„Dann rettest du eine ganze Welt“

Vor 25 Jahren wurde der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet. Er markiert die Wende im Umgang mit Holocaust-Überlebenden. WINA bat Hannah Lessing, die Generalsekretärin des Fonds, zum Gespräch.

1963
Hannah Lessing. „Es kann nichts wiedergutgemacht werden. Bitte verwendet diesen Ausdruck gar nicht.“ © Marko @zlouma Zlousic

WINA: Der Nationalfonds feiert diesen Herbst sein 25-jähriges Bestehen. Sie selbst stehen von Anfang an an der Spitze dieses Fonds. Haben Sie gewusst, was da auf Sie zukommt?
Hannah Lessing: Ich war ja in einer Bank damals und hatte das Gefühl, das erfüllt mich nicht und ich muss etwas Neues finden. Als man 1995 eine Leitung für den eben beschlossenen Nationalfonds suchte, wollte man offenbar eine/n Beamten/in, der/die auch jüdisch ist. Und da wurde meine Schwester, die damals im Sozialministerium gearbeitet hat, gefragt. Sie hat gesagt, nein, aber meine Schwester ist zwar keine Beamtin, aber sie kann Hebräisch, ist gläubig und hat eine Affinität dazu. Ich habe mich daraufhin bei Heinz Fischer beworben, der damals Nationalratspräsident war. Und ganz ehrlich, ich habe am Anfang überhaupt nicht gewusst, auf was ich mich da einlasse. Ich habe mir das Gesetz durchgelesen und ein bisschen etwas dazu überlegt. Und ich habe meinen Vater gefragt: Was würdest du von mir erwarten 50 Jahre danach? Er hat zuerst nicht geantwortet, dann aber doch zu mir gesagt: „Kannst du mir meine Kindheit zurückgeben? Kannst du mir meine Mutter aus Auschwitz zurückbringen?“
In dem Gespräch mit Heinz Fischer habe ich daher dann ganz klar festgehalten: „Es kann nichts wiedergutgemacht werden. Bitte verwendet diesen Ausdruck gar nicht.“ Und ich habe gesagt, „ich bräuchte genug Leute, die den Menschen zuhören, ich muss reisen könne, ich möchte, dass Sie mit mir einen Brief schreiben, wo wir sagen, es tut uns leid, es ist spät und es ist uns bewusst, dass nichts wiedergutgemacht werden kann.“
Zwei Wochen nach diesem Gespräch hatte ich den Job. Und dann haben wir zu arbeiten begonnen. Schon in den ersten Wochen bin ich mit fast jeder Opfergruppe in Kontakt gekommen. Und habe gelernt, on the go, mit den sieben Frauen, die mich am Anfang begleitet haben. Wie viele Opfergruppen es gab, nicht einmal das war uns von Anfang an bewusst. Wie auch? Selbst diesbezüglich bin ich da ziemlich blauäugig hineingegangen. Ich war im Lycée, habe 1981 maturiert. Im österreichischen Geschichtsunterricht haben wir gelernt, dass wir das erste Opfer waren, im französischen Geschichtsunterricht, dass Vichy und Philippe Pétain nicht existiert haben und alle in der Résistance waren.
Dass es jüdische Opfer gegeben hat und Roma und Sinti, das war mir schon bewusst. Aber der Fonds, das ist die Schönheit am Nationalfonds, betreut ja alle Opfer. Ich hatte kaum eine Ahnung über die Schicksale der Kärntner Slowenen. Die Kinder vom Spiegelgrund waren weitgehend unbekannt zu der Zeit. Die Verfolgung der Homosexuellen war mir bewusst, aber dass sie nie eine Entschädigung bekommen hatten und nicht von der Opferfürsorge umfasst waren, wusste ich nicht. So genannte Asoziale, politisch Verfolgte, war mir klar. Aber es gab ja auch noch die Zeugen Jehovas, die Bibelforscher und weitere Opfergruppen.

