Ausbruch aus dem Gefängnis

Von der hermetischen Welt der Satmarer Chassiden, seiner schmerzlichen Befreiung und dem Weg abseits des Weges erzählt Rabbi Akiva Weingarten in seinem Buch Ultraorthodox.

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Heiratet seine jüngere Schwester vor ihm, dann ist er „geskipped“, ein „Übersprungener“, und das heißt am Heiratsmarkt zweite Wahl. Akiva ist noch nicht Zwanzig, als er diese Gefahr auf sich zukommen sieht. Also sagt er Ja zu Yalda, die 18 ist, aber geistig eigentlich noch ein Kind. „G’tt hat den Frauen ein kleineres Gehirn gegeben“, klärt ihn der zu Rate gezogene Rabbiner auf, „es reicht, wenn Frauen uns von der Sünde retten und unsere Kinder erziehen.“

Nach drei gemeinsamen Kindern bricht Akiva nicht nur aus der unglücklichen Ehe aus. Er verlässt vor allem die ultraorthodoxe Gemeinschaft der Satmarer Chassiden, in die er hineingeboren wurde, und fliegt oder besser flieht eines Nachts aus Israel allein nach Berlin.

Mit Unorthodox hat Deborah Feldman bereits vor zehn Jahren einen Einblick in die hermetische Welt der Satmarer Sekte in New York gegeben und damit einen von Netflix 2020 auch verfilmten Weltbestseller gelandet. Unaufgeklärt und zutiefst verzweifelt in einer arrangierten Ehe, geht auch sie als junge Mutter gerade nach Berlin.

Mit Ultraorthodox beleuchtet nun der jetzt als „liberal-chassidischer“ Rabbiner in Dresden tätige Akiva Weingarten quasi die männliche Seite derselben Medaille. Es ist eine von religiösen Geboten und Verboten beherrschte, von der Außenwelt streng abgeschottete Gesellschaft, in der sie aufwachsen. Ihrer beider Coming-of-Age-Geschichten weisen dahingehend viele Parallelen auf.

Selbstsuche. Akiva trägt aber darüber hinaus noch die Bürde als ältester, erstgeborener Sohn von insgesamt elf Geschwistern. Nach dem Willen des Vaters, der erst als junger Mann zu den Satmarern stieß, durchläuft Akiva in mehreren „Jeshivot“ zunächst in Amerika und dann in Israel die klassische Ausbildung zum ultraorthodoxen Rabbiner. Mit diversen Jobs, unter anderem mit dem Verkauf von Filterprogrammen für ein koscheres Internet, muss der junge Vater, der sich nur dem Studium der heiligen Schriften widmen sollte, aber auch zum Familienerhalt beitragen. Verstärkt durch das Fiasko seiner Ehe bekommt das Gefüge seiner scheinbar heilen Herkunftswelt Risse, Glaubenszweifel brechen immer drängender in den religiösen Alltag ein.

 

„Es reicht, wenn Frauen uns
von der Sünde retten und
unsere Kinder erziehen.“

 

Für ein Leben außerhalb dieser Welt ist er als „OTD, ein off the derech“, also als einer, der den „derech“, den Weg, verlassen hat, nach seinem Ausbruch aber in keiner Weise vorbereitet.

Die Suizidrate unter dieser Art von Aussteigern ist alarmierend hoch, fallen sie doch aus einer rundum versorgenden Umgebung gleichsam ins bodenlose Nichts, begleitet vom Gefühl der absoluten Sinnlosigkeit. In einer Metamorphose seines Gottglaubens letztlich eine neue, freiere jüdische Identität findend, fängt sich Akiva vor dem drohenden Absturz auf.

Nach diversen Erfahrungen unter anderem in Indien, in neuen erotischen Beziehungen, Begegnungen mit anderen religiösen Bewegungen und psychotherapeutischer Unterstützung gründet er schließlich in Dresden eine Selbsthilfegruppe Gleichgesinnter, beendet in Potsdam seine „Jüdischen Studien“ und ist heute als Rabbiner tätig, der sich schon auch mal mit Streimel und Kaftan fotografieren lässt.

Keine Peep-Show. Seinen langen, schmerzlichen Weg dahin beschreibt er ohne Bitterkeit und ohne die Gemeinschaft, der seine Eltern, die trotz aller Befremdung zu ihm halten, seine Geschwister und Kinder immer noch angehören, zu diffamieren oder Peep-Show-artig bloßzustellen. Vom Aufwachsen in der beengenden Welt der Satmarer Chassiden, die er als „Gefängnis“ erlebt hatte, ihren absurd anmutenden Regeln, Zwängen und Tabus erzählt er im Rückblick fast abgeklärt und mit glaubhafter Authentizität und Ehrlichkeit.

Fernsehserien wie Shtisel haben gezeigt, dass geschlossene Gemeinschaften wie die der Ultraorthodoxen, entsprechend präsentiert, auch für Außenstehende durchaus eine gewisse, vielleicht nicht nur der Neugier geschuldete Faszination ausüben können. Akiva Weingartens kaum fiktionalisierte, höchst persönliche Bekenntnisse reihen sich wie ein weiterer Puzzlestein in dieses komplexe Bild ein.

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