Biografien: Neues aus der Vergangenheit

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Sie war eine der ersten Doktorinnen der Universität Wien. Er war der letzte jiddische Dichter der Bukowina. Der dritte schließlich ein ehemals höchst prominenter Wiener Kulturpublizist. Ihre Lebenswelten reichen weit ins vorige Jahrhundert hinein, sie selbst sind heute nahezu oder ganz vergessen. Zwei Autobiografien und eine Biografie beleuchten jetzt diese völlig verschiedenen jüdischen Lebensläufe. Gut geschrieben, lesbar und lesenswert sind alle drei. Von Anita Pollak 

Der letzte jiddische Mohikaner Josef Burg und Czernowitz 

Ich bin der beste Schnorrer vor dem Herrn“, soll er selbst über sich gesagt haben. Am Ende seines langen Lebens war Josef Burg auf Zuwendungen von Freunden angewiesen, auf Honorare bei seinen Lesereisen, die ihn noch im hohen Alter durch Deutschland und Österreich führten. Und er hat darunter gelitten, dass er sich nur auf diese Weise über Wasser halten konnte, dass er nur in der Fremde anerkannt war, in seiner geliebten Heimat Czernowitz aber so gut wie nicht.

Erzählt Raphaela Kitzmantel, die zum bevorstehenden 100. Geburtstag des jiddischen Dichters seine erste Biografie herausbringt. Als fundierte Biografin hat sie sich schon um Soma Morgenstern verdient gemacht. Bei Morgenstern ist sie erstmals mit der ostjüdischen Geistes- und Literaturwelt in Berührung gekommen und von ihr berührt worden. „Es war genau mein Thema, meine Wellenlänge“, schwärmt sie noch heute.

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Da müsste ihr ja eigentlich auch Josef Burg liegen, dachte ihr mittlerweile verstorbener Doktorvater Wendelin Schmidt-Dengler, der als Leiter des Österreichischen Literaturarchivs den Vorlass Burgs (also dessen Nachlass zu Lebzeiten) angekauft hatte. Und so machte sich die junge Frau wieder auf den Weg, diesmal nach Czernowitz, um zwei Tage lang mit Josef Burg, dem „letzten Mohikaner der jiddischen Literatur“, zu sprechen. Solange er auf diesem Gebiet keinen Nachfolger habe, könne er nicht sterben, meinte er. Auch als Anlaufstelle für weltweite Anfragen zum ehemals jüdischen Czernowitz musste er bis zu seinem Tod fast allein dort die Stellung halten, wo er 97 Jahre davor geboren wurde. Als Sohn eines einfachen, frommen Flößers am Czeremosz. Dem Leben an diesem Fluss hat Burg seine schönsten Erzählungen gewidmet. Czernowitz und das Jiddische, das waren die geliebten Fixsterne, um die Leben und Werk von Burg kreisten.

„Er war kein Intellektueller, Jiddisch war seine Gefühlswelt und eine moralische Haltung. Jüdische Autoren, die deutsch schrieben, wie etwa Werfel oder Zweig, waren für ihn keine jüdischen Schriftsteller“, erklärt Kitzmantel. „Als er in Wien lebte, haben die ihn auch gar nicht interessiert, er hatte auch da nur Kontakt zu jiddischen Autoren.“ Von dort aus ist er nach 1938 nicht etwa in die Emigration gegangen, sondern zurück nach Czernowitz und dort als Kommunist in die Sowjetarmee eingezogen worden. Nach abenteuerlichen Kriegsjahren hat er schließlich 20 Jahre lang in Russland deutsche Literatur unterrichtet und ab 1967 in Czernowitz eine sowjetisch-jiddische Zeitschrift herausgegeben, „ein Feigenblatt der sowjetischen Machthaber“.

Seine besten Erzählungen seien vor dem Krieg entstanden, später habe er sich oft wiederholt, ein großer Roman ist ihm nicht geglückt, bilanziert die Germanistin. „Er hat sich permanent als letzter jiddischer Dichter stilisiert“, und meist ist er auch als solcher rezipiert worden. Ein Artikel in der New York Times machte in den 90er-Jahren noch einmal, spät, auf ihn aufmerksam und brachte dem alten Mann viele internationale Anfragen und Besucher. Seine Rolle als letzter Zeitzeuge hat Josef Burg angenommen und durchaus genossen. 2009 ist mit ihm auch das jüdische Czernowitz, das einstmals berühmte Zentrum jüdischen Kulturlebens in der Bukowina, endgültig ausgestorben.

