Zwei Männer und eine Frau in Uniform klopfen um drei Uhr morgens an die Tür des kleinen Häuschens einer alleinstehenden Mutter. Es dauert eine gute halbe Stunde, bis diese öffnet. Wahrscheinlich hat sie das unheilvolle Klopfen mitten in einem schweren Traum erreicht – Eltern, deren Kinder im Krieg sind, schlafen nicht ruhig. Ob es Abwehr ist oder Schlaftabletten – die verzweifelte Mutter versteht erst am nächsten Tag voll, was geschehen ist: dass nämlich ihr einziger Sohn gefallen ist.
Knapp 900 israelische Reservisten und Berufssoldaten sind seit Beginn des Gazakrieges gefallen oder im Rahmen ihres Armeedienstes umgekommen. Es waren die hohen Verlustzahlen der immer wiederkehrenden Kriege, die dazu geführt haben, dass 1975, zwei Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg, in der israelischen Armee die Einheit der „Modiei Nifgaim“ – wörtlich übersetzt: der „Ankündiger der Verwundeten oder der Kriegsopfer“ – in ihrer jetzigen Form geschaffen wurde. Aufgabe dieser Einheit ist es, die Nachricht vom Tod oder von einer lebensbedrohlichen Verletzung eines Soldaten persönlich an die nächsten Verwandten zu überbringen. Im vergangenen Jahr arbeiteten die unheilbringenden Boten auf Hochtouren.
Rasches Handeln, wertvolle Betreuung. Fällt ein Soldat oder eine Soldatin, oder ist jemand so schwer verletzt, dass er nicht mehr selbst sprechen kann, hat die Einheit der Modiei Nifgaim die Aufgabe, die betroffene Familie als Erste zu informieren. Eine Aufgabe, die im Zeitalter der Social Media immer schwieriger wird. Deswegen ziehen sie oft mitten in der Nacht los und klopfen oder läuten die Familien aus dem Schlaf, damit diese nicht am Morgen auf Facebook entdecken müssen, dass die Tochter oder der Ehemann gefallen oder schwer verletzt sind. Dabei geht es darum, dass die Familien persönlich informiert und betreut werden und dass alle Informationen akribisch überprüft und richtig sind. Aufgabe der Einheit der „Nachrichtenüberbringer“ ist dabei nicht nur, die Familie schnellstmöglich in Kenntnis zu setzen, sondern auch, sie während der ersten Woche nach dem Unglück zu betreuen. Die Offifiziere sitzen, wenn nötig, in den ersten Stunden mit den geschockten Familienmitgliedern, organisieren das Begräbnis und die Schiv’a*, schauen jeden Tag vorbei und sind offen für alle Fragen. Erst dann übernimmt die ursprüngliche Einheit des oder der Gefallenen oder Verletzten die weitere Betreuung.
Abschied, Trauer, Resilienz. Manche Betroffenen nennen sie die Todesengel, doch für die meisten Familien sind sie der rettende Anker, die stützenden Begleiter, die sie behutsam bei dieser Transition vom Leben vor dem Unglück in das Leben danach begleiten. Ihre Einheit steht für Zusammenhalt, Resilienz und Hoffnung, und auf dem Abzeichen neben dem blaugelben Achselband ihrer Uniform steht der Leitsatz „Tiefe der Gedanken, Weite des Herzens“. Viele volontieren für diesen Job, auch wenn sie gar nicht mehr in der Armee dienen müssten, einfach, weil sie in dieser Aufgabe einen wichtigen Beitrag sehen. Doch der Stress war für die Modiei Nifgaim im vergangenen Jahr teilweise nur noch schwer zu bewältigen. Seit dem 7. Oktober und dem folgenden Krieg gab es für sie so viele Einsätze wie nie zuvor. Die Teams, die davor im Schnitt etwa zwei Mal im Jahr aktiv werden mussten, arbeiteten unter großem Druck und mussten nun oft sogar zwei Mal am Tag ausrücken. Sie müssen jederzeit einsatzbereit sein, denn man kann nie wissen, wann das Schicksal in der Region, für die sie zuständig sind, zuschlägt.
Oft treffen sich die drei Soldaten erst vor dem Haus der betroffenen Familie und besprechen sich kurz, bevor sie anläuten oder -klopfen. Mit diesem Klopfen wird sich das gesamte Leben in diesem Haus mit einem Schlag verändern. Das Lachen, dass sie vielleicht noch zuvor durch die Tür aus dem Wohnzimmer hören konnten, wird dann für lange Zeit verstummen. Die Boten sind bei dieser schweren Aufgabe immer zu dritt. Nummer Zwei und Drei assistieren, sind für die Informationen, Ermittlungen und den Kontakt zur Zentrale zuständig. Der erste Offifizier ist derjenige, der die gefürchtete Nachricht überbringt. Er oder sie werden oft zur Zielscheibe der ersten verzweifelten Reaktionen der geschockten Eltern oder Ehepartner. Manchmal sickert das Verstehen erst langsam ein, an anderen Tagen bekommen die Überbringer die erste blinde Wut ab, Wut auf das Schicksal, den Staat oder die Armee und auf alle, denen sie die Schuld an ihrem Verlust geben. Oder aber sie treffen auf Ungläubigkeit und Hilflflosigkeit angesichts der Tatsache, dass der geliebte Mensch für immer verloren ist. In seltenen Fällen werden die Boten sogar physisch attackiert. Wie steht man diesen Job durch, wie erträgt man das Leid, die Verzweiflung und die Aggressionen, denen man ständig ausgesetzt ist?
Viele dieser beeindruckend starken und bodenständigen Soldaten und Soldatinnen volontieren schon seit vielen Jahren für ihre Einheit. Sie erhalten Unterstützung von ihren eigenen Familien, von ihrem Team oder in therapeutischen Gesprächen. Aber ihre größte Kraftquelle ist das Gefühl der Mission, die Wichtigkeit und Größe, die sie in ihrer Aufgabe sehen, in der Aufgabe, andere Menschen in den schwersten Momenten ihres Lebens zu begleiten. Es geht darum, die betroffenen Eltern, Ehepartner, Kinder oder Geschwister nach dem ersten Schock aufzufangen, sie zu unterstützen und zu umhegen, ihnen alle bürokratischen und organisatorischen Erledigungen abzunehmen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein sind. Die Angst um ihre eigenen Partner, Söhne oder Töchter müssen die Boten dann allein meistern. Das Klopfen kann schließlich jeden treffen.
*Als Schiv’a wird das gemeinsame Trauern von Familie und Freunden in den ersten sieben Tagen bezeichnet.