„Außenseiter machen Grenzen sichtbar“

Hannah Rieger war für die Spezialbanken-Gruppe Investkredit in leitenden Funktionen tätig, u.A. als Direktorin für Marketing und Kommunikation, wo sie auch die Kunstsammlung der Bank kuratierte. Ihre eigene Art-Brut-Sammlung setzt einen Fokus auf die weiblichen Vertreterinnen dieser Kunstrichtung. Letzten Herbst wurde diese im museumkrems gezeigt. Hannah Rieger arbeitet als Beraterin für berufliche Entwicklung (Supervision/Coaching und Gruppendynamik) in freier Praxis.

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© Ronnie Niedermeyer

WINA: In einem Gastkommentar für den „Standard“ plädierten Sie dafür, dass sich Unternehmen stärker mit der Kunst auseinandersetzen. Welche Vorteile bringt das für die Wirtschaft?
Wenn berufliche Begegnungen in Räumen mit Kunst stattfinden, werden sie emotional bedeutsamer. Gerade Menschen, die in Wirtschaftsunternehmen tätig sind, können von solchen Impulsen befruchtet werden. Ich finde es wichtig, dass Unternehmen das ermöglichen, und ich arbeite auch konkret daran: Beispielsweise im Rahmen von Kunstgesprächen mit dem Immobilienunternehmer und Kunstsammler Martin Lenikus. Wirtschaft und Kunst miteinander zu verknüpfen ist nicht leicht. Es gibt große Vorbehalte zwischen den zwei Welten.

Sie sammeln Art Brut, auch „Outsider Art“ genannt. Was können wir von Außenseitern lernen? Sind Sie mit diesem Begriff überhaupt einverstanden?
Die Bezeichnung „Outsider Art“ – die ich diskriminierend finde – verbreitete sich durch den Titel des gleichnamigen, 1972 veröffentlichten Buches von Roger Cardinal. Das war ein Versuch, den von Jean Dubuffet geprägten Namen „Art Brut“ [franz. „rohe Kunst“, Anm. d. Red.] dem englischsprachigen Raum zugänglich zu machen: In den USA wäre ein französischer Begriff nicht salonfähig gewesen. Dennoch glaube ich, dass wir beim Thema Außenseitertum im Kern von Art Brut sind. Von Außenseitern können wir jedenfalls viel lernen: Sie machen Grenzen sichtbar und „verrücken“ sie im eigentlichen Sinn des Wortes. Ein Außenseiter kann – nach einem bekannten Modell von Raoul Schindler – eine ganze Gruppe verändern und sie sogar dazu bringen, in eine andere Richtung zu gehen.

Wie ist das möglich?
Ein einfaches Beispiel ist eine Bergwanderung. Irgendeiner ist der Letzte, vielleicht weil er sich schwerer tut. Nun sagt er: „Sollten wir nicht lieber umkehren?“ Wenn dieser sogenannte Omega in der Lage ist, die Gruppe zum Umkehren zu bewegen und damit auch den Alpha dazu zwingt, dann hat die sogenannte Omega-Rochade stattgefunden und der Letzte ist zum Ersten geworden.

„Ich suchte ein Feld, in dem es um Menschen mit schweren Schicksalen ging.“

Sehen Sie sich selbst als Außenseiterin?
Ja, immer wieder! Es ist kein Zufall, dass ich mir gerade diese Kunstrichtung ausgesucht habe. Aufgrund meiner jüdischen Familiengeschichte väterlicherseits wurde ich mit Außenseitertum und Ausgrenzung schon aus historischer Sicht konfrontiert. Von der katholischen Familie meiner Mutter habe ich diese Ausgrenzung dann selbst erfahren. Dann habe ich mein ganzes Berufsleben als Frau in sehr männlich dominierten Welten verbracht – zunächst im Bankwesen, dann in der Beratung. Zu guter Letzt war das Sammeln von Art Brut zu der Zeit, als ich damit anfing, keineswegs akzeptiert. Damals sagte mein Vater noch: „Du mit deinen meschuggenen Künstlern.“ Erst im Laufe der Jahre kam Art Brut in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit – und Gugging entwickelte sich von einem Außenseiterprojekt zu einer Marke.

Ihre wird als größte private Art-Brut-Sammlung in Österreich genannt, die von einer Frau zusammengestellt wurde. Warum spielt Ihr Geschlecht dabei eine Rolle?
Zumeist sind es Galeristinnen, die erst durch ihren Beruf zu Sammlerinnen geworden sind – oder Ehefrauen, die an der Sammlung ihres Mannes mitarbeiteten, beziehungsweise diese nach dem Tod des Mannes weiterführen. Es gibt wenige Frauen, die eigenständig Kunstsammlungen aufbauen. In der Welt der Art Brut überwiegen die männlichen Sammler noch viel stärker. International sind ein paar große Frauen zu vermerken, in Deutschland zum Beispiel Charlotte Zander, die ein eigenes Museum gründete. Auch sie begann aber als Galeristin in München. Und noch weniger Frauen gibt es, die sich vermehrt auf weibliche Künstlerinnen in der Art Brut fokussieren.

