Asaf Galay wollte eigentlich Schriftsteller und nicht Filmemacher werden. „Das ging deshalb nicht, weil gute Autoren zumeist eine schlimme Jugend mit traumatischen Erlebnissen hatten. Aber ich verbrachte eine wunderschöne Kindheit“, lacht der in Chicago geborene 47-jährige Israeli. Als erfolgreicher Schöpfer von Dokumentarfilmen besuchte er Wien, um der Vorstellung seines Films im Metro Kinokulturhaus über den US-Schriftsteller Saul Bellow beizuwohnen, dessen 110. Geburtstag und 20. Todestag sich heuer jähren.
„Mein Vater hat in Chicago Komposition studiert, in diese Zeit fiel meine Geburt. Aber bereits als ich ein Jahr alt war, kehrten wir nach Tel Aviv zurück“, erzählt Galay, der sich später für das Studium der Literatur entschied, obwohl seine Familie musikalisch gepolt ist: Der Vater ist Pianist, die Schwester Violoncellistin. „Ich war dann sehr glücklich mit meinem Literaturstudium, denn für den Film ist das eigentlich wichtiger, als wenn man Film als Fach wählt. Aus der Literatur erfährt man, wie man eine Geschichte erzählt. Und da ich gerne schreibe, mache ich einfach Filme, die etwas erzählen.“
Asaf Galay hat nach ausführlichen Recherchen zahlreiche preisgekrönte Dokumentarfilme für das israelische Fernsehen gedreht, unter anderem eine Serie über den jüdischen Humor (In the Jewish Land, 2005), eine über die Geschichte von Tel Aviv-Jaffa sowie einen Spielfilm über den Nationaldichter Israels Nathan Alterman (Sentimentality Allowed, 2012), dessen Vorführung in allen Schulen Israels Pflicht ist. Der Popmusik nicht abgeneigt, porträtierte Asaf 2018 auch die beliebte schwedische Band Army of Lovers.
Zu einem großen Erfolg in den USA und bei Festivals weltweit wurde der Dokumentarfilm über den jiddisch schreibenden Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer (1902–1991) mit dem Titel The Muses of Bashevis Singer. Viele Bücher und Biografien wurden über das Leben und Schaffen Singers verfasst. Asaf Galay gelang es, ein bisher nicht bekanntes Kapitel zu entdecken: Mitte der 1960er-Jahre legte sich Singer einen Übersetzerinnen-Pool von vierzig Frauen an, die ihm bei der Verbreitung seiner Werke helfen sollten. Er wählte sie sorgsam aus, die Inspiration; die er dadurch erfuhr, nahm viele Formen an: Sehr oft vermischte er romantische Affären mit beruflichen Aspirationen. Der israelische Filmemacher konnte noch neun aus diesem Harem für den Film befragen.
„Angst zerstört die Größenordnung und Leiden
lässt uns die Perspektive verlieren.“
Saul Bellow
Mit Jiddisch konnte sich Asaf auch in Wien gut durchschlagen. „Ein wenig davon hatte ich noch von zuhause im Ohr, denn die ‚Goldwassers‘ (später Galay) stammen aus der Nähe von Łódź“, erzählt er.
Aber er hört diese Sprache auch ab und zu von seiner Frau: Hannah Pollin-Galay ist a. o. Literaturprofessorin an der Tel Aviv University und leitet dort das Jona Goldrich Institute for Yiddish Language, Literature and Culture. Im Rahmen einer Simon Wiesenthal Lecture im gleichnamigen Wiener Institut hielt sie einen hochinteressanten Vortrag über „Holocaust- Jiddisch als Fenster zu einem Gefangenenleben“ (Holocaust- Yiddish as a Window onto Prisoner Life). Stephen Naron, dem Gastwissenschaftler am Wiesenthal Institut, der an der Yale University das Video- Archiv für Holocaust-Testimonies leitet, war der Besuch dieses Power-Paares zu danken.

