Das ganze jüdische Volk wird in die Kollektivschuld genommen

Der langjährige Israel-Korrespondent, Autor und Filmemacher Richard C. Schneider blickt besorgt auf das Land und befürchtet im Gespräch mit Marta S. Halpert die Rückkehr des Alltagsantisemitismus nach Europa.

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Richard C. Schneider ist einer der international erfahrensten Israel-Korrespondenten. Offen und schonungslos analysiert er die lange und absichtsvoll „übersehenen“ Ursachen für den aktuellen tragischen Konflikt. © Jonas Opperskalski/ dva randomhouse

WINA: Als Monatsmagazin können wir keine tagesaktuellen Themen besprechen, deshalb möchte ich Sie als Leiter des ARD-Fernsehstudios in Tel Aviv von 2006 bis 2016 über die größeren Zusammenhänge befragen. Denn Sie kamen bereits 2017 wieder für die ARD als leitender Redakteur für spezielle Aufgaben zurück, und seit 2021 berichten Sie laufend im Spiegel über Israel. Bevor wir zu Ihren politischen Einschätzungen kommen, schicke ich das Wichtigste voraus: Glauben Sie noch an ein Abkommen über die Rückkehr der – noch lebenden – Geiseln aus der Hamas-Hölle?

Richard C. Schneider: Man muss auf ein Abkommen hoffen – man darf die Geiseln mental nicht aufgeben. Aber im Augenblick sieht es nicht so aus, aber wer weiß … ich hoffe und bete.

Wie und wann haben sich in Ihren Augen, nach Ihrem mehr als zehnjährigen Aufenthalt, das Land und seine Menschen verändert?

I Ich würde sagen, am ersten Tag nach dem Sechstagekrieg 1967. Wir haben relativ spät erkannt, wie dieser unfassbare Sieg viele Israelis hat überheblich werden lassen, im Glauben, unbesiegbar zu sein. Auch wenn der Jom-Kippur-Krieg 1973 zu Beginn existenziell bedrohlich war, gelang es sehr schnell wieder, die Kontrolle über das Geschehen zu erlangen. Diese Haltung der Überlegenheit hat auch leider mit den Ereignissen des 7. Oktober zu tun: dass man nicht vorbereitet war, dass man die Hamas falsch eingeschätzt hat. Außerdem hing man der Überzeugung nach, die Hamas in Gaza in „kleineren Kriegen“ abschrecken zu können.

Das ging auch mit einer Veränderung der politischen Landschaft in Israel einher?

I Ja, natürlich, vor allem der rapid gewachsene Nationalismus der Siedlerbewegung, diese nationalreligiöse Ideologie, dass man das gesamte biblische Israel besetzen und behalten will, begann schon sehr früh, aber man wollte es nicht sehen. Doch die Siedler wussten schon ganz am Anfang, was sie erreichen wollen, und zwar: alles ihrer religiös-messianischen Mission unterzuordnen. Ich habe bereits 1998 ein Buch mit dem Titel Israel am Wendepunkt: Von der Demokratie zum Fundamentalismus? geschrieben, dafür habe ich mehr als ein halbes Jahr recherchiert, habe bei den Siedlern gewohnt und mit ihnen gesprochen. Da wurde mir die Ideologie sehr klar. Vor allem, wie konsequent und unbeirrt sie vorgehen, als ein wachsendes Segment der israelischen Gesellschaft. Sie sind immer noch eine Minderheit, aber gewinnen an Einfluss, stellen inzwischen zwei Minister in der Regierung. Diese Entwicklung wurde auch deshalb übersehen, weil ein gewisser „normaler“ Patriotismus der liberalen, offenen Gesellschaft sich auf die großen Erfolge der Start-up-Nation konzentrierte und man auch ein gutes Leben hatte.

Wie sehen Sie die demografische Lage Israels? Wenn die Charedim-Familien stetig wachsen, wird sich dann der Braindrain der Intellektuellen weiter fortsetzen, sodass sie mit den Füßen abstimmen und nicht an der Wahlurne?

I Der aktuellen Entwicklung nach könnten in wenigen Jahrzehnten Charedim und Nationalreligiöse die Mehrheit stellen. Auch da wollte man schon sehr lange nicht hinschauen. Ich erinnere mich, wie mir mein Tonmeister im ARD-Studio in Tel Aviv vorrechnete: „Ich finanziere derzeit mit meinen Steuern 50 Charedim, aber meine Tochter wird bereits 500 erhalten müssen.“ Allein im vergangenen Jahr haben unzählige Israelis das Land verlassen, auch aus meinem Umfeld. Das Dramatische dabei ist, dass Menschen Israel den Rücken kehren, die über finanzielle Mittel verfügen sowie über eine Ausbildung, mit der sie auch im Ausland reüssieren können. Daher besteht die Gefahr, dass das Land intellektuell ausblutet.

