Das kurze und heftige Leben des Amedeo Modigliani

Dem genialen Werk des jüdischen Italieners widmet die Wiener Albertina eine beeindruckende Retrospektive zu seinem 100. Todestag.

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Amedeo Modigliani in seinem Atelier in Paris 1915. © Archives Jean Bouret

MODIGLIANI
REVOLUTION DES PRIMITIVISMUS
ist bis 9. Jänner 2022 in der Albertina zu sehen

Pablo Picasso war eitel und heikel, daher ließ er sich auch nicht von Künstlerkollegen porträtieren. Nur bei einem engen Freund machte er eine Ausnahme: Amedeo Modigliani durfte sogar zwei Porträts von ihm anfertigen – und beide sind derzeit in der WienerAlbertina zu bewundern. Mit insgesamt 80 seiner Werke würdigt die Albertina Amedeo Modigliani (1884–1920) anlässlich seines 100. Todestages im Vorjahr. Aufgrund der Pandemie musste die Schau auf heuer verschoben werden: Nun wird dieser faszinierende, unverkennbare Künstler erstmals auch in Österreich umfassend gezeigt. Obwohl er zeitlebens wenig erfolgreich war, erzielen seine Werke heute dreistellige Millionenbeträge. Als „eines der größten Genies der klassischen Moderne“ bezeichnete Direktor Klaus Albrecht Schröder den Künstler bei der Ausstellungseröffnung. Diese umfangreiche Retrospektive vereint jetzt in Wien Modiglianis Hauptwerke aus den renommiertesten Museen und Privatsammlungen von den USA bis Singapur, von Großbritannien bis Russland mit größeren Leihgaben aus dem Musée Picasso Paris und der Sammlung Jonas Netter, der ein großer Förderer Modiglianis zu seinen Lebzeiten war.

Das Außergewöhnliche an dieser auch kunsthistorisch faszinierenden Schau von insgesamt 130 Objekten ist aber der Zugang und die Aufklärung über die Ursprünge dieser Kunst: Denn obwohl sich Modigliani in seinen Werken einerseits auf die Renaissance bezog, griff er andererseits auch afrikanische, ägyptische, ostasiatische und griechischarchaische Kunst auf. Auf diese lebenslange Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Kunst legt der Kurator Marc Restellini, Kunsthistoriker und Herausgeber des Werkverzeichnisses der Gemälde Amedeo Modiglianis, besonderes Augenmerk: Dem Œuvre des jüdischen Ita-lieners werden Werke seiner Freunde in Paris, wie Pablo Picasso, Constantin Brancusi und André Derain, sowie Artefakte prähistorischer und außereuropäischer Weltkulturen gegenübergestellt. Und obwohl sich Modigliani inmitten des Pariser Montmartre mit den Größen seiner Zeit in ständigem Austausch und manchmal auch im Alkoholrausch befand, wurde ihm in seiner kurzen Lebenszeit von nur 35 Jahren die verdiente Anerkennung verwehrt: Er blieb stets ein Außenseiter und Einzelgänger, der seinen eigenen Stil verfolgte.

»Das kleine t am Ende des Wortes Pier-rot ist so geschrieben,
dass man es auch als roi,
also König lesen könnte: König der Steine.«
Daniel Benyes

Amedeo Clemente Modigliani wird 1884 als viertes und jüngstes Kind einer verarmten jüdisch-sephardischen Familie im toskanischen Livorno geboren. Sein Vater ist als Holz- und Kohlehändler infolge der schlechten Wirtschaftslage bankrott gegangen. Modiglianis ursprünglich aus Marseille stammende Mutter Eugenie Garsin trägt als Übersetzerin und Privatlehrerin maßgeblich zum Familienunterhalt bei. „Die Mitglieder beider Familien, Modigliani und Garsin, die nahezu gleichzeitig geschäftlich vor dem Ruin standen, teilten sich ein Haus; jeder arbeitete, um zu überleben. In einer freudlosnüchternen Atmosphäre von Arbeit und Verzicht verbrachte Dedo – so der Kosename für den Jüngsten – seine ersten Lebensjahre“, schreibt Paul Alexandre, Dermatologe und erster Mäzen von Modigliani, den der Künstler auch oft zeichnete.

