Das gewohnte Rollenspiel durchbrechen

Der Berliner Autor Max Czollek hat mit dem Buch Desintegriert euch eine vielbeachtete Streitschrift geschrieben. Im Interview spricht er über „Jewporn“, das deutsch-jüdische Gedächtnistheater, und gibt eine Anleitung, wie man sich erfolgreich desintegrieren kann.

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Max Czollek: Desintegriert euch! Hanser 2018, 208 S., € 18

WINA: Herr Czollek, Sie fordern: „Desintegriert euch!“ Was soll das heißen?
Max Czollek: Desintegration heißt, sich bewusst zu werden, dass Juden und Jüdinnen eine bestimmte Funktion für das deutsche Selbstbild erfüllen. Diese Funktionalisierung äußert sich in der Festlegung der jüdischen Seite auf die Themen Antisemitismus, Schoah und Israel. Desintegration bedeutet, danach zu fragen, was man eigentlich ist, wenn man diese Themen weglässt. Unter Umständen öffnet sich zunächst eine große Leere, die natürlich auch historisch begründet ist. Die kann man dann füllen. Wir stehen gerade ganz am Anfang.

Ein zentrales Modell in Ihrem Buch ist das so genannte „Gedächtnistheater“. Ein Begriff des Soziologen Y. Michal Bodemann, der damit das Verhältnis zwischen deutscher Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit beschrieb: Bodemann zufolge besteht die Funktion der Juden vor allem darin, die Wiedergutwerdung der Deutschen zu bestätigen.
Klar. Ich war mal bei einer Veranstaltung mit einem ehemaligen Mitglied des Zentralrats. Der Titel war Juden in Deutschland heute. Und das Gespräch befasste sich 90 Minuten mit Antisemiten in Deutschland heute. Ungelogen. Oder eine andere Veranstaltung, bei der die Moderatorin mich zum Auftakt fragte: „Dürfen auch wir als Nachkommen der Tätergeneration über Auschwitz lachen?“ Meisterhaft. Mit einem einzigen Satz hatte sie das gewohnte Rollenspiel eröffnet.

Und Sie sind dabei der Jude, der über das Lachen oder Nicht-Lachen der Deutschen zu befinden hat.
Ich finde diese Frage nach der jüdischen Erlaubnis absurd, denn wer hätte je von einem Deutschen gehört, der sich durch ein jüdisches Verbot von irgendetwas abbringen ließe. Mit ihrer Frage eröffnete die Moderatorin einfach nur eine weitere Folge in der Endlosserie Gedächtnistheater – Buchenwald statt Lindenstraße, aber mit einer ähnlichen Berechenbarkeit. Die guten Deutschen wollten Fragen stellen, auf die sie die Antwort schon wussten. Aber die Juden sollten es noch mal sagen.

Es klingt, als erlebten Sie das regelmäßig.
Ständig. Man sitzt nach einer Lesung in der Kneipe und isst einen Käse oder trinkt einen Bananensaft. Und plötzlich kommt jemand und will total gerne über Desintegration reden. Ich denke mir, cool, vielleicht geht’s ja wirklich ums Thema. Aber nach zwei Wortwechseln merke ich, die andere Seite hört mir gar nicht richtig zu. Es ist ihr egal, was ich sage, denn eigentlich geht es nur um den Akt des Redens selbst, darum, dass sie mir etwas erzählen will.

»Das Versprechen der Desintegration ist nicht
die Gutwerdung der Juden,
sondern ein größeres Maß an Selbstbestimmung.«

Max Czollek

Die eigene Familiengeschichte?
Genau, früher oder später bekomme ich eigentlich immer irgendeine private Nazigeschichte aufgetischt. Und denke mir so Dinge wie: Das war nicht der Deal, als wir angefangen haben zu reden. Das interessiert mich nicht. Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann denen doch auch nicht helfen.

Wieso werden diese Geschichten gerade Ihnen erzählt?
Das ist Gedächtnistheater. Sie erzählen diese Geschichte ja nicht jedem. So ein wohlgehütetes Geheimnis erzählt man nur dem Juden, der wird’s verstehen. Eine skurrile Situation. Nach jedem dieser Gespräche fühle ich mich so leer, als hätte nur mein Gegenüber Spaß gehabt, während ich den Impuls unterdrücke, ihm oder ihr hinterherzurufen: Mach es dir beim nächsten Mal doch alleine.

Sie nennen das „Jewporn“.
Man holt sich den Juden, um sich selbst an der eigenen Geschichte zu befriedigen. Dass ich solche Erwartungen nicht erfüllen möchte, ist Teil der Desintegration. Zu sagen: Wir spielen da nicht mit, wir durchschauen diese Funktionalisierung als Vorlage für eine Selbstbefriedigung. Desintegration bedeutet, einen Raum zu schaffen, in dem andere Dinge möglich sind.

Welche Mittel gibt es, um aus dem Gedächtnistheater auszubrechen?
Fiktive und reale. Zunächst waren da ungewohnte öffentliche Haltungen. Dinge wie Rache, Wut oder Sarkasmus. Dann der Rückgriff auf reale narrative Ressourcen: Neunzig Prozent der Juden heute in Deutschland kommen ursprünglich aus Osteuropa und haben damals als Sowjets nicht Auschwitz überlebt, nein, die haben Auschwitz befreit. Das ist viel aktiver als diese Opferfigur, die immer nur aus Auschwitz befreit wurde. Desintegration bedeutet die Unterbrechung der Inszenierung der geläuterten deutschen (oder österreichischen) Gesellschaft.