Galay hatte mit einem jüdischen Nobelpreisträger nicht genug. Der in Wien gezeigte Dokumentarfilm über das Leben und Werk des großartigen sozialkritischen Schriftstellers Saul Bellow (1915–2005) ist ein lebhaft- humorvoller Querschnitt entlang seines Werdegangs, privat und literarisch.
Galay konnte so prominente Zeitgenossen wie Salman Rushdie und Philip Roth, aber auch zwei seiner Söhne, einen Neffen und Exfrauen, deren Gesamtzahl fünf war, vor seine Kamera lotsen. Überraschend offen und ungeschönt spricht die Familie über seinen Charme, aber auch über unerfreuliche Züge seines Charakters. Originaleinspielungen von Bellows Stimme, einige Interviewausschnitte und erhaltene Schwarzweißaufnahmen aus Chicago und New York tragen zur historischen Stimmung des Films bei, ohne dass dieser belehrend wird.
Warum hat Galay nach I. B. Singer gerade Saul Bellow als nächstes Motiv gewählt? „Ich liebe ihn, denn seine Bücher waren mein Reiseführer in die amerikanische Gesellschaft. Wenn man in Israel aufwächst, weiß man zwar einiges über die Popmusik in den USA, aber man versteht damit noch nicht die jüdische Erfahrung der Diaspora.“ Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden jüdischen Literaturnobelpreisträgern Bellow (1976) und Singer (1978)? „Ja, sogar eine amüsante: Der erste Übersetzer, der Bashevis Singer bekannt machte, hieß Saul Bellow, der gut Jiddisch konnte. Als Singer merkte, dass die Leser nicht die Geschichte, sondern ihre englische Fassung wunderbar fanden, war Schluss damit: ‚Ich arbeite mit keinem Mann mehr‘, erregte sich Singer – fortan übersetzte er seinen weiblichen Musen vom Jiddischen in ‚sein‘ Englisch.“
Wer war nun Saul Bellow? Er wurde am 10. Juni 1915 als Solomon Bellows in Lachine, einem Vorort von Montréal, als Sohn einer Familie geboren, die erst zwei Jahre zuvor aus St. Petersburg geflohen war. Die ersten neun Lebensjahre verbrachte Bellow in einem vielsprachigen Armenviertel, in dem zahlreiche jüdische Einwanderer vornehmlich aus Ost- und Südeuropa lebten. Die ersten Sprachen, die er erlernte, waren Hebräisch und Jiddisch, das er auch zu Hause sprach, wo er orthodox erzogen wurde. Später kamen Englisch und Französisch dazu. 1924 zog die Familie nach Chicago, das zu seiner Heimat und zum Schauplatz vieler seiner Werke wurde. Er selbst und sein literarisches Schaffen wurden zeitlebens durch das östlich-jüdisch geprägte Großstadtmilieu beeinflusst.
Ich vergleiche den Spielfilm immer mit Fußball;
man braucht so einen großen Aufwand. Ein Dokumentarfilm
ist dagegen wie Ping-Pong, kleiner, aber auch viel intimer.“
Asaf Galay
Bellow studierte Anthropologie und Soziologie, arbeitete als Journalist und Universitätsprofessor. Kurzzeitig war er auch Mitarbeiter der Encyclopædia Britannica. Er gehörte zudem dem internationalen Salzburg Seminar an. Bereits mit seinem frühen existenzialistischen Tagebuchroman Dangling Man erregte er 1944 Aufmerksamkeit. Hier kreist das Geschehen um einen jungen Mann, der seine Einberufung erwartet. In seinen Frühwerken beschäftigt sich der Schriftsteller stark mit der Vereinsamung des Individuums in der auf Profit fixierten US-Konsumwelt.