Was reizt Sie spezifisch an den Künstlerinnen der Art Brut?
Auch der Frauenfokus entstammt meiner Lebensgeschichte. Schon als junge Frau war ich mit Frauenrechten befasst, meine Diplomarbeit in der Ökonomie beschäftigte sich mit Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Meine Mutter war als Feministin ein großer Einfluss. Sie hat die Gugginger Künstler sehr gemocht und gefördert, war dort öfters zu Besuch. Es störte sie aber, dass dort nur männliche Künstler lebten. Da freuten wir uns ganz besonders, als Laila Bachtiar auftauchte. Ich habe sie zuerst in einem Gugging-Katalog entdeckt und dann begonnen, wie verrückt ihre Arbeiten zu kaufen. Inzwischen habe ich 45 Werke von ihr. Später lernte ich sie und ihre Mutter auch persönlich kennen. Ich glaube, dass ich für Künstlerinnen besonders viel tun kann. Frauen in der Art Brut werden noch mehr an den Rand gedrängt als ihre männlichen Kollegen. Umso mehr brauchen sie Sammlerinnen, die sie respektieren und unterstützen.

Wieviel von dieser Unterstützung kriegen die Künstlerinnen mit?
Laila Bachtiar, die Autistin ist, bekommt sehr viel mit. Im September war Gugging in einer Pariser Galerie vertreten. Eine Stunde nach der Ausstellungseröffnung waren alle Bilder von Laila verkauft. Da schwebte sie wie eine Prinzessin durch die Ausstellung. Sie liebt es, wenn ihre Werke wertgeschätzt werden. Im Rahmen meiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung in Krems bedankte ich mich bei den vertretenen Künstlerinnen und Künstlern – und insbesondere bei Laila Bachtiar, die an dem Abend anwesend war. Da kam sie von ganz hinten entlang der 120 anwesenden Gäste nach vorne und stellte sich neben mich hin wie eine Schwester. So etwas lässt sich nicht inszenieren, ich war selbst ganz überrascht und musste mich darauf konzentrieren, nicht von meiner Rede abgelenkt zu werden.

Eine andere Künstlerin, die in Paris lebende Jill Gallieni, war mit zwei Werken in Krems vertreten. Ich habe ihr einen Katalog geschickt, und als Dank schickte sie mir eine Zeichnung. Marilena Pelosi – die auch in Frankreich lebt – war ebenfalls ganz glücklich darüber, dass ihre Arbeiten gezeigt wurden.

Die Tätigkeit des Sammelns wird selten hinterfragt. Wie lässt sich die Leidenschaft erklären, Dinge zusammenzustellen und zu besitzen?
Da tue ich mir leicht. Meine Haltung ist, dass ich diese Kunst eigentlich gar nicht besitze. Ich sehe mich eher als Hüterin der Werke. Einerseits verwalte ich sie nicht als Vermögensanlage; andererseits habe ich schon dafür vorgesorgt, dass die Sammlung nach meinem Tod an die Privatstiftung – Künstler aus Gugging geht. Aus diesem Grund sehe ich das mit dem Sammeln nicht so kritisch. Bei mir ist alles andere sehr reduziert. Die Bilder sind halt ein eigenes Projekt, das ich nicht im Sinne von Assets sehe. Wenn ich darüber nachdenke, was ich wirklich besitze, würde ich meine Wohnung und mein Haus dazuzählen, nicht aber die Art-Brut-Sammlung. Die eine Schiele-Zeichnung, die ich von meinen Eltern geerbt habe, aber schon. Diese ist für mich so etwas wie ein Sparbuch.

Ihr jüdischer Großonkel, den Schiele portraitiert hat, war selbst großer Kunstsammler.
Heinrich Rieger war Zahnarzt und heiratete wohlhabend. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erwarb er in Wien über 700 Werke der damaligen Avantgarde. Einen großen Schwerpunkt stellte Egon Schiele dar; sein Ölgemälde „Kardinal und Nonne“ war wohl das bedeutendste Werk dieser Sammlung. Auch Klimt, Kokoschka und andere große Namen waren vertreten. Manche der Patienten meines Großonkels waren Künstler, die ihre Zahnbehandlungen in Bildern bezahlen durften. Mittlerweile ist die Sammlung Heinrich Rieger in aller Welt verstreut und bis heute wurde nicht geklärt, wo viele Schiele-Zeichnungen gelandet sind. Die Wirrnisse der Restitution, die Tauschaktionen des Museum Belvedere: Diese Dinge haben dazu beigetragen, dass die Sammlung nie richtig aufgearbeitet werden konnte.

Besteht zwischen Art Brut und dem Judentum eine ideologische Verbindung?
Auf einer bestimmten Ebene kann man sicherlich behaupten, meine Sammlung stehe in der Tradition Heinrich Riegers – und Art Brut entspreche der heutigen Avantgarde, die damals Schiele, Klimt und Kokoschka vertraten. Vielmehr hat mein Zugang zur Art Brut aber mit den Krisen in meiner Familiengeschichte zu tun. Unbewusst suchte ich ein Feld, in dem es um Menschen mit schweren Schicksalen ging. Glücklicherweise schaffen diese Menschen es, ihre Schicksale künstlerisch aufzuarbeiten und damit zu einem gelingenden Leben beizutragen. Indem ich sie ihre Kunst als Sammlerin wertschätze, mache ich im übertragenen Sinne etwas für die Ermordeten meiner Familie. Früher glaubte ich, es sei der Kunstsammler Heinrich Rieger, der meine Beschäftigung mit Art Brut so beeinflusst hat. Heute weiß ich, es war vor allem der Jude Heinrich Rieger.

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