
Uri Gilkarov stammt aus Duschanbe, wo er 1952 geboren wurde, seine Frau Rosa kam 1956 in Taschkent zur Welt. Kennengelernt haben die beiden einander in Wien – und das gleich am Tag von Rosas Ankunft. Ihr Bruder war zu diesem Zeitpunkt schon in Österreich und mit Uri befreundet. Als die Schwester gemeinsam mit den Eltern von Israel nach Wien flog, holten die beiden Freunde sie am Flughafen ab. Eineinhalb Jahre später heiratete das Paar – dabei stand die Beziehung zu Beginn nicht unbedingt unter einem guten Stern.
Da war zum einen die Nierenerkrankung Uris, der in Wien, wie zuvor schon in Israel, als Fleischhauer arbeitete. Da war zum anderen Rosas Vater Grigori Galibov, der sich zwar einige Jahre später sehr engagiert für den Aufbau einer bucharisch-jüdischen Gemeinde in Wien bemühen sollte, 1974 aber noch ganz andere Pläne hatte, wie seine Tochter heute erzählt.
Grigori Galibov war in Taschkent ein angesehener Urologe gewesen, der einen Primar-Posten innehatte und auch an der Universität lehrte. In Israel, wohin die Familie ausgewandert war – nur einen Monat vor Rosas Maturaprüfungen in der Sowjetunion – konnte er nicht wie erhofft reüssieren. Er arbeitete zwar am Ichilov-Krankenhaus, genauso wie Rosas Mutter, die Krankenschwester war. Und auch Rosa selbst, die schließlich in Israel ihre Matura ablegte, wurde in diesem Spital in der Pflege ausgebildet.
„Die Vergangenheit prägt uns, gibt uns Fundament und Stütze,
und erst dann können wir wirklich freileben,
egal wo wir landen.“
Rosa Gilkarov
Es waren allerdings viele Ärzte nach Israel emigriert – die Konkurrenz war groß, vor allem aber fehlte das Ansehen, dass dem Urologen in Taschkent entgegengebracht worden war. Dazu kamen familiäre Gründe, die eine Anwesenheit in der alten Heimat nahe legten. Das Fazit war, dass Galibov zurück in die Sowjetunion wollte. Dem musste sich auch die Tochter beugen, die lieber in Israel geblieben wäre, um ihre Ausbildung zur Krankenschwester abzuschließen. „Er war da aber ganz klar: Er sagte, ein bucharisches Mädchen bleibt nie irgendwo allein.“ Wien sollte nur Zwischenstation sein, doch die Rückreise nach Taschkent gestaltete sich schwierig. Die Sowjet-Behörden weigerten sich, eine Einreise zu erlauben, so richtete man sich provisorisch in Wien ein: Galibov konnte im Spital der Barmherzigen Brüder in der Leopoldstadt arbeiten (durfte zunächst aber nicht operieren), seine Frau fand im selben Krankenhaus eine Stelle als Krankenschwester.
Dann aber passierte ein Schnitt, oder wie Rosa es heute formuliert: „Der liebe Gott hat ihm wirklich eine Lektion erteilt.“ Die Sowjets hatten eine Einreise in Aussicht gestellt, wenn der Arzt in einer Pressekonferenz festhielt, dass das Leben in Israel nicht gut sei. „Man hat uns für politische Zwecke missbraucht“, sagt die Tochter heute. Zur Ausreise kam es nie, dafür verlor das Ehepaar umgehend ihre Arbeitsplätze. Der Vater wurde dann zwar doch wieder beschäftigt, die Mutter aber nicht nur entlassen, sondern auch mit einem Dienstzeugnis bedacht, mit dem sie nirgendwo mehr als Krankenschwester Arbeit fand. So begann sie, als Näherin zu arbeiten – und Rosa mit ihr.
Die Galibovs blieben also doch in Wien, die Beziehung von Uri und Rosa hatte damit erneut eine Chance. Rosas Vater war wegen Uris Erkrankung dennoch skeptisch, die Tochter dagegen nicht: Der Vater sei doch Urologe und solle den jungen Mann operieren. So geschah es – und Uri konnte über viele Jahrzehnte ein gesundes Leben führen. Erst seit einem Schlaganfall in den Covid-Pandemie-Jahren ist er gesundheitlich angeschlagen.
