Über die vielen Facetten von Schuld – eine neue Ausstellung im JMW

Oder: Was haben Alfred Nobel, Tonya Harding und Benjamin Murmelstein gemeinsam? Das Jüdische Museum Wien (JMW) verhandelt in einer neuen Ausstellungsreihe am Standort Judenplatz ab nun große Themen, die inhaltlich sowohl an die zerstörte Synagoge, deren Überreste im Untergeschoss des Museums besucht werden können, als auch an das Holocaust-Mahnmal von Rachel Whiteread am Platz vor dem Museum anschließen. Den Anfang macht nun „Schuld“ (zu sehen bis 29. Oktober 2023), danach geht es weiter mit „Friede“, „Raub“ und „Vergessen“, wie Museumsdirektorin Barbara Staudinger bei der Presseführung durch die Schau ankündigte.  

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Foto: David Bohmann/JMW

Es sind keine besonders großen zwei Räume, die im Erdgeschoss des Museumsstandorts Judenplatz für Wechselausstellungen zur Verfügung stehen (im Untergeschoss kann neben den Ausgrabungen der mittelalterlichen Synagoge die Dauerschau zum mittelalterlichen Wien rund um das jüdische Viertel besucht werden). Dennoch ist es dem Kuratorenteam (Hannes Sulzenbacher, Sabine Apostolo, Gabriele Kohlbauer-Fritz, Marcus Patka und Andrea Winklbauer) gelungen, an Hand von Kunstwerken, historischen Objekten sowie Zeitdokumenten das Thema „Schuld“ in einer beachtlichen Breite von Facetten zu beleuchten.

Eva (beziehungsweise Chawa) und der Sündenfall im Garten Eden – im Christentum wurde hier Eva die Hauptschuld daran gegeben, von der verbotenen Frucht (einem Apfel) gegessen zu haben „und damit auch die systematische Unterdrückung von Frauen begründet“, heißt es im Begleittext zum größten Objekt dieser Schau: Der Marmorskulptur „Eva“, 1909 geschaffen von der jüdischen Bildhauerin Teresa Feodorowna Ries. Sie verhandelte in ihrer Arbeit ihre eigenen Erfahrungen als Frau in der patriarchalischen Gesellschaft um 1900. Das war einerseits, als Frau auf den Körper reduziert zu werden und andererseits, der Macht von Männer unterworfen zu sein.

Ries hat ihre Eva daher auch als Unterworfene angelegt – eine nackte Frau, am Boden liegend, die sich krümmt. Die Ausstellung nimmt die Skulptur als Ausgangspunkt, sich in allen drei abrahamitischen Religionen die Rolle Evas anzusehen: Im Christentum wird ihr also die Hauptschuld zugesprochen, im Judentum dagegen gebe es eine differenziertere Sicht, denn genau wie Eva habe  auch Adam über einen freien Willen verfügt und das Verbot sei nur ihm gegenüber ausgesprochen worden. Sie sei zudem auch so etwas wie eine erste Exegetin gewesen, die sich zwar von der Schlange übertölpeln habe lassen, aber dennoch, sie habe hier etwas ausgelegt. Im Islam schließlich spiele Eva kaum eine Rolle. Hier sei Adam die Hauptfigur der Geschichte.

Schuld aus Sicht von Religion wird aber auch an Hand weiterer Objekte in dieser Schau verhandelt: Da ist etwa das große Thema Ablasshandel im Christentum. Zu sehen ist der „Tetzelkasten“, eine Holzkiste aus dem 16. Jahrhundert, in der der Dominikanermönch Johannes Tetzel sehr erfolgreich Ablasszahlungen (damit konnten Gläubige sich von Schuld für Sünden freikaufen und damit ihre künftige Zeit im Fegefeuer verkürzen) sammelte. Die Fotoarbeit des israelischen Künstlers Adi Nes „Kain & Abel“ zeigt wiederum zwei Männer im Heute, die miteinander ringen. Der Brudermörder Kain wurde laut Tora von Gott nicht mit dem Tod, sondern eben einem Leben mit Schuld bestraft, einem rast- und ruhelosen Leben. Die Aufnahme ist Teil der Serie „Biblische Geschichten“ des Fotografen, für die er biblische Szenen fotografisch neu inszeniert. Gezeigt wird aber auch ein kolorierter Holzstich aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, angefertigt nach einer Zeichnung von Theodor Breidwiser. Sie zeigt das Taschlich-Gebet zu Rosch HaSchana am Donaukanal, auch hier entledigen sich Menschen symbolisch ihrer schlechten Taten.

Der zweite Teil der Schau widmet sich den vielen Formen gesellschaftlicher Schuld. Da zeigt ein Foto Angeklagten im Nürnberger Prozess, die lachen. Sie alle werden sich schließlich als nicht schuldig bekennen, sie alle werden verurteilt werden. Auch andere Objekte nehmen hier auf die NS-Zeit Bezug und verweisen dabei darauf, wie unterschiedlich die Motivation sein kann, sich schuldig zu fühlen.

