Am Jom haScho’a sind in ganz Israel die Sirenen eine volle Minute lang zu hören. Am Jom haSikaron, dem Gedenktag für die gefallenen Soldaten, der eine Woche später stattfindet, genau einen Tag vor den Feiern für den Israelischen Unabhängigkeitstag, ertönt das Heulen der Sirenen sogar zwei Mal, zu Beginn des Gedenktages am Vorabend und am darauffolgenden Morgen. Es sind nicht die an- und abschwellenden Sirenen wie bei Raketenalarm oder Feuer, sondern ein ähnlicher, jedoch gleichbleibender Ton. Und mit diesem bedrohlichen Heulen hält an diesen Tagen jeweils für eine Minute alles inne, beinahe wie bei jenem tiefen Schlaf, der alle Bürger des Königreichs im Märchen von Dornröschen mitten in ihrem Tun erstarren lässt. Nur dass hier alle aufrecht stehen, anstatt wie nach dem Fluch der bösen Fee einzuschlafen. Auf den Straßen halten die Autos an, die Menschen steigen aus, und alle verharren dort, wo sie gerade sind. Volle sechzig Sekunden hält das Leben einfach an. Doch die Gedanken laufen weiter, sie gehen zu den Ermordeten der Schoah oder zu den gefallenen Soldaten … (Zitat aus Unser Leben in Israel, Amalthea 2018)

Bisher waren es der Gegensatz zum tosenden Alltag und die plötzliche Unterbrechung aller sonst so dringlichen Geschäftigkeit, die diesem Innehalten eine so starke Wirkung verliehen. Dieses Jahr, in der Stille der Ausgangssperre und des bereits sechs Wochen anhaltenden beinahe kompletten Stillstands der gesamten Wirtschaft, war das Innehalten beim Aufheulen der Sirenen nur eine Fortführung und Verstärkung, ein „more of the same“, das für viele Menschen die Einsamkeit noch vertiefte. Chaja, die Mutter von Elijel, der bei einer Rettungsaktion im zweiten Libanon-Krieg gefallen ist, will gar nicht daran denken, dass es wegen der Corona-Krise verboten ist, Besuche zu empfangen oder zu machen: Sie stellt dennoch im Garten die  Sessel für die Kameraden ihres Sohnes auf, die jedes Jahr alle kommen, um die sen Gedenktag mit ihr zu verbringen: „Am Jom haSikaron ist das Haus immer voll, und das hilft mir, diesen Tag zu überstehen“, erklärt sie. Und auch Avi und Michal fürchten sich diesmal vor der Einsamkeit und Leere. Sie würden die Freunde ihres Sohnes Gilad, der im letzten Gaza-Krieg gefallen ist, gerne empfangen. Aber was ihnen dieses Jahr bleibt, ist ein Treffen auf Zoom, in dem Michal die jungen Männer fragt, wie es ihnen geht: „Ich spreche gerne mit ihnen über ihr Leben, auch wenn unser Sohn nicht die Zeit gehabt hat, sich selbst eines aufzubauen. Aber was mir dieses Jahr so fehlt, ist die Umarmung der jungen Menschen.“
Das Gedenken im Kollektiv, mit Familie und Freunden oder mit den Kameraden ihrer Kinder, sowie die Zeremonien auf den Friedhöfen bringen den betroffenen Familien für einige Stunden Erleichterung und das Gefühl, mit ihrer Trauer nicht alleine zu sein. Deswegen war die Entscheidung der Regierung, dass die Angehörigen der gefallenen Soldaten dieses Jahr wegen der Corona-Ansteckungsgefahr die Friedhöfe am Jom haSikaron nicht besuchen dürfen, für viele besonders schwerwiegend. Normalerweise besuchen an diesem Tag jährlich etwa 1,5 Millionen Trauernde die Gräber der verstorbenen Soldaten. Die Proteste der Betroffenen gegen das dies jährige Besuchsverbot waren so vehement, dass die Regierung schließlich etwas umschwenkte und beschloss, dass niemand mit Gewalt von der Armee oder der Polizei daran gehindert werden sollte, den Friedhof zu besuchen.

»Ich habe in der Schoah so Schreckliches erlebt,
jetzt habe ich ein Zuhause,
ein Telefon,
ein Radio und was zu essen.

