Ein Besuch im Verlag Bahoe Books in der Wiener Innenstadt. Hier stapeln sich die verschiedensten Graphic Novels, der Großteil historischen und/oder politischen Inhalts. Comic gilt als Überbegriff für gezeichnete Geschichten, also das Micky-Maus-Heft genauso wie für den täglichen Comicstrip in einer Zeitung. Die Graphic Novel ist eine spezielle Form des Comics, literarisch und ästhetisch anspruchsvoller. Bahoe-Verleger Leo Gürtler ist selbst Historiker, seine Masterarbeit hatte das Ghetto von Lublin in den Jahren 1941–42 zum Thema. Das Gespräch findet – zufällig – am 27. Jänner statt, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, vor 80 Jahren wurde das KZ Auschwitz befreit. Leo Gürtler legt zwei Bücher auf den Tisch, die die Bandbreite der Möglichkeiten gezeichneter Geschichten zeigen: „Leben und Sterben in Auschwitz“, das Tod und Leid auf brutal nüchterne Weise zeigt, und „Die Bibliothekarin von Auschwitz“, das die Lebensgeschichte eines jungen Mädchens erzählt, sensibel und auch für jüngere Menschen geeignet.
Neben gezeichneten Romanen hat Bahoe Books auch immer wieder Sachbücher im Programm. Aktuell eben jenes mit dem Titel „NS-Geschichte im Comic“, herausgegeben von Maria Keplinger und Angela Koch von der Kunstuniversität Linz sowie Simone Loistl und Florian Schwanninger vom Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim in Oberösterreich. Basis für die Publikation war eine Tagung zum gleichen Thema in Linz im Mai 2023. An zwei Tagen sprachen Expertinnen und Experten über zahlreiche Aspekte von Graphic Novels, die sich mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen. Diese Vorträge wurden nun für den Sammelband aufbereitet, auf rund 300 Seiten finden sich hochinteressante Beiträge von 16 Autorinnen und Autoren.Zwischen den Kapiteln wurden Comicseiten eingefügt, gezeichnet vom Illustrator Nicolas Bleck. Eine schöne Idee. Die vielen Bildbeispiele aus besprochenen Graphic Novels sind jedoch etwas klein abgedruckt, die Texte in den Sprechblasen kaum zu lesen. Hätte man alles größer gemacht, hätte das den Rahmen gesprengt, meint Leo Gürtler. Die Beispiele sollen vor allem den graphischen Stil, die Aufteilung der Bilder und die Art der Narration veranschaulichen. Neugierig machen sie trotzdem, und es sei ja kein Schaden, wenn die vorgestellten Bücher dann auch gekauft würden, so der Verleger.
„Die größte Herausforderung
bei der Arbeit mit Comics in Gedenkstätten ist und bleibt die notwendige Medienkompetenz, die den PädagogInnen nachhaltig vermittelt werden muss …“
Christine Gundermann
Gezeichnete Geschichten vereinen Aspekte aus Literatur und bildender Kunst und bieten die Möglichkeit, Undarstellbares darzustellen. Im Spalt zwischen den Panels – den Einzelbildern – bleibt Raum für Zeitsprünge, traumatische Ereignisse und eigene Interpretationen. Nicht alles wird gezeigt, vieles wird ausgelassen. Die Künstlerinnen und Künstler arbeiten mit zahlreichen Stilmitteln, ihre Geschichten wühlen auf oder stoßen ab. Was ist den Leserinnen und Lesern zuzumuten? Leo Gürtler von Bahoe Books ist davon überzeugt, dass „der kollektive Gewaltrausch“ der NS-Zeit bearbeitet werden müsse, allerdings immer streng quellenbasiert.

Dass nach neuen Formen der Vermittlung gesucht werden muss, wissen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Gedenkstätten sowie Lehrerinnen und Lehrer schon lange. Die Menschen, die ihre Erfahrungen und Erinnerungen noch persönlich weitergeben können, sind bereits sehr alt und werden irgendwann verstummen. Dazu kommen – in Zeiten erstarkender rechtsextremer Parteien in ganz Europa – alarmierende Umfragedaten zum Wissen über die Verbrechen der Nationalsozialisten. Laut der Jewish Claims Conference gibt es krasse Bildungslücken: In Österreich hat jeder siebente junge Mensch zwischen 18 und 25 Jahren noch nie etwas von den Begriffen Holocaust oder Shoah gehört. Christine Gundermann lehrt Public History an der Universität Köln, in ihrem Artikel im hier vorgestellten Sammelband schreibt sie über den Einsatz von Graphic Novels und Comics:
Die größte Herausforderung bei der Arbeit mit Comics in Gedenkstätten ist und bleibt die notwendige Medienkompetenz, die den PädagogInnen nachhaltig vermittelt werden muss, und insbesondere bei den Lehrenden nicht vorausgesetzt werden kann: Wien man einen Comic „richtig liest“, wie ein Comic in Bild […], Text […] und Symbol […] funktioniert, wie Zeitverläufe entstehen, wie die einzelnen Elemente des Comics benannt und diese dementsprechend beschrieben werden können, wie Emotionalisierung im Comic funktioniert.