„Aber sehr wohl könnten wir erleben, was
bis 1933 europäische Normalität war: dass Gesellschaften offen antisemitisch sind,
dass dies erneut selbstverständlich
werden könnte.“

 

Sehen Sie noch eine Chance für eine vernünftige, bürgerliche Mitte-Rechts- oder Mitte-Links-Regierung?

I Ich weiß gar nicht mehr, was links ist. Yair Golan* ist so ein bisschen ein liberaler Don Quijote. Er versucht jetzt als Chef der linksliberalen Demokraten einer Fusion aus der geschrumpften Arbeiterpartie Avoda und Meretz. Aber „links“ gibt es eigentlich nicht mehr wirklich. Dafür alle möglichen Schattierung von „rechts“. Man muss sich über die Dimension der israelischen Erfahrungen mit dem 7. Oktober im Klaren sein, die Größenordnung, die so viele nicht-jüdische Menschen nicht verstanden haben: Auf Deutschland umgelegt, würde das ca. 12.000 Tote und 2.500 Geiseln bedeuten, wie würde Deutschland damit umgehen? Das Trauma muss man im Kontext der jüdischen Geschichte sehen. Mit dieser Extremerfahrung, die Diaspora-Juden ähnlich wie Israelis, wenn auch nicht identisch erleben, ist es undenkbar, dass die Israelis in naher Zukunft bereit wären, einer Zwei-Staaten-Lösung zuzustimmen oder zusätzliche Gebiete abzugeben.

 

Richard C. Schneider: Die Sache mit Israel.
DVA 2023, 192 S., 23,50 €

Mit welcher jetzigen oder zukünftigen palästinensischen Zivilbevölkerung soll nach diesen schrecklichen Kriegen je ein belastbarer Frieden realisiert werden können?

I Das Interesse der palästinensischen Seite auf einen Dialog ist nach den Ereignissen ebenfalls gleich Null. Aber lassen Sie mich etwas anderes sagen: In der Geschichte der Menschheit hat man in vielen Situationen gedacht, dass gewisse Konflikte unlösbar wären. Hätte jemals irgendwer geglaubt, dass es zwischen Israel und Deutschland diplomatische Beziehungen geben könnte? Und doch ist es passiert. Es kann Konstellationen geben, aber sicher nicht morgen, nicht übermorgen. Denn dafür braucht es auf beiden Seiten große charismatische Persönlichkeiten, die auch in der Lage sind, nicht nur die andere Seite, sondern auch die eigene Gesellschaft mitzunehmen.

 

Wird sich Israels Bevölkerung vom Trauma des 7. Oktober je erholen können? Wird das Diaspora-Judentum in Sicherheit leben können?

I Der Antisemitismus wurde schon zuvor in den USA und Europa immer virulenter, doch der 7. Oktober wurde zum Trigger: Jetzt kam der Geist aus der Flasche, und den kriegen wir auch nicht mehr zurück hinein. Ich sehe die Gefahr, dass sich der Hass auf Israel und Juden schlechthin immer weiter manifestieren wird. Es geht überhaupt nicht um die Kritik an der israelischen Politik, sondern darum, dass das ganze jüdische Volk in Kollektivschuld genommen wird. Das sieht man ja bei Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Personen weltweit, die nichts mit Israel zu tun haben.

„Ich sehe die Gefahr, dass sich der Hass
auf Israel
und Juden schlechthin immer
weiter manifestieren
wird.“

 

Das klingt sehr hoffnungs- und aussichtslos.

I Ich glaube und hoffe, dass es sich etwas beruhigen wird. Ich würde sagen, dass wir in Europa kein „Auschwitz“ erleben werden. Aber sehr wohl könnten wir erleben, was bis 1933 europäische Normalität war: dass Gesellschaften offen antisemitisch sind, dass dies erneut selbstverständlich werden könnte. Das beste Beispiel ist für mich die Situation einer jüdische Künstlerin, die plötzlich keine Stipendien mehr bekommt. Man sagt nicht warum, das bekommt dann einfach jemand aus dem „progressiven“ oder „woken“ Milieu. Ist das antisemitisch? Es ist so schwer greifbar. Aber das könnte in naher Zukunft Alltag werden. Da beginnt sich etwas radikal zu verändern.

Wird Israel sein Ansehen als liberal-demokratischer Staat zurückgewinnen können?

I Ich bin da sehr skeptisch, ich glaube, Israel wird mit dieser „Pariah“-Rolle erst einmal leben müssen, ich kann mir im Moment nicht vorstellen, wie das Rad zurückgedreht werden kann. Denn ganz egal, wie man zu Netanjahu steht: Er ist international das Feindbild schlechthin. So lange er an der Macht bleibt, so lange wird sich auch das Bild Israels nicht ändern, egal, was er tut oder nicht tut. Aber wir haben ja gesehen, wie sich in den Jahren 2021, 2022 mit der Regierung Bennett/Lapid – und das war wahrlich keine linke Regierung – die Tonlage und der Umgang mit Israel verändert haben. Aber eines muss man auch verstehen: Das Israel vom „6. Oktober“ gibt es nicht mehr.