Lilian M. Baders Memoiren: „Ein Leben ist nicht genug“

Als junges Mädchen war sie von Biografien und Memoiren fasziniert gewesen. Irgendwann in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat  Lily Bader schließlich in Amerika ihre eigene Lebensgeschichte aufgeschrieben, vielleicht für die Enkelkinder, die von der Welt ihrer Großmutter, dem Wien des Fin de siècle, weit entfernt waren. (Das 50-jährige Thronjubiläum Franz Josephs und der Tod von Kaiserin Elisabeth zählen zu Lilys frühesten Kindheitserinnerungen.) Es war eine Welt, in der Bildung die allergrößte Rolle spielte. In einer Reihe von starken Frauen groß geworden, promovierte die 1894 geborene Lily Stern 1919 als eine der wenigen jungen Frauen ihrer Generation an der Universität Wien als Chemikerin. Dass sie Jüdin war, spielte in ihrer Jugend offenbar so gut wie keine Rolle. Zwar heiratete sie einen jüdischen Arzt, aber Hinweise auf ein jüdisches Familienleben, Feste oder Bräuche finden sich nirgends in den „Memoiren einer Wiener Jüdin“. So der Untertitel des Bandes, der nunmehr in der Reihe „Erinnerungsspuren für die Zukunft. Jüdische Lebensgeschichte“ im Milena Verlag erschienen ist.

Doch war nicht zuletzt die starke Betonung kultureller Werte ein wesentliches Merkmal des assimilierten jüdischen Bürgertums im Wien der Jahrhundertwende. Ganz selbstverständlich gehörten fremde Sprachen, virtuoses Klavierspiel, Literatur- und Kunstverständnis, Theater- und Opernbesuche zum Alltag, und diese Prioritäten begründeten auch den Ruf der Mädchenschule, die Lilys Mutter in der Wiener Innenstadt führte. Im gesamten Raum der Monarchie war die „Stern-Schule“ angeblich so berühmt, dass es Wartelisten für die Aufnahme ins Internat gab und die Zöglinge ausgesucht werden konnten. Eine im Band abgebildete Broschüre über die vielfältigen Angebote der Schule aus dem Jahr 1928 ist selbst aus heutiger Sicht beeindruckend. Lily und ihre ältere Schwester führten und erweiterten die Anstalt bis zu deren quasi „Arisierung“ im Jahr 1938. Dann gelang der Familie die Emigration über England nach New York, wo Lily 1959 starb.

Ohne Bitterkeit und ohne Nostalgie blickt die alte Dame aus ihrer neuen Heimat zurück. Dort wurde sie wiederum Lehrerin und eine so leidenschaftliche Amerikanerin, dass sie ihre Lebenserinnerungen sogar auf Englisch verfasste (sie mussten jetzt übersetzt werden). 

Sie plädierte für ein „unveräußerliches Menschenrecht“ auf Migration als Voraussetzung für Frieden in der Welt.

Oft weist sie auf die Unterschiede in den Kulturen und Zeiten hin, ohne jedoch zu werten. Dabei gelingen ihr erstaunlich lebendige und authentische Gesellschaftsbilder. Wie Handwerker oder Dienstmädchen lebten, wie groß Armut und Wohnungsnot waren, wie höhere Töchter aufwuchsen und was alles die Zeitenwende des Ersten Weltkriegs veränderte, erfährt man von ihr aus kluger, menschlicher Perspektive. Sie war „eine Intellektuelle“, stellt die Tochter im Nachwort fest. Respektvolle Bewunderung der Mutter war gleichsam weibliche Familientradition. Intellektuell, hellsichtig und, wenn man so will, „jüdisch“, war Lily Baders ausgeprägtes soziales Gefühl und ein globaler Sinn für Gerechtigkeit. So plädierte sie für ein „unveräußerliches Menschenrecht“ auf Migration als Voraussetzung für Frieden in der Welt. Und das im Jahr 1948!