»Aber der Fonds, das ist die Schönheit
am Nationalfonds, betreut ja alle Opfer.
Ich hatte kaum eine Ahnung über die Schicksale […].«
Hannah Lessing

Die Aufgaben wurden mit den Jahren immer mehr, vor allem nach dem Beschluss des Entschädigungspakets in Washington 2001. Gab es auch Momente, in denen alles zu viel wurde?
Zum Glück ist der Fonds immer schrittweise gewachsen. Und so haben wir unseren Weg gefunden zwischen Finden und Betreuung der Überlebenden aus Österreich weltweit in 72 Ländern. Und die Projektbetreuung hat sich auch langsam entwickelt. 1999 habe ich dann kurz das Gefühl gehabt, das ist es jetzt. Wir hatten damals schon über 30.000 Leute gefunden weltweit und sie betreut.
Aber dann kamen die Entschädigungsverhandlungen, ich war im Verhandlungsteam mit Botschafter Ernst Sucharipa. Nach der letzten Verhandlungsrunde am 17. Jänner 2001 in Washington habe ich meine Stellvertreterin angerufen und gesagt: „Übrigens, wir kriegen alles.“ Und sie hat gefragt: „Was heißt, wir kriegen alles?“ Und ich so: „Naja, Mietwohnungsentschädigung und Allgemeiner Entschädigungsfonds und Schiedsinstanz, und wir sind in der Kunstrestitution beauftragt“, und ich glaube, die haben in Wien einfach nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und haben gesagt, Hannah, wie sollen wir das schaffen? Also, ja: Es gab schon Momente, in denen wir uns gefragt haben, wie sollen wir das schaffen. Und es gab auch Momente, da hörst du eine Geschichte und sitzt da und weinst.
Ich habe immer gedacht, ich habe schon alles gehört. Aber bis heute, 25 Jahre später, gibt es noch immer solche Geschichten.

Was sind das zum Beispiel für Geschichten?
Es kam einmal eine Dame zu mir, 1999, nicht jüdisch, die mir gesagt hat, „in meinem Haus 1938 waren wir zwei Kinder, achtjährig damals, ein Bub und ich, der Bub war jüdisch. Und 1939 ist er mit einem Kindertransport weg. Aber wir waren immer sehr eng befreundet und haben miteinander gespielt, und dann 1941 wurden plötzlich seine Eltern auf einen Lastwagen geladen und abtransportiert. Meine Mutter stand gerade auf der Straße, und die Mutter von diesem Buben hat ihren Verlobungsring vom Finger gezogen und ihr gegeben und gesagt, wenn Sie meinen Robert nach dem Krieg finden, geben sie ihm den als Abschied von seiner Mutter.“
Wenn ich diese Geschichte erzähle, wird mir heute noch ganz anders. Sie hat dann weitererzählt, „meine Mutter hat bis zu ihrem Tod 1963 nach diesem Buben gesucht und ihn nie gefunden. Ich habe bis heute gesucht. Jetzt ist 1999, und ich habe gerade von Ihnen im Standard gelesen – Sie sind meine letzte Hoffnung. Vielleicht können Sie diesen Mann finden“, und hat mir seinen Kindernamen gesagt. Und ich schaue in den Computer und sehe: Ich hab ihn. Er war nach Israel weitergesiedelt, ist ein berühmter Journalist geworden und hatte seinen Namen auf einen israelischen Namen geändert. Und diese Namensänderungen hatte ich. Ich kannte ihn sogar persönlich und hab ihn gleich angerufen.
Aber es gibt auch die grausamen Geschichten. Was mich da am meisten berührt hat, waren die Kinder vom Spiegelgrund. Erstens, die Anerkennung war wichtig. Aber als wir diese histologischen Schnitte gefunden haben auf der Baumgartner Höhe, die bis in die 1980er-Jahre verwendet worden sind für Experimente und wir dieses Begräbnis organisieren konnten für die Stadt Wien, wo wir all diesen Kindern ihre Namen zurückgegeben haben, indem wir sie begraben haben. Das ist so unvorstellbar und unfassbar.

»Ja, es gibt Tage, an denen ich mir denke,
vielleicht ist es Zeit aufzuhören.
[…] Aber das ist meine Berufung.
Ich kann gar nicht anders.«