Simone Loistl, Florian Schwanninger (Hg.): NS-Geschichte im Comic.
Bahoe Books 300 S., € 26
Es geht also um den richtigen Umgang mit diesen Geschichten, nicht jedes Buch ist für jeden geeignet, manche sind leicht zu lesen, an andere muss man sich vorsichtig herantasten. Harte Kost ist zum Beispiel das Buch „Insekten“ von Leopold Maurer und Regina Hofer. Die beiden erzählen die Geschichte von Leopold Maurers Großvater, einem ehemaligen Nationalsozialisten, einem Unbelehrbaren ohne Reue. Es ist übrigens eine der wenigen Graphic Novels, die eine Tätergeschichte erzählen. Leopold Maurer zeichnet Szenen aus seiner Kindheit und Jugend, an die er sich erinnert: Gespräche mit dem Großvater am Küchentisch, beim Angeln, beim gemeinsamen Rauchen. Schnell hingeworfene Skizzen, die titelgebenden Insekten – über die die Germanistin Gudrun Heidemann im vorliegenden Sammelband einen Beitrag geschrieben hat – tauchen immer wieder auf. Im Gegensatz dazu sind Regina Hofers Zeichnungen abstrakt, bildfüllende Schriftzüge verstören und faszinieren gleichermaßen.

Neben vielen österreichischen Publikationen geht es in den Beiträgen aber auch um internationale Graphic Novels: Zu erwähnen ist etwa das Projekt „Aber ich lebe“ über drei Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, dem die Frankfurter Forscherin Véronique Sina ihren Beitrag widmet. Oder die Lebensgeschichte des aus der Serie „Raumschiff Enterprise“ in der Rolle des Mister Sulu bekannten Schauspielers George Takei. Er war als Kind im Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie in Lagern für japanischstämmige Amerikanerinnen und Amerikaner interniert. Die Amerikanistin Marie Dücker hat über ihn geforscht. Es geht aber auch um Fehler, die sich in Graphic Novels einschleichen, darüber berichtet der Comicforscher Ralf Palandt. Und natürlich taucht in vielen Beiträgen immer wieder der Klassiker „Maus“ von Art Spiegelman auf. In diesem Comic aus den 1980er-Jahren erzählt der Autor die Geschichte seines Vaters, eines Auschwitz-Überlebenden. Drastisch, ehrlich und mit jüdischem Witz. Gezeichnet sind die jüdischen Menschen mit Mäuseköpfen, die Nationalsozialisten mit Katzenköpfen. Als das Buch erschien, sorgte das für hitzige Diskussionen, es sei rassistisch, wurde dem Autor vorgeworfen. Heute darf „Maus“ in keinem Bücherregal zur NS-Aufarbeitung fehlen.
Eine der Herausgeberinnen des Buches „NS-Geschichte im Comic“ ist Simone Loistl. Sie arbeitet im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim in Oberösterreich, wo zwischen 1940 und 1944 rund 30.000 kranke, invalide oder aus anderen Gründen ausgewählte KZ-Häftlinge in der Gaskammer ermordet wurden. Heute wird im Museum in den oberen Stockwerken die Geschichte des Hauses erzählt. Im Erdgeschoß kann in aller Stille jener Weg nachgegangen werden, den die zum Tode verurteilten Menschen nehmen mussten. Vom Vorplatz, wo die Menschen aus den Bussen stiegen, durch die Räume, in denen ihnen ihre Habseligkeiten abgenommen wurden. Hier liegen Döschen, Brillen, Heiligenfiguren. In der Gaskammer wird der Boden nicht betreten, eine Brücke führt durch diesen Raum. Die Stimmung ist beklemmend – nicht nur wegen der Enge der Räume. Grauen und Tod sind allgegenwärtig. Simone Loistl fing eines Tages an, Bücher zu sammeln, in denen Hartheim in Wort und Bild vorkommt. Interessanterweise gibt es in Spanien – woher zahlreiche Häftlinge kamen, die in Hartheim getötet wurden – eine äußerst aktive Erinnerungskultur. Im Buch „Vier Cordobesen in der Hölle“, erschienen im Jahr 2024, kommt das Schloss Hartheim umfangreich vor, schreibt Simone Loistl in ihrem Buchbeitrag:
Eineinhalb Seiten beziehungsweise acht Panels spannen den Bogen von der Ankunft der Häftlinge in einem Bus bis zu ihrem Tod. Der Verein „Stolpersteine Cordoba“ hatte sich kurz vor Finalisierung der Zeichnungen noch wegen Bildmaterials an die Dokumentationsstelle Hartheim gewandt. Durch den Austausch über die historischen Abläufe in der Tötungsanstalt Hartheim wurde beschlossen, diesem mehr Raum zu geben.
Der Sammelband „NS-Geschichte im Comic“ ist – gerade in politisch aufwühlenden Zeiten – eine wichtige Publikation, die den Wert der Kunstform der Graphic Novel unterstreicht und die gezeichneten Romane, die sich mit der Shoah beschäftigen, aus ihrer Nische hervorholt. Verleger Leo Gürtler von Bahoe Books nennt als Beispiel das Buch „Der Fotograf von Mauthausen“, das bereits in vierter Auflage vorliegt und vor allem in der Gedenkstätte selbst gut verkauft wird. Es gehe darum, alte Lesegewohnheiten aufzubrechen und digitalen Medien entgegenzuwirken. Was die Aufarbeitung der NS-Zeit in Österreich generell betrifft, meint Leo Gürtler, es sei Zeit, „endlich ernsthaft damit zu beginnen“, die Erinnerungsdiskurse in Österreich seien bis heute ein „unendliches Scheitern“.
Nach der Lektüre des Buches „NS-Geschichte im Comic“ zeigt sich deutlich, dass der Einsatz von Graphic Novels in der Vermittlung und im Unterricht überaus sinnvoll ist. Gezeichnete Romane sind ein adäquates Medium, um (jungen) Erwachsenen einen neuen Zugang zu dieser dunklen und schmerzvollen Epoche in der Zeitgeschichte zu bieten.

Uli Jürgens ist Deutschlehrerin an einer AHS in Wien, sie arbeitet nebenbei als freie Journalistin für Ö1 und WINA.