„Ich war begeistert“ – Eine Neuauflage seiner Memoiren erinnert an den vergessenen Publizisten Stefan Großmann

Als Dreizehnjähriger stand er täglich vor Morgengrauen auf, ging eine Stunde lang zu Fuß in die Praterstraße, sperrte dort den Branntweinladen seiner Eltern auf und schenkte Kutschern, Arbeitern und Huren der Umgebung Schnaps aus. Danach ging er ins Gymnasium und schlief dort regelmäßig ein. Viel mehr erzählt Stefan Großmann über seine Kindheit nicht, denn „derlei Konfessionen machen nur den Psychoanalytikern Spaß, und wer möchte diesen Talmudisten des Unterleibs Spaß machen?“

Als Sohn armer jüdischer Kleinbürger 1875 in Wien geboren, wurde Stefan Großmann einer der prominentesten Journalisten seiner Zeit. In der später von ihm begründeten Wochenschrift Das Tage-Buch schrieb die geistige Crème de la Crème der 20er-Jahre, von Brecht über Hofmannsthal, Marcuse, Morgenstern, Mann bis Roth und Polgar, um nur einige zu nennen. Über Hitlers Mein Kampf veröffentlichte Großmann eine prophetische Rezension, 1923 wurde er von Hitler erfolglos geklagt und von da an verfolgt und bedroht.

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Trotzdem gab er seinen 1930 erstmals erschienenen Memoiren den Titel Ich war begeistert. Eine Neuauflage im Wiener Verlag Edition Atelier macht diese Autobiografie nun wieder zugänglich. Und erinnert damit an eine längst vergessene Kulturfigur der Vorkriegszeit. Seine düsteren Prophezeiungen erfüllt zu sehen, blieb Großmann erspart. 1935 starb er 60-jährig. „Ich habe lange genug die Zeit in mich hineingetrunken, ich war besoffen von vielen Gegenwarten, darf ich endlich den Unruhestand verlassen?“, fragte er in seinem eigenen Nachruf schon lange davor.

„Er war ein typischer Fall des assimilierten Judentums im Wien dieser Zeit“, schrieb seine Enkelin Christina Wesemann-Wittgenstein 1995 im Vorwort einer Ausgabe von Texten Großmanns. Ihr war es immer ein Anliegen, an den weniger bekannten ihrer beiden Großväter (der andere war ein Wittgenstein) zu erinnern, sein Werk und seinen Nachlass zu erschließen. Großmann hatte 1904 eine rotblonde Schwedin geheiratet und war mit ihr und seinen beiden blonden Töchtern oft lange Zeit bei den Schwiegereltern, einer schwedischen Pastorenfamilie. So enttäuscht er immer wieder von Wien war, so begeistert war er von der liberalen Welt des Nordens. Der Zionismus war nie eine Option für ihn gewesen, für diesen war er nach eigener Einschätzung „zu verwienert“. Obwohl er Herzl „eine distanzierte, aber herzliche Wertschätzung“ entgegengebracht hatte, erschien ihm dessen Idee tragisch gescheitert zu sein. „Auf dem jungfräulichen Boden von Uganda hätte der neue Staat erwachsen können. Dort mussten keine einheimischen Araber verdrängt werden“, schrieb Großmann 1930.

Seine bedingungslose Bewunderung galt Victor Adler, seine auf Gegenseitigkeit beruhende Feindschaft Karl Kraus, seine Liebe Peter Altenberg und natürlich diversen süßen Mädeln, die er im „Griensteidl“ oder auf der Bühne der Josefstadt anschwärmte. Stefan Zweigs untergegangene „Welt von gestern“ wird in Großmanns Lebenserinnerungen aus einer anderen Perspektive gespiegelt. Nicht von oben, vom Blickwinkel des Grandseigneurs, der über Salzburg residierte, sondern eher von unten, aus den Erfahrungen von der Branntweinstube, die er mitnahm in die Redaktionsstuben von Berlin und Wien. Hellsichtig, pointiert, geistreich, lebendig – noch immer und schon wieder lesbar.


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