Bejubelter Bartók des Jerusalem Quartet in Salzburg

Auf dem Album The Yiddish Cabaret beweisen die vier Musiker ihre künstlerische Bandbreite: Sie beleuchten die jiddische Musik in Mitteleuropa zwischen den Weltkriegen sowie ihren weltweiten Einfluss.

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Das international besetzte Ensemble aus Israel feierte Publikumstriumphe bei den Salzburger Festspielen im Rahmen des diesjährigen dortigen BartókSchwerpunkts. © Felix Broede, SALZBURGER FESTSPIELE

Wann wurde das letzte Mal ein aktuelles Avantgardestück derart gefeiert? Immerhin trifft die neue Musik der 1920er-Jahre einen Nerv“, schreibt Dávid Gajdos, Musikkritiker der Tageszeitung Die Presse, sowohl über Markus Hinterhäusers Programmschwerpunkt Zeit mit Bartók bei den diesjährigen Salzburger Festspielen wie auch über die zwei Konzerte des Jerusalem Quartet. In den Salzburger Nachrichten lobt Clemens Panagl die Auftritte überschwänglich: „Das israelische Ensemble spielte alle sechs Quartette an zwei Abenden und zeichnete mit viel Leidenschaft und Akkuratesse, Energie und Sensibilität die Motive in stets neuen Schattierungen – auch immer wieder den Groove des Weltmusikers Bartók – heraus.“ Der Kritiker wertet die Konzerte im Mozarteum als jenes erfreuliche Ereignis, das die Entwicklungen und Wandlungen des Komponisten großartig hörbar macht.

Das 1996 von vier jungen israelischen Musikern gegründete Jerusalem Quartet ist bei den Salzburger Festspielen ebenso kein Neuling wie auf zahlreichen Konzertbühnen der Welt: Häufige Tourneen nach Nordamerika gehören ebenso dazu wie Auftritte in Paris und Lissabon oder bei internationalen Festivals wie der Schubertiade Schwarzenberg, dem Verbier Festival oder dem Schleswig-Holstein Musik Festival. Trotz der Pandemie kam es 2022 im Frühjahr zu einem Beethoven-Zyklus in der Wigmore Hall und einer Asienreise im Juni sowie wiederholten Einladungen in die Tonhalle Zürich, ins Concertgebouw Amsterdam und in die Elbphilharmonie Hamburg.

Dieses Jahr widmet sich das israelische Ensemble dem Salzburger BélaBartók-Schwerpunkt, sonst greifen die vielseitigen Musiker auf ihr breites Repertoire zurück: Ihre Einspielungen von Haydns Streichquartetten und Schuberts Der Tod und das Mädchen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, wie dem BBC Music Magazine Award für Kammermusik. 2018 veröffentlichte das Quartett zwei Alben mit Streichmusik von Dvořák, Ravel und Debussy.

Bereits 2019 erschien das Album The Yiddish Cabaret, das die jiddische Musik in Mitteleuropa zwischen den Weltkriegen und ihren umfassenden Einfluss weltweit beleuchtet. Die israelische Sopranistin Hila Baggio, die unter anderem auch an der Semperoper Dresden zu hören ist, gesellte sich zum Ensemble, um gemeinsam jiddische Kabarettlieder aus dem Warschau der 1920er-Jahre zu interpretieren. Außerdem beauftragte das Quartett den ukrainischen Komponisten Leonid Desyatnikov, die Lieder neu zu arrangieren. Desyatnikov hat sich nicht nur mit seiner Filmmusik in Hollywood einen Namen gemacht, sondern auch Werke von Astor Piazzolla arrangiert, wie z. B. die Tango-Operita María de Buenos Aires. Das jüdische Programm wird mit den beiden jüdischen Komponisten Erwin Schulhoff (Fünf Stücke für Streichquartett, 1924) und Erich Wolfgang Korngold (Streichquartett Nr. 2, 1937) vervollständigt.

Bei den Salzburger Festspielen 2022 traten die israelischen Künstler mit blaugelben Einstecktüchern auf – wen wundert das? Wurden doch die beiden Geiger des Jerusalem Quartets Alexander Pavlovsky und Sergei Bresler in der Ukraine geboren; aus Minsk in Weißrussland kommt Kyril Zlotnikov am Violoncello, und der Bratschist Ori Kam stammt aus dem kalifornischen La Jolla. Das ist ein klares politisches Statement der jüdischen Musiker, das sehr wohl mit der späteren Gesinnung von Béla Bartók vereinbar ist: Der junge ungarische Komponist suchte zuerst eine nationale Zugehörigkeit, bevor er zum Europäer mit Haltung wurde – eine beeindruckende musikalische und politische Identitätssuche in den Wirren des 20. Jahrhunderts.

