WINA: Die Theodor Kramer Gesellschaft konzentrierte sich nach ihrer Gründung 1984 zunächst auf die Erforschung des Werkes von Theodor Kramer, wollte aber von Beginn an auch zur Verbreitung von Exilliteratur beziehungsweise Literatur von Autoren und Autorinnen beitragen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden oder im Widerstand waren. Seit 1987 wurden die diesbezüglichen Bemühungen intensiviert. Inwieweit war hier auch die Waldheim-Affäre ein Katalysator?
Konstantin Kaiser: Die Walheim-Debatte hatte eine befreiende Wirkung für die Leute in Österreich, vor allem für jene, die sich schon länger mit der Schoah, mit dem Nationalsozialismus, mit den falschen Kontinuitäten auseinandergesetzt haben. Für sie war die Waldheim-Affäre in gewissem Sinn befreiend, da dadurch auch ein anderes Bild propagiert werden konnte. Darunter waren auch die Mitbegründer der Theodor Kramer Gesellschaft. Wir waren damals kritische Patrioten. Mit Waldheim konnte sich dann auch auf breiterer Ebene das Bild eines Österreich bilden, das nicht Umkehr getan hat. Ich habe da das Buch Jona im Hinterkopf: Das Land war durch den Opfermythos weiterhin in der Götzenanbetung gefangen. Man muss aber sagen: Das offizielle Österreich hat nun die Bereitschaft gezeigt, solche Dinge, wie wir sie gemacht haben, zu unterstützen. Das war vorher überhaupt nicht der Fall und für uns die Möglichkeit, weiterzuarbeiten. Man kann einmal ein halbes Jahr mit irgendwelchen Subsidien arbeiten, aber auf Dauer hältst du nur durch, wenn du eine finanzielle Basis hast.

Inwiefern hat dieser Bewusstseinsmachungsprozess auch Menschen im Exil einbezogen?
I Man muss leider sagen, und das gilt bis heute, dass das Exil nach wie vor distanziert wird. Menschen im Exil und deren Nachkommenschaft, ob auch schon Enkeln oder Urenkeln, die weiterhin von Flucht und ihren Folgen geprägt sind, das sind Hunderttausende. Und sie hält man immer noch auf Distanz. Das ist die größte jüdische Gruppe, die sehr intim mit Österreich zu tun hat. Und die Ablehnung des Exils ist die Ablehnung der österreichischen Juden. Es waren immerhin zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung in Österreich, die flüchten konnten, auch weil die Kultusgemeinde da Großes geleistet hat. Daher gibt es auch viel Exilliteratur. Wichtig ist mir auch: Das Exil ist keine Freiheit, es bedeutet Sicherheit, aber auch Unfreiheit, Verbannung. Wir wollen die Autoren und Autorinnen aus dieser Verbannung zurückholen.

„Wichtig
ist mir auch:
Das Exil ist keine Freiheit, es bedeutet Sicherheit, aber auch Unfreiheit, Verbannung.“ Konstantin Kaiser

Woran kann man festmachen, dass man Menschen im Exil nach wie vor auf Distanz hält?
I Wenn in Deutschland in relativ kleinen Verlagen ein Werk der Exilliteratur erscheint, ist es zumindest eine Selbstverständlichkeit, dass dieses in größeren und mittleren Zeitschriften besprochen wird. In Österreich ist das keine Selbstverständlichkeit, und wenn man es bespricht, dann schreibt man Exilliteratur, dann vergessen, dann jüdisch und dann weiß der Leser schon, es ist geistige Subventionierung, wenn man das Buch zur Hand nimmt. Das sind Akte der Vor-die-Tür-Weisung, der Klassifizierung. Und das wird oft ganz gutwillig gemacht. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Tür aufgemacht und gleichzeitig wieder zugeschlagen wird.
Dieses Problem ist nach wie vor nicht behoben. Die Literaturwissenschaft sieht die Literaturgeschichte der Zweiten Republik nur in Österreich verortet. Die gespaltene Literatur – Literaturproduktion im Land und im Exil – spiegelt sich bis heute nicht wider. Ein Beispiel: Die Grazer Autorenversammlung veranstaltet seit vielen Jahren Literatur im März, die der Lyrik vorbehalten ist. Da sollte man meinen, dass man auch an die Vertreibung eines großen Teils der österreichischen Schriftsteller oder ihre Internierung in einem KZ denkt. Aber nein, man hat frisch, fromm und frei österreichische Literatur präsentiert, es war ein österreichischer Almabtrieb, wo alle lesen. Ich habe gefragt, „warum laden Sie da nicht einen Exilautor, eine Exilautorin ein?“ Das ist dann einmal gelungen, wurde aber beim nächsten Mal wieder vergessen. Die Aufgabe, die auch Autoren und Autorinnen der Gegenwart gehabt hätten, wäre gewesen, auch das Exil an ihre Seite zu ziehen.
Und die Exilliteraturforschung ist nach wie vor im Grunde außeruniversitär. Da gibt es die Exilbibliothek und die Theodor Kramer Gesellschaft, und dann sind wir schon am Ende. An den Universitäten gibt es vereinzelt Vorlesungen, aber es gibt keinen Lehrstuhl und keine Kontinuität in der Auseinandersetzung mit Exilliteratur. Das ist für eine Stadt wie Wien, die in einem derart großen Ausmaß mit dem Exil verbunden ist, eine Schande. Und eine noch größere Schande ist, dass man nicht einmal sieht, dass das ein Problem ist. Da bin ich gescheitert, und das ist eine Niederlage.
Eine Niederlage ist auch, dass es bisher nicht gelungen ist, im Geburtshaus von Theodor Kramer in Niederhollabrunn, 40 Kilometer nordwestlich von Wien, eine Gedenkstätte einzurichten. Das Haus gehört der Gemeinde, es wäre also möglich. Es gibt in Niederösterreich zum Beispiel ein Arnulf Rainer Museum, es gibt Museen für andere Künstler. 2022 jährt sich Kramers Geburtstag zum 125. Mal. Das wäre wieder eine Gelegenheit, wir klopfen wieder an und würden für diese Gedenkstätte auch aus unserem Archiv Originalmaterialien als Leihgaben zur Verfügung stellen. Das sind leider Sachen, da geht nichts weiter.

