Bis vor Kurzem hatten die sechzig Porträts noch mitten in Jerusalem gehangen, am Safra-Platz, neben der Stadtverwaltung. Die Bilder zeigen Überlebende in ihren heutigen Wohnzimmern, mit ihren Karrieren und Familien, am Küchentisch, vor Bücheregalen oder Glasschränken, mit ihren Haustieren. Keine Fotos aus dem Familienalbum, sondern Profiaufnahmen. Es war eine Ausstellung im Freien, an einem Ort, an dem noch nie Kunstwerke gezeigt worden waren. Begonnen hatte sie im vorigen April am israelischen Schoah-Gedenktag, und sie hätte nur ein paar Wochen dauern sollen. Dann aber wurde sie vier Mal verlängert. Das Interesse war groß. Zehntausende sind auf dem Weg ins Rathaus hier verharrt, haben sich die Fotos und ihre Geschichten angeschaut. Die meisten Aufnahmen sind in Farbe, aber es gibt auch Schwarzweißbilder. Manche sind bis zu zwei Meter groß. Sie alle könnten unterschiedlicher nicht sein. Zu jedem Foto gehört ein Text, der jeweils knapp die Biografie der oder des Porträtierten erzählt, auf Hebräisch, Englisch und Arabisch. Es sind Einblicke in Lebensläufe, geprägt von Flucht, Verlust, Schrecken und unsäglichem Leid, aber auch von Resilienz und Lebensenergie. Die so von internationalen Topfotografen Porträtierten sind Teil des Lonka-Projekts, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Erinnerung zu bewahren. Initiator ist ein Fotografenpaar: der Amerikaner Jim Hollender und die Israelin Rina Castelnuovo. Beide waren beruflich Jahrzehnte lang vor allem im Takt des Nahostkonflikts unterwegs. Sie arbeitete für die New York Times, er für große Nachrichtenagenturen. Sie wohnen nicht weit weg von Jerusalem und sind gerade zum zweiten Mal Großeltern geworden. 2018 saßen sie vor dem Fernseher und konnten einen Bericht über die Ignoranz französischer Jugendlicher in Hinblick auf die Schoah nicht fassen. Wie könne das sein, fragte sich Jim, in einem Land, das einst selbst unter Nazi-Besatzung war? Bilder, dachte Rina, könnten hier einen Weg zu den jüngeren Generationen bahnen. Rinas Mutter, Eleonore „Lonka“ Nass, die aus Krakau stammte und fünf Lager überlebt hatte, war wenige Monate zuvor gestorben.
Einblicke in Lebensläufe, geprägt von Flucht,
Verlust, Schrecken und unsäglichem Leid, aber
auch von Resilienz und Lebensenergie.
Ihr Vater war mit seinen Eltern in Polen versteckt gewesen, bevor er sich den Partisanen anschloss. Zuhause wurde nicht über die Vergangenheit geredet. Sie sei ihr ganzes Leben von diesen Erinnerungen davongelaufen, erzählt Rina, nach dem Tod ihrer Mutter aber fühlte sie, dass die Verantwortung für die Vergangenheit jetzt bei ihr und ihrer Schwester liege. Jims Vater kämpfte als amerikanischer Soldat im Zweiten Weltkrieg. Erst spät erfuhr der Sohn, dass er in Italien schwer verwundet worden war. Als Jim 1983 nach Israel kam, um mit der Kamera über den Libanonkrieg zu berichten, sah er auf den Straßen von Tel Aviv zum ersten Mal Menschen mit einer Nummer auf dem Arm. Er erinnert sich daran, wie sie dort im Café saßen und leise auf Polnisch plauderten. Die Idee, sich ihnen und ihren Geschichten zu widmen, hatte er schon vor dreißig Jahren. Doch es sollte dauern, bis er die Zeit dazu fand. „Ich wünschte, ich hätte das Projekt schon vor Jahren begonnen, um diese Menschen länger zu begleiten“, sagt er heute.
Der Auftrag lautete, Aufnahmen zu machen,
die den Lebensgeist der Überlebenden darstellen
und mehr als nur ihre Gesichter zeigen.
Das Paar, gut vernetzt in internationalen Fotografenkreisen, wandte sich an ihre Kollegen und Kolleginnen in aller Welt und bat sie, einen Schoah-Überlebenden zu treffen und zu porträtieren. „Alle haben den gleichen Auftrag bekommen, aber ohne irgendeine genauere Anweisung, wie sie das tun sollten“, erzählt Jim. „Jede und jeder konnte vorgehen, wie er oder sie wollte. Sie konnten mit einer riesigen Kamera arbeiten oder nur mit dem Handy. Es sollten aber Aufnahmen sein, die den Lebensgeist der Überlebenden darstellen und mehr als nur das Gesicht zeigen. Und das ist, was die Ausstellung so faszinierend macht.“ Mitgemacht haben sofort alle. Es habe niemanden gegeben, der nicht gesagt hätte, „es ist mit eine Ehre.“ Inzwischen umfasst das Lonka Project 400 Bilder, aufgenommen von 300 Fotograf:innen. Die Hälfte der Porträtierten sind Israelis, die anderen stammen aus aller Welt, darunter auch aus Österreich. Auf den vielen Bildern festgehalten sind etwa die 101-jährige Turnerin Àgnes Keleti, Anne Franks Stiefschwester Eva Schloss, einer der jüngsten Auschwitz-Überlebenden, Ryszard Horowitz, und Moshe Zion, der einst mit den „TeheranKindern“ nach Palästina gekommen war und sich zuletzt um Hilfe für kranke Kinder im Gazastreifen gekümmert hat, bis er sich vor Kurzem das Leben nahm. Er gehört zu den 25 Porträtierten, die seit Beginn des Projekts gestorben sind. In Jerusalem hat auch noch ein anderes Bild viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen – Leila Jabarin ist da mit einem muslimischen Kopftuch zu sehen. Sie wurde 1942 als Helen Brashatsky in Auschwitz geboren, wohin ihre schwangere Mutter aus Jugoslawien deportiert worden war. Das Baby überlebte mit seiner Familie durch den Schutz eines christlichen Arztes. In Israel heiratete sie später einen Araber und konvertierte zum Islam. Erst spät in ihrem Leben schrieb sie sich in ein Programm für Schoah-Überlebende ein und rang sich danach durch, ihren acht Kindern und dreißig Enkelkindern erstmals von ihrer Vergangenheit zu erzählten. Die Ausstellung ist mittlerweile in das Haus der Ghettokämpfer in Norden Israels weitergezogen. 48 Bilder und ihre Geschichten sollen dort vor allem eine Brücke zu den jungen Israelis schlagen. Der Direktor, Yigal Cohen, spricht von Bildern des Triumphes, die von einer unglaublichen Lebenskraft zeugen. Vor einem Jahr hatte der damalige Präsident Rivlin seine Residenz in Jerusalem dafür geöffnet – und zuvor eine Zeitlang auch die UNO in New York. Rina weiß nicht, ob ihrer Mutter, einer der bescheidensten Menschen überhaupt, wie sie erzählt, das nach ihr benannte Projekt gefallen hätte. Aber aus ihrer Sicht ist es das, was sie tun kann.