Haben Sie konkrete Beispiele für Desintegration?
Schon länger plane ich mit den Weisen von Zion eine Aktion, bei der wir alle Koffer aus den Holocaust-Sektionen der historischen Museen klauen und ein anonymes Schreiben veröffentlichen, in dem mit Zeitungsbuchstaben steht: Wir holen uns nur zurück, was uns sowieso gehört. Die Dauerleihgabe ist wiederrufen. Oder wir fordern eine Judenquote für die Deutsche Bank. Oder eine Bahncard 100 für alle Juden und Jüdinnen. Oder Eintritt am Holocaust-Mahnmal in Berlin.

Sie sprechen auch die Rolle der heutigen Jugend an.
Ja, die hat mit der WM 2006 entschieden, dass sie keine Lust mehr hat, sich die ganze Zeit an die deutschen Verbrechen zu erinnern. Jetzt stehen wieder Deutschlandfahne und Heimat auf dem Programm. So ist die Dominanzkultur. Vor acht Jahrzehnten hat sie eben entschieden, kein Problem damit zu haben, Menschen, die als Juden markiert wurden, auszuschließen, zu enteignen, zu vernichten. Potatoes gonna potate. Wenn das der Deal ist, dann bedeutet Desintegration, dass wir da nicht mehr mitspielen. Macht eure AfD und eure jüdisch-christliche Tradition, eure Integration und euer Heimatministerium doch alleine!

Laut einer Befragung der Bertelsmann-Stiftung ist die Wiedervereinigung das wichtigste Ereignis für die Deutschen im 20. Jahrhundert.
Klar sagen die das, aber was genau heißt das? Ich würde sagen, in dem Ergebnis drückt sich der Wunsch aus, dass die Wiedervereinigung so wichtig wäre. Wiedervereinigung klingt ja auch schöner als Schoah. Ich glaube aber, dass das nicht stimmt. Und man kann das ja auch an der aktuellen politischen Situation sehen: Die Leute sind noch nicht fertig mit dem verlorenen Zweiten Weltkrieg; die haben noch überhaupt nicht bewältigt, was damals passiert ist. Deutschland und Österreich sind postnationalsozialistische Gesellschaften.

Das Gedächtnistheater hat auch mit der 68er-Generation zu tun, schreiben Sie.
Die 68er haben etabliert, was wir heute als Erinnerungskultur erleben. Die haben zu ihren Vätern gesagt: Was hast du getan? Ich grenze mich von dir ab, ich habe nichts mit dir zu tun. Das war natürlich wichtig, aber Vatermord macht halt auch Spaß. In meiner Generation (Czollek ist 31, Anm.) ist die ganze Sache zwar noch wichtig, macht aber keinen Spaß mehr. Positiver Nationalismus und Deutschlandfahnen sind witziger. Und alle, die was dagegen sagen, sind retro oder Spielverderber.

Ihr Buch wird in Deutschland breit rezipiert. In Österreich kaum.
Ich denke, Desintegriert euch ist auch für Österreich wichtig. Gerade mit dem Rechtsruck, der bei euch ja schon Realität ist. Aber klar, Österreich steht in einem anderen Verhältnis zur deutschen Geschichte als Deutschland. Das österreichische Selbstbild, erstes Opfer der Nazis gewesen zu sein, ist eine Entlastungserzählung. Sie macht es möglich, sich selbst zu entkoppeln. Aber es ist eine Selbstlüge.

Sie schreiben, wer sich dem Gedächtnistheater entzieht, geht das Risiko ein, soziale und materielle Anerkennung in der deutschen Dominanzkultur zu verlieren. Beweist die Aufmerksamkeit, die Ihr Buch erhält, nicht das Gegenteil?
Sicherlich ist mein Buch auch Teil des Gedächtnistheaters. Man kommt da nicht raus. Und ich halte das Versprechen der Gutheit auch für ein großes Problem. Juden sind nicht gut. Desintegration bedeutet, die eigene Rolle und das eigene Begehren nach Anerkennung zu reflektieren. Inwiefern haben wir Teil an unseren eigenen Klischees? Desintegration bedeutet aber nicht, sich dem Gedächtnistheater vollständig zu entziehen. Das ist unmöglich.

Sondern?
Desintegration beschreibt einen Versuch, handlungsfähig zu werden, zu sagen: Wenn ihr dieses Spiel spielen wollt, dann spielen wir dieses Spiel. Wenn wir also eure Juden sind, dann seid ihr auch unsere Kartoffeln. Dabei entsteht im besten Fall ein größerer Spielraum. Das Versprechen der Desintegration ist nicht die Gutwerdung der Juden, sondern ein größeres Maß an Selbstbestimmung.

Damit geht auch ein größeres Maß an Abgründigkeit einher, schreiben Sie.
Ein wesentlicher Teil der deutschen und österreichischen Gesellschaft hat sich vor acht Jahrzehnten angemaßt, deine Leute umzubringen. Was ist das für eine unfassbare Kränkung? Und was ist es anderes als abgründig, weiter an diesem Ort und zwischen den Nachkommen dieser Mörder und Dulder zu leben? Es braucht Raum für Fragen wie diese, Raum für Wut und Raum für negative Gefühle. Den gab es bisher im jüdischen Selbstbild in Deutschland nicht. Wir sind keine guten Opfer, wir sind böse Opfer. Wir müssen uns nicht mit irgendjemandem versöhnen. Vielmehr fordere ich einen Zusatz zum Grundgesetz: Es wird nie wieder alles gut.

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