Für mich ist Corona ein Picknick!«
Leah Hasson

„Corona ist nicht die letzte Krise.“ Die virtuellen Treffen, die großteils von Non-Profit-Organisationen ins Leben gerufen wurden, erwiesen sich als ein gewisser Trost und werden wohl auch in Zukunft Teil der Memorial-Veranstaltungen bleiben. Sie waren schon eine Woche davor, beim Holocaust-Gedenktag, erfolgreich erprobt worden. Die Organisatoren von Sikaron baSalon („Gedenken im Wohnzimmer“) veranstalteten diesmal weit über tausend Zoom-Meetings mit Holocaust-Überlebenden im In- und Ausland. Ziel der Initiatoren ist es, die Schicksale der letzten noch lebenden Zeitzeugen an die jüngeren Generationen weiterzutragen. Die seit neun Jahren jährlich zur Zeit des Jom haScho’a stattfindenden Zusammenkünfte in privaten Häusern sollten eine intimere Alternative zu den bombastischen offiziellen Zeremonien schaffen und vor allem jungen Leuten die Möglichkeit geben, auch Fragen stellen zu können und in einen Dialog mit den Überlebenden zu treten. Dieses Jahr sind es aufgrund der speziellen Umstände nur 300 Senioren, die ihre Überlebensgeschichte in diesem Rahmen erzählen, natürlich virtuell. Leah Hasson, 84, ist eine von ihnen. Sie ist anfangs etwas befremdet von den neuen Medien und davon, dass sie ihr Publikum nicht richtig vor Augen hat. Aber dann klappt alles perfekt, und ihre Erzählung darüber, wie sie als vierjähriges Kind mit ihrer Mutter vor den Nazis flüchtete und unglaubliches Leiden überlebte, lässt auch dieses Jahr kein Auge trocken. Nach ihrer Motivation zum Mitmachen gefragt, meint sie: „Das ist eine Mission für mich! Es ist wichtig, dass der Holocaust und das, was uns geschehen ist, nicht vergessen wird. Die jungen Leute sind immer sehr schockiert von meiner Geschichte und können es gar nicht glauben. Aber nichts im Leben ist sicher, und auch diese Corona-Zeit wird nicht die letzte Krise sein.“
Dennoch: Covid-19 hat vollbracht, was keiner der Kriege und Krisen in diesem jungen Staat bisher geschafft hat. Seit 72 Jahren werden gleich nach den Pessach-Feiertagen die Hauptstraßen der israelischen Städte mit Fahnen und Lichtergirlanden für den israelischen Unabhängigkeitstag geschmückt. Seit 72 Jahren fiebern die Jugendlichen den Straßenfesten und -konzerten und den Partys am Vorabend des Feiertages entgegen. Die Fotos der Israelis, die bei der Ausrufung des Staates und auch danach jedes Jahr zum Jom haAtzma’ut auf den Straßen tanzen, sind legendär.
Doch dieses Jahr war alles unvorstellbar anders: Es herrschte Ausgangssperre, und die Hauptstraßen, durch die sich an diesem Festtag sonst immer Massen von Menschen schieben, waren komplett menschenleer. Wie schon in der Woche davor die traditionelle Zeremonie für den Jom haScho’a in Yad Vashem ohne Zuschauer und ohne die Holocaust-Überlebenden aufgezeichnet worden war, so wurde auch die festliche Live-Übertragung für den Geburtstag des Staates diesmal ohne Publikum abgehalten.
Not macht bekanntlich erfinderisch: Da die Senioren keinen Besuch empfangen durften, salutierten heuer bei den Sirenen zum Holocaust-Gedenktag die städtischen Polizeikapellen vor den Altersheimen. Eine Woche später, am Jom haAtzma’ut, ließen sich dann vor manchen Elternheimen Musiker der Feuerwehrkapelle auf Kränen hochhieven, um den auf den Terrassen stehenden Bewohnern ein festliches Ständchen zu bringen. Feuerwerke wurden abgesagt, und die jährliche Flugshow wurde in abgespeckter Form über den großen Spitälern geflogen, als Verbeugung vor den Ärzten und Schwestern, die mit höchstem Einsatz seit Wochen auf Hochtouren arbeiten.
Und auch der Beginn des Ramadan stellte die israelischen und palästinensischen Behörden vor schwere Entscheidungen: Die Moscheen und Kirchen blieben geschlossen, die gemeinsamen Abendessen in der Großfamilie waren dieses Jahr verboten, die palästinensische Bevölkerung war enttäuscht.
Doch Leah Hasson sieht das alles aus einem anderen Blickwinkel: „Ich habe in der Schoah so Schreckliches erlebt, jetzt habe ich ein Zuhause, ein Telefon, ein Radio und was zu essen. Für mich ist Corona ein Picknick!“

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