Das Diaspora-Judentum entdecken

Der 23-jährige Medizinstudent Noah Scheer wuchs in Graz und Israel auf. In Wien findet er eine neue jüdi­sche Identität.

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© Anna Goldenberg

Die Kellnerin hat ihn aufwachsen sehen, auf der Straße radelt sein Bruder vorbei, mit den Gästen am Nebentisch plaudert er fröhlich. Dass Noah Scheer erst seit wenigen Jahren in Wien lebt, ist schwer vorstellbar, wenn man eine Stunde mit dem 23-Jährigen im Eissalon Tuchlauben verbringt. Es ist einer der ersten warmen Tage des Jahres, und Noah muss dann weiter, zu einer Geburtstagsüberraschungsfeier, also redet er schnell. Zu erklären, wie er aufgewachsen ist, darin hat er ohnehin Übung.
Geboren ist Noah in Graz, als jüngstes von acht Geschwistern, wobei fünf aus den ersten Ehen seiner Eltern stammen. Zudem gab es in der Familie noch drei Pflegekinder. „Es war immer laut“, sagt Noah, „das liebe ich.“ Als seine Geschwister ausgezogen waren und er mehr Zeit allein zuhause verbrachte, schaltete er oft in beiden Stockwerken den Fernseher ein. Die Stille mochte er nicht.

In Israel war er einer von vielen, in Graz einer von ganz wenigen.

Im Gymnasium in Graz war Noah nicht nur froh. Eine Zeitlang, erzählt er, wurde er gemobbt. Lag es daran, dass er weit und breit der einzige Jude war? „Ich glaube nicht“, sagt er heute. „Aber es gab das Gefühl des unterschwelligen Nichtdazugehörens.“ Er rebellierte und musste ein Jahr wiederholen. Dann schlug ihm seine Mutter vor, in eine Schule in Israel zu wechseln. Mosenson Elite Academy, eine internationale Schule in Hod Hasharon, war ein Glücksgriff für Noah – trotz oder vielleicht wegen der „Militär-Vibes“, wie er sie heute nennt: Er wohnte mit drei anderen auf 15 Quadratmeter, das Essen war schlecht, die Regeln streng.
Mit 16 bekam Noah einen israelischen Pass, mit 19 wollte er nach Österreich, um Medizin zu studieren. Am Tag nach seiner Matura, im Juli 2015, flog Noah für den Medizinaufnahmetest nach Graz. Seitdem war er nicht mehr in Israel. „Das Land war drei Jahre mein Lebensmittelpunkt“, sagt Noah. Andererseits, sinniert er, hat er mittlerweile die Hälfte seines Studiums absolviert, während seine Schulfreunde erst kürzlich mit dem Militärdienst fertig wurden.
Und das Leben in Wien gefällt ihm sehr. Die Gemeinde beschreibt er als inklusiv. Es sei ihm nicht schwergefallen, jüdische Freunde zu finden. „Das Diaspora-Judentum hatte ich nie.“ In Israel war er einer von vielen, in Graz einer von ganz wenigen. Für die Feiertage kamen die Scheers nach Wien, wo Noahs Vater aufgewachsen war. Nach dem Synagogenbesuch in der Seitenstettengasse gingen sie zum Eissalon Tuchlauben. Die Kellnerin hat Noah aufwachsen sehen.

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