Hannah Lessing

Haben Sie in diesen 25 Jahren gelernt, mehr Abstand zu diesen emotionalen Geschichten zu halten?
Ich habe in den ersten Jahren begleitend eine Therapie gemacht. Meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen konnten auch Supervision machen, weil man einen Mittelweg finden muss zwischen Empathie und nicht hineinkippen. Ich war damals viel bei David Vyssoki, der uns gesagt hat, sie nehmen euch an der Hand und führen euch ins KZ. Das heißt, man zerbricht auch daran. Es gab Mitarbeiter, die nach ein paar Jahren gesagt haben, ich kann nicht mehr, das schaff ich nicht mehr – und das ist auch gut, wenn man das bemerkt.
Ich glaube, ich krieg das inzwischen ganz gut hin, weil ich psychohygienisch mit mir einen Weg gefunden habe, wie ich damit umgehe. Aber ich habe eine direkte Geschichte. Ich habe meine Großmutter. Als der Fonds beauftragt wurde mit der Organisation der Neugestaltung der Österreich-Ausstellung in der Gedenkstätte des KZ Auschwitz, hat der Direktor der Gedenkstätte zu mir gesagt; „Your grandmother was killed here. It can be good for you, but it can be bad for you. If you need anything, you know where to find me.“ Das habe ich unglaublich nett gefunden.
Ja, es gibt Tage, an denen ich mir denke, vielleicht ist es Zeit aufzuhören. Ich habe dazwischen ja genug andere tolle Jobangebote bekommen. Aber das ist meine Berufung. Ich kann gar nicht anders.

Irgendwann wird ja aber die Arbeit des Fonds beendet sein.
Ich denke, ich werde in Pension gehen, und es wird den Fonds noch geben. Wir haben ja neue Aufgaben dazubekommen, wie die Vermittlungs- und Forschungsarbeit. Wir haben in unserer Registratur – ich nenne es nicht Archiv, weil wir ja damit arbeiten – über 30.000 Geschichten von allen Opfergruppen, die sich teilweise von 1820 bis 2020 ziehen. Das ist ein Aktenbestand, den es in dieser Art nirgendwo sonst gibt. Eine der wichtigen Fragen ist, wie wir Jugendliche erreichen. Ich glaube, jede Generation muss mit der Geschichte umgehen lernen, und der Nationalfonds kann auch noch in 20 Jahren gute Dinge machen, selbst wenn die ursprüngliche Aufgabe beendet ist.

Sie sind in diesen Jahren mit sehr vielen Antragstellern zusammengetroffen. Welche Emotionen sind Ihnen da entgegengebracht worden? An welche schönen Momente können Sie sich da erinnern? Und gab es auch unschöne Momente, in denen Sie stellvertretend für das Land Österreich als Prellbock herhalten mussten?
Ganz am Anfang hatten wir nur mit Überlebenden zu tun. Da erinnere ich mich hauptsächlich an unglaublich positive Reaktionen, wie Roma und Sinti, die zu uns gekommen sind mit der ganzen Familie, und alle waren gerührt, wie wir mit den Menschen umgehen. Ich habe gleich am Anfang meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gesagt, erwartet keinen Dank. Ihr dürft nicht vergessen, es ist 50 Jahre zu spät, und die meisten sind tot. Aber das, was wir zurückbekommen haben von den Überlebenden: Wir sind tiefst berührt, humbled. Das hätte ich nicht erwartet. Aber es gab natürlich auch negative Reaktionen. Da gab es zum Beispiel einen Herrn, der ist hereingestürmt in mein Büro und hat gesagt, beweisen Sie mir, dass beide Ihrer Großmütter Jüdinnen waren, weil sonst sind Sie genauso ein Nazi wie alle anderen. Das schmerzt natürlich, noch dazu, ja, ich bin übergetreten. Das ist dann doppelt schwierig.
Die zweite Generation – das betraf viele Antragstellende beim Entschädigungsfonds –, das war hart. Viele haben uns gesagt, ihr habt unsere Großeltern ermordet. Ihr habt so lange gewartet mit den Entschädigungen, dass unsere Eltern jetzt tot sind. Und uns wollt ihr mit zwölf Prozent abspeisen. Das hatten sich meine Mitarbeiter nicht verdient.
Ich bin auch öfter angegriffen worden, warum ich unter der einen oder anderen Regierung überhaupt weiterarbeite. Bei einer gewissen Regierungskonstellation hatte ich einmal den Gideon Eckhaus und den Moshe Jahoda, meine Peers und meine Sparringpartner – mit denen habe ich mich oft gestritten, aber wir haben auch oft gemeinsam gelacht – bei mir und habe sie gefragt: „Was soll ich tun?“ Und sie haben gesagt: „Weitermachen. Wenn du jetzt gehst, kommt irgendjemand anderer, und der Fonds wird nicht mehr existieren. Solange du da bist, steckst du jetzt halt die Detschn ein, so ist es. Live with it.“ Und deswegen bin ich geblieben.