Viele Exilautoren schrieben beziehungsweise publizierten in der Sprache des Exillandes – oft war das Englisch. Seit 1995 trägt der Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft dazu bei, diese Werke auch in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Inwiefern hat die Veröffentlichung dieser Werke auf Deutsch den Blick auf die NS-Zeit in Österreich verändert?
I Wir haben bisher an die 100 Bücher herausgebracht, mit Erinnerungen und Bezeugungen dessen, was geschehen ist, sowohl in den Konzentrationslagern wie auch in den Gefängnissen, aber auch auf der Flucht, beispielsweise in Lagersituationen für feindliche Ausländer in Frankreich oder England. Ich denke, wir haben dazu beigetragen, dass die Wahrnehmung des Nationalsozialismus internationalisiert und über die engen Grenzen Österreichs ausgeweitet wurde. Natürlich ist der Kreis, den wir erreichen, nicht der (eigentlich nicht existierende) Durchschnittsösterreicher. Man muss sagen, dass man in Österreich über alle Vermittlungswege hinweg maximal 200.000 Menschen erreicht. Und das nach jahrzehntelanger Arbeit. Wir haben in Österreich sehr viele Gedenkinitiativen, auch jetzt noch, da gibt es eine gewisse Öffentlichkeit, die sich entwickelt hat. Für diese Öffentlichkeit haben wir zum Beispiel den Band Subjekt des Erinnerns? herausgebracht. Wenn man über das Erinnern diskutiert, schauen wir uns auch die Menschen an, die erinnern wollen. Das wird gerne vernachlässigt. Wenn man etwa daran denkt, was ein Peter Gstettner in Kärnten bewirkt hat mit seinen Loibl-Pass-Erinnerungen, und dann betonieren das Innen- und Wirtschaftsministerium ohne Rücksprache mit der Initiative, die das entdeckt und konserviert hat, zu.

Inwiefern ergab sich durch die Publikation und Lektüre von Exilliteratur auch ein anderer Blick auf die Gegenwart?
I Exil ist zu einer Erscheinung geworden, die in den letzten 20, 30 Jahren ziemlich in Mode gekommen ist.

Sie meinen die Fluchtbewegungen?
I Es gibt ja kein Land, wo „Exil“ draufsteht. Das Exil besteht nur in den Geflüchteten, die einen Ort gefunden haben, an dem sie verschnaufen können. Diese Gegenwart versteht man sicher besser. Wobei sich die Widersprüche dadurch nicht auflösen. Vieles von dem, was nun passiert, wurde vorkritisiert von Autoren, die dann später ins Exil gehen mussten. Ödön von Horváth ist da mit seinen kritischen Stücken auch ein guter Deuter der Gegenwart, etwa, wenn er die Selbstdenkerei aufs Korn nimmt: Da gibt es den Sladek, der denkt immer selbst, der lässt sich nichts vorschreiben beim Denken – und fällt vor lauter Selbstdenkerei in eine ideologische Falle nach der anderen hinein. Da fallen mir die „Querdenker“ von heute ein. Aber auch in Jugend ohne Gott erfährt man viel, das für die Gegenwart wichtig ist. Das kann man aber nur für sich erschließen, wenn man in der Gegenwart kritisch ist. Die kritischen Dimensionen erschließen sich nur, wenn man auch in der Gegenwart kritische Dimensionen entwickelt.

