Bibi und seine Brüder

Joshua Cohens Die Netanjahus. Der Roman oder vielmehr Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie ist eine amüsante und gelehrte Farce über jüdische Identitäten, die Geschichte des Zionismus bis zur Staatsgründung und nicht zuletzt eine fantastische Satire über eine enthemmte Mischpoche.

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Joshua Cohen, Jeschiwa-Schüler mit einschlägigen Kenntnissen, hat mit seinem neuen Roman ein schillernd es Hybrid vorgelegt. © Uwe Zucchi / dpa Picture Alliance / picturedesk.com

Im dichtesten Schneefall purzeln sie aus einem alten, zerbeulten Ford und brechen unaufhaltsam wie eine Lawine in den kultivierten Akademikerhaushalt der Blums ein. Fünf an der Zahl, die Netanjahus, die ganze Mischpoche. Erwartet wurde nur einer, Ben-Zion Netanjahu, Familienvater und Historiker, der sich für eine Professorenstelle am kleinen Corbin College in Upstate New York beworben hat. Als einzigem Juden des Lehrkörpers ist Ruben Blum vom Dekan die zweifelhafte und ungewollte Ehre zuteil geworden, seinen israelischen Kollegen als Gastgeber im Vorstellungsritual zu begleiten und über dessen Berufung in einer Kommission mitzubestimmen. Noch nach Jahrzehnten und längst pensioniert, kann sich Blum rückblickend an jedes Detail dieser katastrophalen Episode im kalten Januar 1960 erinnern.

Slapstick-Komik. Mehr als die Hälfte des Romans sind beim ersten Auftritt Dr. Ben-Zion Netanjahus bereits vergangen, und nur knapp vier Seiten danach wird Bibi, der mittlere, zehnjährige Sohn und nunmehrige Premierminister Israels, keck den nackten Penis seines jüngeren Bruders Iddo befingern. Den hat Mutter Zila, um ihm die Pampers zu wechseln, die der Siebenjährige „eigentlich“ nicht mehr braucht, kurzerhand über den Serviertisch der Blums geworfen. In der Nacht desselben endlosen Tages wird der Älteste, der frühreife Klugscheißer Jonathan, gemeinsam mit Bibi nackt aus dem Haus in den Schneesturm flüchten.

Slapstick-Szenen und grelle Situationskomik kennzeichnen als Höhepunkt einer bizarren Satire im Zusammentreffen der beiden Familien Blum und Netanjahu den Clash zweier Kulturen, der sich in den extrem verschiedenen Zugängen zum Judentum auf vorerst ruhigerem, akademischem Niveau fortsetzt.

Ruben Yudl Blum repräsentiert als Sohn eingewanderter Ostjuden und Schwiegersohn deutschstämmiger Juden die erste Generation weitgehend assimilierter, gebildeter amerikanischer Juden, die dem Zionismus und dem daraus entstandenen neuen jüdischen Staat distanzierte Sympathie entgegenbringen. Ben-Zion Netanjahu, dessen Vater als zionistisch beseelter „Wanderredner und Agitator“ in Galizien noch Mileikowski hieß, verachtet hingegen als fanatischer Anhänger des radikalmilitanten Widerstandskämpfers Zeev Jabotinsky vor allem die amerikanische Diaspora. „Das ist, was ich von amerikanischen Juden halte – nichts.“ Was ihn aber nicht daran hindert, sich von Israel aus für Gastprofessuren an US-Universitäten zu bewerben, denen er dort ebenso mit einer gehörigen Portion akademischer Chuzpe begegnet.

Als Spezialist für das iberische Judentum in der Zeit der spanischen Inquisition schwankt Ben-Zions Bild in der Geschichte. Kann man googlen, lässt sich aber auch im Roman an Hand von zwei diametral entgegengesetzten Empfehlungsschreiben, die seinem Besuch vorausgehen, nachlesen. Als er schließlich mit 102 Jahren stirbt, hat der Patriarch in der Regentschaft seines Sohnes Bibi noch die Verwirklichung seiner wohl kühnsten zionistischen Träume erleben dürfen.

 

„Das ist, was ich von amerikanischen Juden halte – nichts.“
Ben-Zion Netanjahu im Roman

 

Doch vorerst, im Winter 1960, sieht es eher nach einer persönlichen Niederlage aus, nachdem Ben-Zion in der kalten College-Halle seine streitbaren und umstrittenen historischen Thesen in einer langen Vorlesung vor weitgehend ignorantem, christlichem Publikum ausbreitet. Ob die vielleicht latent antisemitische Kommission letztendlich für seine Aufnahme stimmt, darf angesichts des dramatischen Showdowns bezweifelt werden.

Joshua Cohen: Die Netanjahus. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Schöffling & Co. 2023, 288 S., € 25,70

Die Quellen. Als schillernder Hybrid reiht sich Joshua Cohens jüngster Wurf einerseits in die Tradition des Campus-Romans, andererseits in die Tradition jüdischer Familiengeschichten, in der von Philip Roth bis hin zu Jonathan Safran Foer besonderen amerikanischen Variante würdig ein. Ebenso reizt er das weite Spektrum von Witz, Satire und tieferer Bedeutung im abrupten Wechsel von ernstzunehmenden Kontroversen um jüdische Identitäten, jüdische Historie vom Mittelalter bis zur Staatsgründung 1948 bis zu köstlich absurdkomischen und tragikomischen Szenen aus. Das betrifft neben den Netanjahus auch die Blums, deren Tochter Judy nur durch einen brutal selbstverletzenden Unfall zur ersehnten neuen Nase gelangt.

Der „Nachname, der noch eine Generation vor seinem Verruf stand“, wie es bei dessen erster Erwähnung heißt, ist, betrachtet man den gesamten vielschichtigen Roman, als Titel ein kleiner Marketing-Etikettenschwindel. Ob man sich als zeitgenössischer Autor des Namens „einer sehr berühmten Familie“, großzügig fiktionalisiert, einfach bedienen darf, sei dahingestellt. Reaktionen der lebenden Mitglieder auf dieses mit dem Pulitzer-Preis 2022 und dem National Jewish Book Award ausgezeichneten Werks sind nicht bekannt. Iddo Netanjahu, „der drittgeborene Kümmerling, der Jude der Familie“, der im Trio infernal der Brüder die peinlichste Rolle spielt, verweigerte sich jedenfalls Cohens Versuchen einer Kontaktaufnahme, wie dieser im „Abspann“ schreibt. Ebendort eröffnet er auch, dass der höchst angesehene Literaturkritiker Harold Bloom, sein Vorbild für Ruben Blum, ihm einmal vom „Riesenschlamassel“ erzählte, das die Familie „eines obskuren israelischen Historikers namens Ben-Zion Netanjahu“ bei ihrem von ihm, Bloom, koordinierten Vorstellungsgespräch angerichtet hätte.

Vieler anderer seriöser Quellen muss sich Joshua Cohen für seine fundierten seitenlangen Diskurse über weitschweifende historische, theologische und biblische Probleme bedient haben. Dass er als religiös gebildeter Jeschiwa-Schüler selbst über einschlägige Kenntnisse und wohl auch familiäre Erfahrungen verfügt, kann man in und zwischen den Zeilen herauslesen. Dem Vergnügen an seiner brillanten und amüsanten, sprachverspielten und geistreichen Tour de Force tut dieser gelehrte Hintergrund keinen Abbruch. Es darf gelacht werden, und das jedenfalls nicht unter Niveau.

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