Der literarische Durchbruch gelang Bellow 1953 mit dem Schelmen-Roman The Adventures of Augie March, dessen lebenshungriger Held sich in seinem Versuch, unterschiedliche Lebensformen auszuprobieren, deutlich von den passiven, zweifelnden oder verzweifelnden Figuren aus den früheren Werken abhebt. In der gleichen Dekade veröffentlichte Bellow mit Seize the Day (1956) und Henderson the Rain King (1959) zwei weitere Romane, die ihn zunehmend auch international bekannt machten.
Zu einem großen kommerziellen Erfolg wurde Bellows 1964 erschienener tragikomischer Roman Herzog, den viele Kritiker für sein künstlerisch gelungenstes und anspruchsvollstes Werk halten. Darin setzt er sich mit Philosophen wie Spinoza, Nietzsche und Heidegger auseinander und nimmt einen sowohl europäischen wie amerikanischen Blickpunkt ein, verbindet so gewissermaßen zwei Identitäten. Mit Herzog löste Bellow weltweit ein starkes Echo aus und gewann auch die Leserschaft in Deutschland. Die Titelfigur des Werks, Moses Herzog, ist ein angesehener jüdischer Intellektueller und Universitätsprofessor, der nach dem Scheitern seiner Ehe und einer tiefen Enttäuschung über seinen besten Freund vor einem psychischen Zusammenbruch steht.

Isaac Bashevis Singer mit seiner Frau Alma. Der Autor stand im Mittelpunkt von Galays erstem internationalen Doku-Erfolg The Muses of Bashevis Singer.
In den späteren Jahren des Autors werden die Protagonisten in den Werken zu aktiven, ihr Los meisternden und auf ihre Umwelt Einfluss nehmenden Gestalten. Bellow habe gemeinsam mit William Faulkner „das Rückgrat der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts“ gebildet, so der Autor Philip Roth. Bellow erhielt 1976 den Nobelpreis für Literatur „für das menschliche Verständnis und die subtile Kulturanalyse, die in seinem Werk vereint sind“. Kurz zuvor wurde er für den Roman Humboldts Vermächtnis mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Bellow starb vor 20 Jahren, am 5. April 2005, in Brookline, Massachusetts. Er war fünf Mal verheiratet und hinterließ drei Söhne und eine Tochter.
Asaf Galays Porträt The Adventures of Saul Bellow wurde im öffentlichen PBS-Kanal in den USA ausgestrahlt und als „American Masters“ in die Liste der meistempfohlenen Dokumentarfilme aufgenommen.
Seinen letzten großen Erfolg feierte der Regisseur Ende 2024 mit seinem Film Cartooning America über die Fleischer Brothers, „die Schöpfer und Pioniere des Zeichentrickfilms. Sie haben Betty-Boop-, Popeyeund Superman-Cartoons geschaffen“, erzählt er. „Es geht um den Aufstieg und Fall dieser jüdischen Brüder, die lange vor Walt Disney den Animationsfilm erschaffen haben. Ich würde sogar sagen, dass Walt Disney einiges von ihnen abgeschaut hat.“
Obwohl Asaf Galay als zweifacher Familienvater vom Dokumentarfilm allein nicht leben kann, möchte er keine Spielfilme machen. „Ich vergleiche den Spielfilm immer mit Fußball; man braucht so einen großen Aufwand. Ein Dokumentarfilm ist dagegen wie Ping-Pong, kleiner, aber auch viel intimer.“ Sein zweites Standbein hat Asaf im ANU – Museum of the Jewish People in Tel Aviv, wo er als leitender Kurator die Wechselausstellungen betreut. „Am 4. Juni präsentiere ich eine neue Ausstellung, die auch einen Wien-Bezug hat. Die Porträts von 20 jüdischen Fotopionieren aus Europa, darunter Wienerinnen wie Trude Fleischmann und Edith Tudor-Hart, werden 20 zeitgenössischen Fotografen gegenübergestellt.“ Wie lang läuft diese Ausstellung, damit Sommer-Besucher aus Österreich sie auch sehen können? „Meine letzte Ausstellung über jüdischen Humor lief sieben Jahre … schauen wir mal!“