Das Hufeisen meines Großvaters

Sentimental Journey in die „Vaterstadt“. Auf Spurensuche im einstigen Bielitz, dem heutigen Bielsko-Biala.

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Wir haben es gefunden! Das Hufeisen am Treppenabsatz ist immer noch da. © Konrad Holzer; 123 RF

Vaters Augen blitzten noch blauer, wenn er diesen Ort erwähnte. Und er erwähnte ihn oft. Bielitz, die Stadt, in der er geboren wurde und seine Jugend verbrachte, war bis zu seinem Tod verklärt. Seine Erinnerungen an das Elternhaus, die Schulzeit, Freundschaften, ja sogar an seine erste Liebe teilte er freigiebigst mit uns, und so waren uns Anekdoten von Mitschülern, Professoren und deren Namen vertraut, ja Teil unseres Familienlebens.

Kakanisch. Bielitz, das muss vor dem Krieg ein ganz wunderbares, einzigartiges Städtchen gewesen sein, noch umstrahlt vom Glanz der untergegangen Monarchie, zu der es, in Schlesien gelegen, einst gehörte. „Ich hab’ in der Volksschule noch das Gott erhalte gesungen“, schwärmte mein Vater, Jahrgang 1911. Und Großvater, geboren am 50. Geburtstag des Kaisers, war ganz sicherlich ein Monarchist. Sein erstes Kind, eine Tochter, nannte er schließlich Josefa. Als Kaufmann gehörte er der jüdischen Mittelschicht an, war religiös, aber nicht orthodox. Man hielt den Schabbat und war selbstverständlich koscher, liebte und verehrte aber gleichzeitig die deutsch-österreichische Kultur. Man rezitierte Heine, Großvater hieß Heinrich, und orientierte sich nach der Reichshauptstadt. Im Stadttheater, das noch heute aussieht wie eben derlei Theater im ganzen kakanischen Raum, gastierten die damaligen Stars aus Burg und Oper, und Bielitz nannte sich stolz „Klein Wien“.
Sogar als es gemeinsam mit dem ehemals galizischen Biala als Doppelstadt Bielsko-Biala Polen zugeschlagen wurde, blieb es eine deutsche Sprachinsel, was nicht zuletzt seiner jüdischen Bevölkerung zu verdanken war, deren Anteil bei gut 20 Prozent lag. Vaters Muttersprache war Deutsch, Polnisch sprach er aber genauso gut.
Zum Talmud-Studium ging er in den Cheder, aber eben auch in das Deutsche Gymnasium, in dem fast die Hälfte der Schüler Juden waren, samstags allerdings ohne zu schreiben, wie er stets betonte. Zionistische Jugendvereine bereiteten auf die Landarbeit in Palästina vor, aber ebenso begeistert traf man sich zum Tanzen beim „Five o’Clock Tea“ im noblen Hotel, fuhr Schi und wanderte in den nahen Beskiden.
Seit Jahrhunderten ein blühendes Zentrum der Textilindustrie mit zahlreichen riesigen Tuchfabriken, hatte es die Stadt zu beachtlichem Wohlstand gebracht, der sich im Lebensstil und in der Architektur niederschlug. Fabrikantenvillen, Jugendstilgebäude, elegante Einkaufsstraßen und beeindruckende Industriebauten prägten ihren Charakter. Ein imposanter Tempel in Bielitz und ein etwas bescheidenerer im angrenzenden Biala zeugten von der selbstbewussten jüdischen Präsenz.
Im September 1939, nach dem kurzen verlorenen Feldzug gegen Deutschland, sprengte die SS die beiden Synagogen und ghettoisierte die jüdische Bevölkerung. Vater, der als Offizier eingerückt gewesen war, kam in Kriegsgefangenschaft in ein ungarisches Lager. Bielitz war und blieb fortan Vergangenheit.

Bielitz war vor dem Krieg noch umstrahlt vom Glanz der untergegangenen Monarchie.

Lokalaugenschein. Es muss um das Jahr 1963 gewesen sein, als er beschloss, den Sehnsuchtsort aufzusuchen und seiner Familie zu zeigen. Nach allem, was wir gehört hatten, waren unsere Erwartungen hoch und die Enttäuschung tief. Mitten im Kommunismus und noch gezeichnet vom Krieg, präsentierte sich die Stadt elend und grau. Zu essen gab es so gut wie nichts, und unser Hotel war fast so trist wie der jüdische Friedhof, auf dem wir das Grab meines nie gekannten Großvaters aufsuchten, der im Ghetto gestorben war, bevor es aufgelöst und alle Juden in das nahegelegene Auschwitz deportiert wurden. Als dieser Friedhof 1966 aufgelassen wurde, gelang es meinem Vater, die Gebeine seines Vaters exhumieren und nach Israel überführen zu lassen. Er wollte ein Grab haben, eines für alle Angehörigen, die keines hatten.
Wieder war Bielitz fern, und der kurze Realitätscheck konnte gegen die nostalgische Verklärung nicht aufkommen.

„Wollt Ihr einmal nach Bielitz fahren?“, fragte ich meine Verwandten in Israel. Deren Vater hatte sie offenbar mit dem gleichen Bielitz-Virus infiziert, obwohl er nach erfolgreicher Hachshara im Bielitzer Umland bereits vor dem Krieg nach Palästina ausgewandert war. Cousin und Cousine waren sofort begeistert, kamen nach Wien, und wir machten uns gemeinsam mit meiner Schwester Livia zu viert auf die Reise. Zuvor hatten wir noch unseren berühmten Verwandten, den israelischen Politikwissenschaftler Shlomo Avineri zu Rate gezogen, der 1933 in Bielitz geboren wurde und es wiederholt besucht hatte. Er nannte uns einen auf die jüdische Geschichte von Bielitz spezialisierten Historiker.

