Die Parallelen von Internet und Judentum scheinen heute nicht mehr von der Hand zu weisen. Warum also nicht endlich eine Annäherung? Von Itamar Treves-Tchelet
Gebet des Internets
„Möge es dein Wille sein, uns in Frieden zu verbinden, in Frieden surfen zu lassen und in Frieden die Websites unseres Verlangens zu erreichen. Und mögest du in Frieden die Verbindung beenden und nicht zu kostspielig sein lassen. Und schütze uns auf unserem Weg vor Viren, Computerabstürzen und vor Trashseiten aller Art, Verdorbenheiten und Götzendienerei, die in der virtuellen Welt auf uns lauern. Und lass deinen Segen kommen über alle Taten unserer Maus und schenk uns Güte und Gnade im Angesicht jedes Monitors und mögest du die Stimme unserer Geldbörse hören, der du unsere Gebete und Wünsche erhörst und der du uns beschützt vor Zeitverschwendung.“ (freie Übersetzung)
Sogar die amerikanischen Oberrabbiner, die Ende Mai vor 60.000 charedischen (orthodoxen) Zuschauern im City-Field-Baseballstadion in Queens (NY) gegen die Gefahren des Internets referierten, konnten sich auf keinen anderen Psak(Dekret) einigen: Das Internet ist zwar Treife (unrein), aber unter koscheren Bedingungen darf man zu Arbeitszwecken surfen.
Mit dieser gewissermaßen verspäteten Ankündigung, die natürlich auch live über das Web ausgestrahlt wurde, kann man offiziel sagen: Das Judentum und das Internet haben ihre Symbiose gefunden. Beispiel? Bitte! Heute kann man elektronische Tora-Ausgaben gratis herunterladen, virtuelle Gebetzettel in den Kotel (Klagemauer) stecken, online Chametz (zu Pesach nicht erlaubte Getreideprodukte) verkaufen, Shiurim (Unterricht) über Skypehalten, Tehilim (Psalme) für gefangene israelische Soldaten sprechen und auf einen Mark Zuckerberg stolz sein.
Judentum Online
„Das Internet füllt ein tausend Jahre altes Vakuum im Judentum, es ist also kein Wunder, dass unsere Religion sofort mitgerissen wurde“, meint Rabbiner Tzvi Freeman. Als einer der Köpfe hinter chabad.org und „Cyberjudentum“-Experte war Rabbiner Freeman schon in den 80er-Jahren mit der Nutzung der Online-Netzwerke für jüdische Zwecke beschäftigt. Damals war das Ziel, jüdische Gemeinden in Kanada miteinander zu verbinden. Das Vorbild war die kleine isolierte Gemeinde von Yellowknife (Nord-Kanada), wo man mittels Prä-Internettechnologien wie BITNET oder ARPANET die wöchentliche Parascha (Tora-Wochenabschnitt) diskutierte. Als er diese Idee weiterentwickeln wollte, traf er auf Einwände der Gemeindevorstände. „Die Idee, dass man im Rahmen einer virtuellen Gemeinde miteinander online lernen konnte, ohne einander jemals kennen zu lernen, wurde damals als absurd betrachtet“, erzählt Freeman und fügt hinzu: „Aber trotzdem war die jüdische Welt mehr an der Entwicklung der Online-Gemeinde involviert als jede andere Religionsgemeinschaft.“
wina: Rabbiner Freeman, warum passen das Internet und das Judentum so gut zueinander?
Tzvi Freeman: In beiden Welten dreht sich alles um Kommunikation und Diskussion. Schon in der Zeit von Moshe Rabbenu hatten die Juden die Verantwortung, gelehrt zu sein und ihr Wissen so weit wie möglich zu verbreiten. Dabei wurden alle aufgefordert, an der Diskussion teilzunehmen und ihre Meinungen auszutauschen. Außerdem: Wenn man die wichtigen jüdischen Texte betrachtet, wie z. B. den Talmud und die halachischen Werke, sieht man, dass die Informationen verlinkt sind – genau wie im heutigen Internet.