Was haben Sie Kritikern dann gesagt, die Ihnen vorgeworfen haben, dass Sie unter Schwarz-Blau an der Spitze des Fonds geblieben sind?
Genau das. Ich habe ihnen gesagt, schaut’s, ich bin 1995 angetreten mit dem Wissen, dass man nichts wiedergutmachen kann. Ob es nun Zahlungen gibt oder nicht, das bringt mir meine Großmutter nicht zurück und deine auch nicht. Dass die Entschädigungen spät und nicht zu 100 Prozent erfolgten, ist fürchterlich. Aber überlegen wir uns, woher wir kommen und wo wir hingegangen sind. Ich habe viele Diskussionen geführt und wollte nicht überzeugen, sondern meine Position erklären, warum ich glaube, dass es trotzdem wichtig ist, es zu machen. Und das haben viele akzeptieren können. Manche nicht, aber man kann eh nie alle erreichen. Als ich angetreten bin, dachte ich, ich rette die Welt. Und jetzt zitiere ich immer den talmudischen Spruch, aber mit der richtigen Übersetzung, nämlich, wenn du ein Menschenleben rettest, dann rettest du eine ganze Welt.


Das Archiv des Nationalfonds mit über 30.000 Geschichten aller Opfergruppen. © Nationalfonds/Georg Schenk

Der Nationalfonds

Der Nationalfonds wurde 1995 beim Parlament eingerichtet, um die Verantwortung der Republik Österreich gegenüber den aus Österreich stammenden Opfern des Nationalsozialismus auszudrücken. Er richtet sich an alle Überlebenden, unabhängig davon, aus welchem Grund sie verfolgt wurden – aus politischen Gründen, aus Gründen der Abstammung, Religion, Nationalität, sexuellen Orientierung, aufgrund einer körperlichen oder geistigen Behinderung, aufgrund des Vorwurfs der so genannten Asozialität oder weil sie auf andere Weise Opfer nationalsozialistischen Unrechts geworden sind. Rund 30.000 Überlebende haben sich an den Nationalfonds gewandt und eine „Gestezahlung“ als symbolische Anerkennung erhalten – in Summe rund 157 Millionen Euro.
Ein Anliegen sind dem Fonds zudem die Förderung und Verbreitung von Wissen um den Nationalsozialismus, seine Folgen und das Schicksal seiner Opfer sowie die Wahrung des Andenkens an die Opfer. Der Fonds fördert Projekte, die Opfern des Nationalsozialismus zugutekommen, der wissenschaftlichen Erforschung des Nationalsozialismus und des Schicksals seiner Opfer dienen, an das nationalsozialistische Unrecht erinnern oder das Andenken an die Opfer wahren. Er publiziert zudem auch selbst Erinnerungen von Überlebenden des Nationalsozialismus.
2001 wurde mit dem Washingtoner Abkommen zwischen Österreich und den Vereinigten Staaten unter anderem die Grundlage für Restitutions- und Entschädigungsmaßnahmen durch zwei vom Nationalfonds administrierte Fonds geschaffen – den Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus und den Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich. Insgesamt wurden durch den Allgemeinen Entschädigungsfonds 215 Millionen US-Dollar an Entschädigungen für Vermögensverluste ausgezahlt. Zusätzlich hat die Schiedsinstanz für Naturalrestitution die Rückstellung von Liegenschaften im Gesamtwert von geschätzt 48 Millionen Euro empfohlen. Und ab 2001 wurden zudem Entschädigungen von insgesamt rund 175 Millionen Euro an Überlebende für den Verlust ihrer Mietwohnungen geleistet.
Im Laufe der Jahre kamen weitere Aufgaben hinzu, etwa in Zusammenhang mit der Restitution von Raubkunst, der Neugestaltung der österreichischen Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, der Schoah-Namensmauer-Gedenkstätte in Wien, der Unterstützung bei der Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft für NS-Opfer und deren Nachkommen sowie ab 2021 mit der Vergabe des jährlichen Simon-Wiesenthal-Preises für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und für die Aufklärung über den Holocaust.

2 KOMMENTARE

  1. Bin tief berührt von diesem Artikel. Und was Frau Dr. Lessing macht – und andere – und wie, das ist großartig. Und repräsentiert „das andere Österreich“, das es ja auch gegeben hat; sodaß man sich nicht ganz zu Tode schämen muß. Und vielleicht mit diesem Österreich jetzt seinen Frieden schließen kann; jede/r. PPW

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