Chaja, Helena, Madame, Princess und „A groisser Fardiner“

Augen, die im Dunkeln leuchten. Eine neue Romanbiografie zeichnet die Lebenslinien der Kosmetik-Ikone Helena Rubinstein (1870–1965) nach.

2012
© Roger Viollet / picturedesk.com

Auf dem Heiratsmarkt war Chaja nicht mehr vermittelbar. Über zwanzig, ohne nennenswerte Mitgift und offenbar stur, hatte sie schon mehrere Bewerber abgelehnt. Doch da gab es noch sieben jüngere Schwestern in der Warteschlange, die vor der Ältesten nicht verheiratet werden konnten. Chaja wollte aber ohnehin schon längst weg aus dem beengenden Kazimierz, dem Judenviertel in Krakau, und so ließen die Eltern sie ziehen, zuerst zur Tante nach Wien, dann zum Onkel nach Australien.
Auf der langen Schiffspassage dorthin häutete sich die junge Frau zum erstenmal. Aus Chaja wurde Helena, wie die Schöne aus der griechischen Mythologie, ihren Familiennamen Rubinstein aber behielt sie, lebenslang.
Und das war erst der Beginn ihrer erfolgreichen Legendenbildung. In Melbourne erfand sich die hart arbeitende Immigrantin neben einer nobleren Abstammung auch noch ein absolviertes Medizinstudium, um ihre selbstgemischten Gesichtscremen in ihrem ersten Schönheitssalon mit entsprechender Expertise an die Frau zu bringen. Es gelang, wie fast alles, das die 1,48 Meter kleine Dame in ihre offenbar goldenen Hände nahm.
Als sie 1965 95-jährig in New York starb, hinterließ sie als eine der reichsten Frauen ihrer Zeit ein weltumspannendes Kosmetikimperium mit über 30.000 Beschäftigten. 300 Jahre, so hatte sie es sich testamentarisch gewünscht, sollte es in Familienbesitz bleiben, doch gleichzeitig wusste sie: „Das Unternehmen bin ich.“ Und damit sollte sie Recht behalten.

»Das Unternehmen bin ich.«
Helena Rubinstein

Traumkarriere. Helena Rubinsteins faszinierendes Leben böte Stoff für gleich mehrere Romane. Einen davon hat nun das Autorenduo Ingo Rose und Barbara Sichtermann als Biografie vorgelegt, die sich aus verschiedenen Quellen, unter anderem aus Rubinsteins Memoiren, aus Briefen und anderen biografischen Werken speist. Dass wohl Rose als studierter Betriebswirt eher die ökonomischen und Sichtermann als frauenbewegte Sachbuchautorin eher die feministischen Aspekte eingebracht haben, ist zu vermuten und dem Gesamtbild sicherlich zugute gekommen.

Ingo Rose, Barbara
Sichtermann: Augen, die im Dunkeln leuchten. Helena Rubinstein. Eine Biografie. Kremayr & Scheriau 2020,
320 S., € 24

Einige Facetten der schillernden Persönlichkeit spiegelte bereits 2018 die ihr gewidmete Ausstellung im Wiener Jüdischen Museum, die vor allem ihre Wiener Zeit beleuchtete. Denn neben den großen Metropolen wie London, Paris und New York, wo Rubinstein nicht nur exquisite Schönheitspaläste, sondern auch luxuriöseste Wohnsitze etablierte, suchte sie immer wieder Wien für längere Zeit auf und eröffnete im Herzen der Stadt einen Salon. Weil ja nicht einmal sie überall zugleich sein konnte, besetzte sie die jeweiligen Flagshipstores mit ihren Schwestern, die sie nach und nach aus dem alten Kazimierz in die elegante weite Welt holte. Ihre erfolgreiche Familienstrategie erinnert an die Rothschilds, wo die fünf Brüder der Gründergeneration die europäischen Filialen führten.
Weniger Glück hatte die begnadete Geschäftsfrau mit ihrem Privatleben. Ihre Männer, zwei Ehemänner und zwei Söhne, lebten mehr oder weniger freizügig auf ihre Kosten, wobei sie der erste, Edward Titus, als instinktreicher Verleger prominenter Autoren auch in die höchsten intellektuellen Kreise der Avantgarde einführte, nachdem sie in der High Society längst angekommen war. Ambitioniert kaufte sie moderne Kunst und stattete damit ihre Häuser aus. Der Helena-Rubinstein-Pavillon für zeitgenössische Kunst in Tel Aviv, den die Mäzenin selbst eröffnete, beherbergt nur einen kleinen Teil der erlesenen Sammlung.

Trendsetterin. Auffällig ist, wie viele heute gängige Bezeichnungen, ja überhaupt wie viele Termini auf diese mehrfache Pionierin zutreffen. Als Gründerin war sie zugleich „Influencerin“, „Trendsetterin“, „Testimonial“ und weiblicher „Tycoon“ avant la lettre. „Princess“ wurde Madame durch ihren zweiten adeligen Ehemann. „A groisser Fardiner“ nannte sie respektvoll auf gut Jiddisch angeblich ein Rothschild.
Feministin im klassischen Sinn war Rubinstein keine, doch erspürte sie quasi seismografisch den globalen Wandel des Frauenbilds und bediente ihn vorauseilend mit ihren neuartigen Produkten, wie Lippenstift und Mascara, die zum weiblichen Selbstbewusstsein beitrugen.
Auch diese gesellschaftlichen Veränderungen vor und nach den beiden Weltkriegen diesseits und jenseits des Atlantiks zeichnet das Buch entlang der Lebenslinien dieser Jahrhundert-Ikone der Schönheitsindustrie auf.

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