes Überleben zu sichern. So beklagte Anfang des 15. Jahrhunderts ein Rabbiner in seinem Buch der Gebräuche „das entsetzlich niedrige Niveau des landesüblichen Thora-Studiums“.

Kazinczy utca/ © Hungarian Jewish ArchivesDer erste bedeutende religiös-geistige Schub in Ungarn meldete sich unter der osmanischen Herrschaft. Anfang des 17. Jahrhunderts blühte die jüdische Gemeinde in Buda auf, wohin – im Schatten der osmanischen Truppen – auch sephardische Juden aus Kleinasien ihren (orthodoxen) Glauben nach Ungarn transferierten. Im Gegensatz dazu wurden in den habsburgisch beherrschten Teilen des Landes die dort lebenden Juden nahezu vollständig ausgerottet. Trotzdem gab es auch zu dieser Zeit gewisse jüdische „Schutzgebiete“. So nahm Fürst Paul I. Esterházy im heutigen Burgenland die aus Wien vertriebenen Juden auf und sorgte für das Entstehen der später berühmt gewordenen „Siebengemeinden“. Auch der protestantische Fürst Gábor Bethlen schützte „seine“ Juden in Siebenbürgen („Erdély“).

Während Maria Theresia ihrem judenfeindlichen Herz freien Lauf ließ, sorgte ihr Sohn Joseph II. mit seinem „Toleranzpatent“ für die erste Festlegung dauerhafter Rechte der Juden im Reich. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts lebten die jüdischen Gemeinden in Ungarn wirklich auf. Neben jüdischen Schulen und sozialen Einrichtungen stießen immer mehr assimilierte und zum Teil getaufte Juden in intellektuelle Berufe und in höhere Ämter vor. Im Zuge des „Ausgleichs“ (1867) beschloss das ungarische Parlament verschiedene Gesetze, die der jüdischen Emanzipation dienten. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten in Ungarn bereits über 900.000 Juden.

Von dieser Zeit an blühte in Ungarn auch der politisch gefärbte und gelenkte Antisemitismus, der vom berüchtigten „Ritualmordprozess“ in Tiszaeszlár (1882) bis zu den (europaweit) ersten (1920) und weiteren „Judengesetzen“ reichten und im Holocaust mündeten.

Die religiöse Entwicklung

Bedingt durch die geopolitische und kulturelle Dreiteilung Ungarns im 19. Jahrhundert in Ober-, Unter- und Mittelungarn sprachen die dort lebenden Juden weitgehend Deutsch (in Oberungarn), Jiddisch (in Unterungarn) und Ungarisch in der Mitte des Landes.

Eine dreigeteilte Gemeinde. Das ungarische Judentum ist seit ihrer Gleichstellung dreigeteilt: die Orthodoxie, die Status-quo-Gemeinde und die so genannten Neologen. Diese Spaltung kennzeichnet die jüdische Gemeinschaft bis heute.

Stark entwickelte sich – außerhalb von Budapest – die Orthodoxie; vor allem in Pressburg, aber auch in anderen süd- und ostungarischen Städten entstanden bedeutende orthodoxe Gemeinden mit ihren viel gepriesenen Jeschiwot. Auch der Chassidismus (z. B. die Satmarer) blühte vorwiegend im Osten und Nordosten des Landes auf. Diese mehr oder weniger freiwillig gettoisierten Gemeinden wurden dann auch zu den ersten Opfern der Nazischergen und deren ungarischen Pendant, den Pfeilkreuzlern. Insgesamt wurden in der Schoa über 600.000 Juden aus den ehemaligen ungarischen Gebieten verschleppt und ermordet.

Rumbach utca/ © Hungarian Jewsih ArchivesAuch die Reformjuden und die Neologen, wobei der Unterschied zwischen den beiden Richtungen immer unbedeutender wurde und sie sich daher beide gerne als „Liberale“ bezeichneten, wurden in den Fußstapfen der jüdischen Aufklärung („Haskala“) immer erfolgreicher. Vor allem unter der Führung von Aaron Chorin und Leopold Löw entstanden die ersten Reformschulen in Ungarn. Allerdings standen die „Neologen“ unter dem heftigen Widerstand orthodoxer Rabbiner. Die beiden großen Richtungen der „Frommen“ und der „Modernen“ stießen auf dem Allgemeinen Jüdischen Kongress (1868/69), der auf Grund der Gleichstellung jüdischer Bürger im Zuge des „Ausgleichs“ einberufen wurde, vehement zusammen. Als Folge der alles andere als angenehmen Auseinandersetzungen wurde das religiöse jüdische Leben in Ungarn – bis zum heutigen Tage – dreigeteilt: in die Orthodoxie, die modernen Neologen und die konservative „Status-quo“-Gemeinde, deren Losung bei der Abspaltung lautete: Die Situation soll so sein, dass wir nichts erneuern, aber auch nicht strenger werden. Während die Hauptsynagoge der Orthodoxie erst 1912 in der Kazincy utca entstand, wurde die berühmte Dohány-Synagoge der Neologen bereits 1859 fertiggestellt. 1872 wurde auch die Otto-Wagner-Synagoge der Status-quo-Gemeinde in der Rumbach utca erbaut.

Heute leben schätzungsweise 90.000 Juden in Ungarn, mehrheitlich in Budapest – wo das jüdische Leben, trotz oder gerade wegen der politischen Situation, in den letzten Jahren eine Blüte erlebt.

Zur Person

Prof. Dr. Peter Stiegnitz wuchs in Budapest auf und konnte sich der Deportation nur durch Flucht entziehen. 1956 flüchteten seine Eltern mit ihm nach Österreich. An der Universität Wien studierte er u.a. Soziologie und Philosophie. Er war bis zu seiner Pensionierung als Ministerialrat im Bundespressedienst des österreichischen Bundeskanzleramtes tätig. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher.

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