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wina: Wie wird der religiöse Diskurs in Zukunft aussehen?
TF: Heute sind die Menschen völlig informationssüchtig geworden. Darum werden sie in Zukunft über viele Plattformen ständig neue Perspektiven und Meinungen über verschiedene Themen erfahren und auch selbst verbreiten wollen. Die Kommentare einer Person kann man auch als Beweis ihrer Existenz betrachten, d. h. er oder sie hat etwas zur allgemeinen Diskussion beigetragen.
Zur Person
Rabbiner Tzvi Freeman (57, Kanada) ist Autor und ein Redakteur von chabad.org. Seit Jahren spezialisiert er sich auch auf „Cyberjudentum“. Er bezeichnet sich als einer der ersten Apple-User der Welt. Sein erstes Computerprogramm hatte er noch mit Lochkarten geschrieben.
Sind die Synagogen im Gefahr?

Aber wo verläuft die Grenze zwischen den koscheren Möglichkeiten, die die heutige Internetwelt bietet, und den religiösen Verpflichtungen, die man elektronisch einfach nicht erfüllen darf? Hier divergieren die Meinungen. Professor Yoel Cohen vom Institut für Medien am Ariel-Universitätszentrum Samaria in Israel hat sich mit diesen Fragen im Rahmen seines 2012 erschienenen Buches God, Jews and the Media auseinandergesetzt.
[vc_custom_heading text=“Sogar die Reformrabbiner meinten, dass das Internet dem Glauben schadet, mehr als der Fernseher oder die Zeitungen.“ font_container=“tag:h3|text_align:left|color:%000″ google_fonts=“font_family:Droid%20Serif%3Aregular%2Citalic%2C700%2C700italic|font_style:400%20italic%3A400%3Aitalic“]
[vc_custom_heading text=“„Wegen seines demokratischen Charakters stellt das Internet jede Hierarchie in Frage … Leute fühlen sich plötzlich freier.“ Yoel Cohen“ font_container=“tag:h3|text_align:left|color:%000″ google_fonts=“font_family:Droid%20Serif%3Aregular%2Citalic%2C700%2C700italic|font_style:400%20italic%3A400%3Aitalic“]
wina: Kollidiert das nicht mit dem Schabbat?
wina: Wie schätzen Sie den allgemeinen Einfluss des Internets auf das Judentum ein?
wina: Und wo positioniert sich die jüdische Welt in den sozialen Netzwerken?
wina: Denken Sie, dass dies eine Gefahr für die Synagogen bedeutet?

Zur PersonProf. Yoel Cohen lebt seit 32 Jahren in Israel, nachdem er sein Studium in London absolvierte. Cohen ist der Gründer und Leiter zahlreicher Institutionen für Medien und Kommunikation in Israel. In den letzten zehn Jahren beschäftigte er sich mit dem Thema „Judentum und Medien“. Im Juni 2012 veröffentlichte er sein Buch God, Jews and the Media (Routledge).
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Wina Warnung
Facebookers für Antisemitismus anfällig
Leicht beeinflussbar und bewaffnet mit einem Keyboard: Laut eine Studie des Osnabrücker Historikers Christian Hardinghaus sind Nutzer von sozialen Netzwerken anfällig für antisemitische Vorurteile. Im Rahmen der dreijährigen Untersuchung wurden 1.100 User zwischen 15 und 40 Jahren befragt. Das Ergebnis: Rund die Hälfte der Befragten sind der Meinung, dass Juden „zu viel Wirbel“ um ihre Vergangenheit machen würden. Ein Drittel der Befragten behauptete, Juden seien hinsichtlich ihres Charakters verschieden von anderen. Dabei wurden Eigenschaften wie „Geldgier, Geiz oder Arroganz“ genannt. Die positive Seite: Befragte mit höherer Bildung haben weniger Vorurteile. Weitere Informationen zu diesem Thema finden sich in Hardinghaus’ Buch Der ewige Jude und die Generation Facebook. (dpa)
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