Der prominente
Politologe Shlomo
Avineri,
als Jerzy Wiener 1933 in Bielitz geboren, besucht die Stadt häufig. © Konrad Holzer; 123 RF

Eigentlich ist es ja ganz nah, bald nach Brünn, Olmütz und der tschechischen Grenze ist man schon da. Im Hotel President, dem ehemaligen Hotel Kaiserhof, dem man seine glanzvolle kakanische Vergangenheit noch ansieht, stiegen wir ab. Gegenüber, in einem ungleich schäbigeren Gebäude, befindet sich fast versteckt der Sitz der jüdischen Gemeinde der Stadt, wo uns besagter Historiker, Jacek Proszyk, empfing. Er interessiert sich als Nicht-Jude seit Jahrzehnten leidenschaftlich für die jüdische Geschichte Polens, hat an der Hebräischen Universität in Jerusalem studiert, unter anderem einen Index jüdischer Grabsteine in ganz Polen erstellt und Dokumente und rituelle Gegenstände jüdischen Lebens gesammelt. Seine Publikation Die Geschichte der Juden in Bielitz und Biala zwischen dem 17. Jahrhundert und 1939 liegt leider nur auf Polnisch vor, zur Übersetzung fehlen die Mittel. Seit 25 Jahren arbeitet Proszyk ehrenamtlich in der Gemeinde, betreut deren Archiv, hat dort die Schlüsselgewalt und führt uns durch die bescheidenen Räume, wo zu den Hohen Feiertagen auch gebetet wird. Etwa 200 bis 300 Juden leben noch in der Stadt, darunter viele „gemischte“ Paare, den letzten Rabbiner gab es hier 1950. Ein mit einer Menora ausgeschilderter Pfad Auf den Spuren jüdischer Kultur führt heute zu den Leerstellen, wo einst die Synagogen standen, bis hin zum jüdischen Friedhof. Auch eine Route Klein Wien wird angeboten, touristisch scheint die mittlerweile auf das Sauberste herausgeputzte Stadt also ihr historisches Erbe gut zu vermarkten.

Den letzten Rabbiner gab es hier 1950.

Das Hufeisen. Schnell findet der Historiker im Computer die Namen unserer Großväter in den digitalisierten Geburtsmatrikeln, samt Hebamme und Mohel. Eigentlich, erzählte Papa oft, sei er ja bereits am 31. Oktober zur Welt gekommen, als Hausgeburt, sein Vater habe aber den 1. November als Geburtsdatum angegeben, also Allerheiligen, denn „der Bub soll an seinem Geburtstag immer schulfrei haben.“ Und danach habe er ein Hufeisen im Stiegenhaus angebracht, als Glücksbringer.

Der große Tempel, 1939 gesprengt, auf einem alten Aquarell.

Herr Proszyk deutet auf das Dokument. Lebensbrunngasse 4 ist da als Adresse des Geburtshauses verzeichnet. Nachdem wir den polnischen Namen der einst lebensfrohen Gasse eruiert haben, machen wir uns auf die Suche und fragen einen gut gekleideten jüngeren Mann mit Aktentasche, dem wir Englischkenntnisse zutrauen, nach dem Weg. Sofort bietet er an, uns zu begleiten, er habe gerade Zeit.
Auf den wenigen hundert Metern bis zu unserem Ziel erfahren wir auch, warum. Er komme gerade vom Gericht, erzählt er, seine Frau wollte sich von ihm scheiden lassen, aber der Richter habe die Scheidung aufgeschoben, was ihn sehr freue, denn sie hätten zwei kleine Kinder, und er wolle sich eigentlich gar nicht trennen. Nach der kurzen Verhandlung wollte er mit seiner Frau noch auf einen Kaffee gehen, sie habe aber abgelehnt. Nun hätte er also Zeit.
Bald entdecken wir das kleine, versteckt liegende Haus. Die Eingangstür ist offen. Gleich am Absatz der Holztreppe sehen wir es: das Hufeisen! Unglaublich!
Im ersten Stock gibt es nur eine Wohnung. Eine junge Frau öffnet und lässt uns eintreten, nachdem wir ihr erklärt haben, dass dies die Wohnung unserer Großeltern sein müsse. Alles wirkt so, als hätte sich hier in den letzten über 100 Jahren nicht sehr viel verändert.
Im Stiegenhaus erzählen wir der jungen Bewohnerin die Geschichte vom Hufeisen, an dem sie Tag für Tag vorbeigeht. Da beginnt sie fast zu weinen, und auch unser junger Begleiter ist gerührt. Er fotografiert uns wiederholt und will sich offenbar gar nicht von uns trennen.
Tags darauf finden wir auch das frühere „Lerchenfeld“, wo man die jüdische Bevölkerung der Stadt in wenigen Häusern ghettoisierte. Misstrauisch beobachten uns einige ältere Menschen, die jetzt dort wohnen. Nein, von einem Ghetto wollen sie nichts wissen, obwohl stellenweise sogar noch die verrosteten Stacheldrähte zu sehen sind, die das Gelände einzäunten, das man nur in eine Richtung verlassen konnte, nach Auschwitz.
Wir suchen noch eine Adresse auf der ehemaligen Kaiserstraße, die auf der Strecke von Wien nach Lemberg lag. Dort stand das Haus, das meine Großeltern kauften, als mein Vater bereits zur Schule ging, und in dem die Familie bis zu ihrer Vertreibung wohnte. Meine Tante, die nach dem Krieg nach Bielitz zurückgekehrt war, verkaufte es, und es wurde abgerissen. Ein Foto davon stand bei uns daheim am Schreibtisch und steht jetzt bei mir. Das Vaterhaus aus der Vaterstadt, die keine Gräber hat.

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