Die Eheschließung bereuen beide bis heute nicht, die Hochzeitsfeier aber, die hätte doch etwas festlicher ausfallen können, meint Rosa im Rückblick. Es wäre nicht gut, wenn man hier mit großen Ausgaben auffalle, habe man in der sowjetischen Botschaft gesagt. So wurde schließlich in einer leer stehenden Schneiderwerkstatt mit rund 50 Personen gefeiert – die Musik kam von einem Tonbandgerät. „Da war dieser leerstehende große Saal, wir haben allein gekocht, alles selbst vorbereitet, es war eine Hochzeit ohne Musik, nur zwei Damen haben zum Tonband gesungen und ein bisschen mit den Fingern getrommelt, das war’s.“

Arbeit, Arbeit, Arbeit: Das junge Paar versuchte sich nun in der Fremde ein neues Leben aufzubauen. Nach mehreren Jahren als Fleischhauer wurde Uri Händler am Mexikoplatz. Rosa machte schließlich die Ausbildung zur Ordinationsassistentin, war viele Jahre in einer gynäkologischen Ordination tätig und später auch im Maimonides-Zentrum. In der Pension hat sie sich entschlossen, noch einmal etwas Neues zu lernen und absolvierte eine Ausbildung im Bereich Bioenergetik und Bioresonanz. Stolz sind die beiden, dass alle drei Kinder an einer Universität studiert haben.
Stolz sind sie aber auch darauf, dass alle drei Kinder – die Tochter lebt in Israel, die beiden Söhne in Wien – religiös geworden sind. Es gab Zeiten, da fand sie die Vorbereitungen für den Schabbat zusätzlich zur vielen Arbeit beschwerlich. „Zufällig habe ich dann einmal im ORF das Programm WIR angeschaut, da ging es um Familienwerte in Österreich. Da hat man auch Statistiken gebracht, wonach sich eine österreichische Familie oft nur mehr ein bis zwei Mal im Jahr um einen gemeinsamen Tisch versammelt. Da ist in meinem Kopf ein Lämpchen angegangen, und ich habe mir gedacht: Wow! Mit dem Schabbat kann ich meine Familienwerte festigen.“
Seitdem bereite sie gerne alles für den Schabbat vor, an dem sich an manchen Freitagen und Samstagen bis zu fünf Generationen versammeln: Denn einerseits lebt Rosas Mutter noch, und andererseits hat das Paar inzwischen bereits Urenkeln. Erst diesen Sommer reisten die beiden nach Israel zur Brit Mila des jüngsten Urenkels.
Andere Traditionen sind mehr im Fluss: Während in Uris Familie noch Bucharisch gesprochen wurde, war das in Rosas nicht mehr so. Sie verstand zwar ein bisschen, aber für eine flüssige Konversation mit der Schwiegermutter reichte es nicht ganz. Bei den Gilkarovs wurde dann zu Hause vor allem Russisch gesprochen – die Enkelkinder bevorzugen dagegen Deutsch und Iwrit. „Jetzt fangen sie aber auch alle an, Russisch zu lernen, mit einer App“, berichtet die Großmutter. Darüber freut sie sich ebenso wie darüber, dass seit der Eröffnung des Sefardischen Zentrums in der Tempelgasse 1992 geeignete Räumlichkeiten nicht nur zum Beten, sondern auch für Feiern aller Art – von der Bar Mitzwa bis zur Hochzeit – zur Verfügung stehen.
Federführend hatte sich hier Grigori Galibov, der damalige Präsident der bucharischen Gemeinde, der leider vor vier Jahren an Covid verstorben ist, engagiert. Daran erinnert heute auch eine Tafel am Eingang des Gebäudes. 2001 veröffentlichte er zudem das Buch Geschichte der bucharischen Juden in Wien, das mit vielen Fotos nostalgische Einblicke in die fünf Jahrzehnte dieser Gemeinde in Wien bietet. „Als mein Vater angefangen hat, das Buch zu schreiben, hat er gesagt: „Jeder Mensch muss wissen, woher er kommt und was er ist – erst dann wird er wissen, wohin er gehen soll.“ Und er hatte recht: Ohne Vergangenheit können wir nicht in die Zukunft schauen. Die Vergangenheit prägt uns, gibt uns Fundament und Stütze. Erst dann können wir wirklich frei leben, egal, wo wir landen.“