Die Regierung Netanjahu nimmt die physische und psychische Bedrohung der jüdischen Diaspora, auch wesentlich verstärkt seit dem 7. Oktober, nicht ernst. Natürlich ist der Sieben-Fronten-Krieg derzeit wesentlich dringlicher. Wird von der Diaspora nur Kuschen und Geldspenden erwartet?

I Diese Einstellung ist schon seit 20 Jahren vorbei. Dafür gibt es zwei Gründe. Die wichtigste DiasporaGemeinschaft ist in den USA, und sie wird immer liberaler. Die amerikanischen Juden haben sich schon längst mehrheitlich von Israel abgewandt, das zunehmend nationalistischer, „tribal-religiöser“ wird. Die ältere Generation kannte noch die existenziellen Kriege Israels 1948, 1967 und 1973, als es tatsächlich darum ging, dass der Staat überlebt. Aber die jüngere Generation hat ganz andere Bilder im Kopf: Die Besatzung, die erste und zweite Intifada, den Einmarsch in Beirut 1982, die Bombardements von Gaza, die Gewalt der Siedler. Das bedeutet, dass für junge US-Juden Israel nicht mehr das Land ist, das ihr Judentum repräsentiert.

Und der zweite Grund?

I Netanjahu verlässt sich lieber auf 50 Millionen Evangelikale als auf sechs Millionen jüdische Amerikaner. Amerikanische Juden wählen traditionell zu rund 70 Prozent Demokraten. Nationalisten wie Netanjahu sind diese US-Juden nicht mehr wichtig.

Sind Sie für das neue jüdische Jahr 5785 pessimistisch oder optimistisch?

I Ich mache mir große Sorgen.


* Yair Golan ist ein israelischer Politiker, der von Dezember 2014 bis Mai 2017 stellvertretender Chef des Generalstabs der IDF war. Er studierte Politikwissenschaften an der Universität Tel Aviv, erwarb danach einen Master an der Harvard University. Im Juni 2019 schloss sich Golan dem Wahlbündnis Demokratische Union von Ehud Barak an und zog bei der Wahl im September 2019 als Abgeordneter in die Knesset ein. Golan ist verheiratet und hat fünf Kinder.

 

RICHARD C. SCHNEIDER1957 als Sohn ungarischer Shoah-Überlebender in München geboren, studierte er ebendort an der Ludwig-Maximilians-Universität Germanistik, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie und schloss 1983 mit dem Magister Artium ab. Es folgte ein Stipendium des DAAD für eine Dissertation über die Anfänge des jiddischen Theaters.Bereits während seines Studiums arbeitete Schneider als Regieassistent mit Größen wie George Tabori, Andras Fricsay und Peter Zadek am Bayerischen Staatsschauspiel, an den Kammerspielen München sowie am Schauspielhaus Bonn zusammen. 1985–1986 baute er die Musical-Schule des Theaters an der Wien als Studioleiter unter Peter Weck auf. Doch bald entdeckte er seine Leidenschaft für den Journalismus und sattelte um.Ab 1989 berichtete Schneider regelmäßig für die ARD aus dem Nahen Osten. Ab 2006 wurde er einem breiteren Publikum als Studioleiter und Chefkorrespondent des ARD Studios in Tel Aviv bekannt, wo er bis 2016 für Israel, die palästinensischen Gebiete und Zypern verantwortlich war. Danach übernahm Schneider das ARD-Studio Rom, das für Italien, Griechenland, Malta und den Vatikan zuständig war. Ab 2017 arbeitete der passionierte Journalist als „Editor-at-Large“ für die ARD, das bedeutet, dass er nur noch Dokumentationen und Reportagen, wie z. B. die vierteilige Serie Die Sache mit den Juden über Antisemitismus in Deutschland drehte. Seit 2021 arbeitet er für den Spiegel als Autor in Israel und den palästinensischen Gebieten.Als Filmemacher kreierte er mehrere hundert Dokumentationen und Reportagen in Nahost, Europa und USA, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Bekannt wurde Schneider auch als regelmäßiger Autor für Medien wie die Zeit, die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel und die Wochenzeitschrift profil sowie für zahlreiche internationale Magazine.Sein jüngstes Buch erschien 2023 bei DVA: Die Sache mit Israel: Fünf Fragen zu einem komplizierten Land. Schneider spricht neben seiner Muttersprache Deutsch Englisch, Französisch, Hebräisch, Ungarisch, Jiddisch, Italienisch und Niederländisch.

 

 

 

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