„Exil ist zu einer Erscheinung geworden, die in den letzten 20, 30 Jahren ziemlich in Mode gekommen ist.“
Konstantin Kaiser

Man muss es auch so wahrnehmen wollen?
I Ja. Antisemitismus nimmt zum Beispiel einen nicht so großen Raum in der Exilliteratur ein, wie man annehmen würde. Entweder hat die Autoren die Schilderung von Antisemitismus nicht interessiert, oder sie waren weiter mit Alltagsantisemitismus konfrontiert und das spielte keine Rolle. Heute ist Antisemitismus etwas, das man in seiner Komplexität und in seinem historischen Profil zu begreifen versucht. Meine Ansicht ist immer gewesen, dass es praktizierter Antisemitismus gewesen ist, die Exilliteratur zu distanzieren. Er wird aber nicht als solcher gesehen – er trifft Abwesende. Es trifft aber eine relativ große Anzahl von Personen, die Juden und Jüdinnen gewesen sind. Hier fällt auch der Vorwurf hinein, dass jüdische Autoren nicht authentisch seien. Dieser Vorwurf des nicht Wahrhaften, des Kolportagehaften. Wenn Karl Heinrich Waggerl eine Weihnachtsgeschichte schreibt, ist das verlogen bis in die Knochen und trieft vor Rührung, aber es gilt als authentisch, und der Autor ist ein „Eigentlicher“. Wenn eine Weihnachtsgeschichte aus dem Exil und von einem jüdischen Autor kommt, dann ist das schon Kolportage. Diese Dinge laufen nach wie vor. Und es ist unsere Aufgabe, dafür zu sensibilisieren.

Kann man Bücher von Alfredo Bauer oder Frederic Morton eigentlich zur deutschsprachigen Literatur zählen – oder ist das nicht auch eine unpassende Aneignung und Vereinnahmung?
I Das ist jeweils verschieden. Frederic Morton hat teils auf Deutsch geschrieben, zum Beispiel eine Skizze, eine Wiederbegegnung mit Wien, das ist ein emotionaler Bereich, wo er offenbar Deutsch denken musste. Andere Werke, auch die Ewigkeitsgasse, hat er primär auf Englisch verfasst und dann bei der Übersetzung ein bisschen mitgewirkt. Alfredo Bauer hat auf Deutsch zu schreiben begonnen und sich später selbst ins Deutsche übersetzt. Da sind die Lektoratsarbeiten aber über ein normales Lektorat hinausgegangen.

Ist es vereinnahmend, deren Werke zur deutschsprachigen Literatur zu zählen?
I Wenn damit keine Rezeption und kein Interesse fürs Lebenswerk einhergeht, ist es vereinnahmend. Aber wenn ich hergehe und sage, ich öffne mich für diese Literatur, ich bin ein Ort, an den sich Exilautoren wenden können, dann ist das etwas anderes. Wien hätte dieser Ort sein können. Bruno Kreisky hat im Bereich der Sozialwissenschaften Konferenzen initiiert, da sind oft bedeutende Personen aus dem Exil nach Österreich gekommen. Da gab es auch eine Auseinandersetzung mit der österreichischen Sozialdemokratie in den 1970er-Jahren. Wir erfuhren von vielen Autoren, mit denen wir Kontakt hatten, dass es befriedigend für sie war, dass da jemand kommt und sie nach ihren Werken fragt. Wir waren ja nicht die Ersten, da hat etwa der Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka den Lyriker Rudolf Felmayer gebeten, eine Anthologie zusammenzustellen. Da gab es eine umfangreiche Korrespondenz, die wir gerne eingesehen hätten, die aber nicht mehr aufzufinden ist.
Und dazu muss ich auch sagen: Seitdem mehr zur Exilliteratur geforscht wird, verschwinden weniger Dokumente. Unsere Arbeit sorgt also auch dafür, dass Dinge nicht mehr der Vernichtung anheimfallen. Wir retten Literatur vor der Vernichtung, indem wir sie in unser Archiv holen, auch aus den USA, wenn etwa die Wohnung eines verstorbenen Autors rasch geräumt werden muss und dabei Manuskripte im Müll landen würden, wenn es hier keine Anlaufstelle wie eben unser Archiv gäbe. Wir retten die Manuskripte ins Archiv, wir retten sie aber auch in die Bücher, die wir herausgeben. Bücher haben eine gewisse Verbreitung und auch eine gewisse haptische Festigkeit, die kann man nicht einfach wegwischen.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here