„Die beiden Weltkriege liegen nun viele Jahrzehnte zurück, und es ist zu hoffen, dass die Menschen daraus gelernt haben. Dass sie sich für die Vernunft, die Mäßigung und die Versöhnung entscheiden.
Es ist unser aller Pflicht, unseren Kindern und der nächsten Generation ein stabiles Europa mit einer lebenswerten Zukunft zu übergeben. Das Erstarken der Rechten in Deutschland und Frankreich lässt Erinnerungen an eine bestimmte Zeit hochkommen und überwunden geglaubte Ängste wiedererstehen. ‚Niemals wieder!‘ – darf nicht zu einem Slogan verkommen, sondern muss als tragende Kraft in unserer Gesellschaft wirken.“
Aus dem Vorwort von Oskar Deutsch
Gehen oder bleiben? Eine der Schicksalsfragen, die sich Juden angesichts der zunehmenden Feindseligkeiten in Europa stellen. „Meine Koffer bleiben ausgepackt“, beharrt die bayrische IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, nicht ohne „Sorge vor weiterem importierten Antisemitismus, der sich zum vorhandenen gesellt“.
Um diese beiden Formen des Judenhasses, den alten und den neuen, geht es unter anderem auch in mehreren Beiträgen, die Oskar Deutsch für sein neues Buch versammelt hat. „Impulse zu einem gesellschaftlichen Diskurs“ will der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien mit diesem Band anstoßen und hat dazu prominente Stimmen wie Shlomo Avineri, Ronald Lauder, Karl Schwarzenberg und Sebastian Kurz eingeholt.
Inspiriert hat Deutsch, wie er im Vorwort schreibt, der hellsichtige Text Arnold Schönbergs, wahrlich eine Trouvaille, in welchem der Komponist 1938 (!) „ein Vier-Punkte-Programm für das Judentum“ entwirft. Der Kampf gegen den Antisemitismus sei sinnlos, die Rettung der Juden das Wichtigste, und dazu gebe es nur einen Weg, ein Land „in das die Juden immigrieren können“.
Wie steht es 120 Jahre nach Herzls Traum um dieses Land, wie notwendig ist es heute als Zufluchtsstätte, wie bedroht sind Juden angesichts anschwellender Terrorgefahr da und dort? Welche Positionen haben jüdische Gemeinschaften in der Flüchtlingsfrage, wie soll man mit islamischen Migranten umgehen, wie wichtig ist Europa für Juden, wie wichtig sind Europa seine Juden?
Das sind brennende Zeitfragen, auf die es in den Essays des Bandes eher kritische und besorgte Standortbestimmungen, eher Diagnosen als eindeutige Antworten oder einfache Rezepte gibt.
Visionen und Realitäten. Eine „Stadt ohne Juden“ hat bereits Hugo Bettauer in der Zwischenkriegszeit als düstere Ahnung entworfen. Würden alle Juden Europa verlassen, wäre dies für die Juden sehr traurig, für Europa jedoch „ein Desaster“, meint Ronald Lauder, der sein jüdisches Erweckungserlebnis gerade als amerikanischer Botschafter im Waldheim-Österreich hatte. Seither ist er Zionist und von der Aktualität Herzls zutiefst überzeugt. Etwas kritischer vergleicht der israelische Herzl-Biograf Shlomo Avineri Visionen und Realitäten im heutigen „Altneuland“.
„Ein Europa ohne Jüdinnen und Juden wäre nicht Europa“, glaubt Sebastian Kurz, der einerseits für einen Islam europäischer Prägung, andererseits für die Ermöglichung eines „Wir-Gefühls“ in Österreich eintritt, aber wer ist überhaupt „Wir“, fragt Charlotte Knobloch skeptisch, glaubt aber trotz immer aggressiverem anti-israelischem Mainstream und physischer Bedrohungen dennoch „an eine gute Zukunft“ für das europäische Judentum, eine Diaspora, die für Israel und Europa gleichermaßen wichtig sei.
Nüchtern und ernüchternd beobachtet der Islam-Experte Bassam Tibi die „Islamisierung des Antisemitismus“ und den „zugewanderten Judenhass“ in Europa als eine unbestreitbare Tatsache, ein Befund, den Jean-Yves Camus aus seiner französischen Perspektive bestätigt.
Für Europa und seine Menschen wünscht sich Herausgeber Oskar Deutsch „eine solidarische Zivilgesellschaft, die gegen die Verführungen der Populisten immun ist“ und „Antisemitismus, Rassismus und Hetze nicht duldet“.
Info zum Buch:
Oskar Deutsch (Hg.):
Die Zukunft Europas und das Judentum.
Impulse zu einem gesellschaftlichen Diskurs.
Böhlau Verlag 2017,
256 S., € 24,99