Der 1881 im Groß-Sankt-Nikolaus/Nagyszentmiklós, Österreich-Ungarn, geborene Bartók war wie viele andere Künstler in ganz Europa musikalisch auf der Suche nach einem nationalen Stil. 1903 schrieb er noch in einem Brief, dass er zeitlebens mit seinem Schaffen „der ungarischen Nation, der ungarischen Heimat dienen“ wolle. Die Wende erfolgte durch seine intensiv betriebenen musikethnologischen Forschungen vor allem in Osteuropa, aber auch in der Türkei und in nordafrikanischen Ländern. Bartók erkannte, dass regionale Kulturen schwer auf eine Nationalität zu beschränken sind, und erfasste schnell ihre Interaktion. Bereits 1931 klang das so: „Meine eigentliche Mission ist die Verbrüderung der Völker. Dieser Idee versuche ich […] in meiner Musik zu dienen; deshalb entziehe ich mich keinem Einfluss […].“

 

„Meine eigentliche Mission ist die Verbrüderung der Völker.
Dieser Idee versuche ich […] in meiner Musik zu dienen.“
Béla Bartók, 1931

 

Bartóks Vater starb, als Béla sieben Jahre alt war. Er lebte mit seiner Mutter in verschiedenen Ortschaften, bevor er für die höhere Schule nach Pozsony (Pressburg, heute Bratislava, Slowakei) wechselte. Bartóks außergewöhnliche musikalische Begabung und sein absolutes Gehör fielen früh auf. Seine Mutter förderte ihn mit aller Kraft. „Mit vier Jahren schlug er auf dem Klavier mit einem Finger die ihm bekannten Volkslieder an; vierzig Lieder kannte er, und wenn wir den Textanfang eines Liedes sagten, konnte er das Lied sofort spielen“, berichtete sie später. Im Alter von zwölf Jahren spielte Bartók bereits öffentlich Violinsonaten von Beethoven und Mendelssohns Violinkonzert.

Nachdem die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland die Macht übernommen hatten, weigerte er sich, noch in Deutschland aufzutreten. 1937 verbot er deutschen und italienischen Rundfunksendern, seine Werke weiterhin zu senden. Als 1938 die Regierung Ungarns auf Wunsch des NS-Staats „Judengesetze“ erließ, unterzeichneten 61 ungarische Prominente – darunter Béla Bartók und Zoltán Kodály – medienwirksam, aber erfolglos einen Protest dagegen.

Durch seine liberalen Ansichten bekam Bartók große Schwierigkeiten mit dem rechtsradikalen Ungarn. Die Angst, dass sein Heimatland eine deutsche Kolonie werden könnte, trieb ihn „weg aus der Nachbarschaft dieses verpesteten Landes“ und veranlasste ihn 1940 zu einem „Sprung ins Ungewisse aus dem gewussten Unerträglichen“. Im August 1939, kurz vor Kriegsausbruch, hielt er sich im schweizerischen Saanen als Gast beim Dirigenten und Mäzen Paul Sacher auf, in dessen Auftrag er sein letztes Streichquartett und ein Divertimento für Streichorchester schrieb. Seine Manuskripte hatte er bereits in die USA geschickt, 1940 landete er mit seiner zweiten Frau Ditta Pásztory auch dort. Er bekam nur noch wenige Aufträge, auch weil er weitgehend unbekannt war. 1945 starb er nach längerer Krankheit an Leukämie. Zunächst in New York begraben, wurde sein Leichnam 1988 überstellt und im Rahmen eines Staatsbegräbnisses auf dem Farkasréti-Friedhof in Budapest beigesetzt.

Im Jahr 1911 hatte Bartók seine einzige Oper Herzog Blaubarts Burg, die er seiner ersten Frau Márta Ziegler widmete, geschrieben. 111 Jahre später wurde die Oper in einer neuen Inszenierung von Romeo Castellucci bei den Salzburger Festspielen dieses Jahres zu einem großem Publikumserfolg.

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