Der Künstler Gerhard Richter setzte sich hier schon früh mit dem Themenkomplex politische, moralische oder individuelle Schuld auseinander. 1965 schuf er ein Porträt seines „Onkel Rudi“, einem Offizier der Wehrmacht, der noch in der NS-Zeit verstorben war. Als Vorlage diente Richter ein Foto, wie es in vielen Familienalben aus der Zeit zu finden war: Ein Mann in Uniform, lächelnd, entspannt. Er übertrug die Aufnahme allerdings nicht eins zu eins auf die Leinwand, sondern er verwischte das Bild, gestaltete es verschwommen, wobei es dennoch klarer erscheint, wenn sich der Betrachter Schritt für Schritt von dem Gemälde entfernt. So lässt dieses Kunstwerk auch jede Menge Raum für Interpretation durch den Besucher. Richter übergab das Bild übrigens schon sehr früh – 1968 – an die Gedenkstätte in Lidice, von der es nun nach Wien entlehnt wurde. In Lidice wurde 1942 von NS-Schergen ein Massaker verübt.

Da gab und gibt es aber auch die Schuld der Nachkommen von Tätern (in der Schau ausverhandelt an Hand des von Daniel Pilar angefertigten Fotoporträts von Niklas Frank, Sohn des „Schlächters von Polen“, Hans Frank, das ihn bis zum Hals im Wasser zeigt) sowie von Überlebenden (gezeigt wird eine Fotografie des Auschwitz-Überlebenden Piotr Ravitz, der sich kurze Zeit darauf suizidierte, gemacht wurde die Aufnahme von Adolfo Kaminsky, der selbst in der NS-Zeit verfolgt wurde und sich der Résistance angeschlossen hatte). Benjamin Murmelstein wiederum wird hier als „unschuldig schuldig“ porträtiert. Als von den Nationalsozialisten eingesetzter Leiter der „Auswanderungsabteilung“ der IKG Wien musste er kooperieren und mitentscheiden, wer auf einer Deportationsliste stand und wer nicht. Die Schau zeigt Ausschnitte des Films „Der Letzte der Ungerechten“ von Claude Lanzmann.

Die Ausstellungsmacher beziehen sich allerdings nicht nur auf die NS-Zeit. Sie beleuchten etwa auch die Rolle Alfred Nobels. Sein Dynamit sollte zu unglaublichem Leid im Ersten Weltkrieg führen – den er aber nicht mehr miterlebte. Was motivierte ihn dazu, den Friedensnobelpreis zu stiften? War er tatsächlich davon überzeugt, dass seine Erfindung zu Frieden führt, da sich niemand traut, sie einzusetzen und so Kriege rasch beendet werden? Oder wollte er nicht nur für die Erfindung dieser Waffe in die Geschichte eingehen?

Aus der jüngeren Geschichte wiederum erzählt die Filmarbeit „The Contest“ von Michaela Schwentner. Zwei Rollschuhfahrerinnen trainieren hier für einen Wettbewerb, zu hören ist ein innerer Monolog, in dem sich eine der Sportlerinnen darüber Gedanken macht, wie weit sie gehen würde, um zu gewinnen. Sie schließt mit den Worten „I want to be the best – at any price”. Verhandelt wird hier die Geschichte der US-amerikanischen Eiskunstläuferin Tonya Harding. Ihr Ehemann hatte 1994 einen Schläger beauftragt, um eine Konkurrentin vor der US-Meisterschaft zu verletzen. Harding gewann zwar schließlich, doch es wurde ihr der Titel aberkannt und sie wurde lebenslang gesperrt. Sie gab erst 2018 zu, von den Plänen ihres nunmehrigen Ex-Mannes gewusst zu haben.

Es gibt aber auch die Formen von Schuld, an denen wir alle ein bisschen Anteil haben. Diese wird in der Ausstellung etwa durch ein Fläschchen Kobalt dargestellt. Der Kobaltabbau bringt soziale Verwerfungen, Korruption und bewaffnete Konflikte mit sich. Gleichzeitig ist das Metall unverzichtbar, beispielsweise für die Herstellung von Smartphone und Elektroautos. Wie soll man damit als Einzelner, aber auch als Gesellschaft umgehen?

Wie auch bereits die Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ am Standort Dorotheergasse regt diese Schau zum Nachdenken und Hinterfragen an. Die umfassenden Begleittexte liefern dabei das Fakten-Gerüst, allfällige Assoziationen (wie etwa bei dem Gemälde Richters) ergeben sich dann durch die Rezeption des einzelnen Besuchers.

jmw.at

 

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