Mädchen mit rotem Haar (1918). Bildnisse konstruiert Modigliani oft aus ovalen, maskenhaften Gesichtern mit zylindrischen, langen Hälsen. © Fonds de dotation Jonas Netter; Private collection

Im Alter von elf Jahren erkrankt Amedeo an einer schweren Rippenfellentzündung. Nach Erzählungen seiner Mutter soll er in einem seiner kindlichen Fieberträume von seiner Bestimmung als Künstler fantasiert haben.
Nach seiner Genesung erhält Modigliani von seinen Eltern die Erlaubnis, die Schule abzubrechen und ein Kunststudium zu beginnen. Insbesondere die Mutter fördert sein Talent, bringt ihm auch früh Französisch bei, was ihm sein späteres Leben in Paris erleichtert. Mit 14 Jahren erkrankt er an Typhus, später leidet er an chronischer Tuberkulose, die letztlich auch zu seinem frühen Tod führt. 1898 verlässt Modigliani die Oberschule und wird jüngster Schüler einer privaten Kunstschule. 1902 wechselt er an die Akademien von Florenz und Venedig. Nur zwei Jahre später zieht Modigliani nach Paris, ins damalige internationale Zentrum der Künste. Die Stadt wird zum Schmelztiegel der Avantgarde: Spanische, italienische und russische Künstler werden zu Repräsentanten der École de Paris: Pablo Picasso, Constantin Brancusi und Diego Rivera wirken hier – kein Wunder also, dass es auch den 22-jährigen Modigliani, den die Pariser Bohème bald „Modi“ nennt, in die Seine-Metropole zieht. Insgesamt wird Modigliani – unterbrochen durch Reisen in seine Heimat – vierzehn Jahre in Paris leben.

Jeanne Hébuterne (1918). Kunststudentin, die große Liebe und Verlobte Modiglianis. © Fonds de dotation Jonas Netter; Private collection

Fauvismus und Kubismus. Von 1909 bis 1914 widmet sich Modigliani der Bildhauerei und schließt sich dem rumänischen Exilanten Brancusi an. Unter dem Einfluss von Gauguins Schaffen orientieren sie sich an außereuropäischer und archaischer Kunst. 1912 präsentiert Modigliani Skulpturen im renommierten Salon d’Automne. Die strenge, überlange Form von Modiglianis Steinskulpturen wird später auch für seine Malerei stilprägend. Der Erfolg in der Bildhauerei lässt auf sich warten, zudem ist das anstrengende und Staub produzierende Behauen der Steine der Gesundheit des chronisch lungenschwachen Modigliani mehr als abträglich.

Er wendet sich wieder der Malerei zu, und da hauptsächlich dem Porträt. Den Stil seines skulpturalen Werks führt er allerdings in der Malerei fort und orientiert sich außerdem an Fauvismus und Kubismus. Dennoch kann sein Werk diesen Strömungen nicht zugeordnet werden. Der angesehene Galerist Paul Guillaume  nimmt Modigliani 1914 unter Vertrag, und so kehrt dieser zur Staffelei zurück. In den zahlreichen Porträts seiner Freunde sowie anonymen Damenbildnissen überträgt er den Stil seines bildhauerischen Werks nun auf die Malerei: Die Bildnisse konstruiert er aus einfachen Kurven und versieht sie mit einem runden oder ovalen maskenhaften Gesicht. Zylindrische, lange Hälse, die er den geschnitzten Reliquienwächtern der Fang – einem zentralafrikanischen Stamm in Gabun – entlehnt. Viele von Modiglianis Porträts zeigen ähnlich wie Picassos Kopfstudien ihrer Pupillen beraubte, mandelförmige Augen. Die Dargestellten erlangen dadurch eine starke Verinnerlichung und Abwendung von allem Äußeren; eine Qualität des Zeitlosen.

Während die Franzosen 1914 zum Kriegsdienst einberufen werden, beleben ausländische, darunter viele jüdische osteuropäische Künstler die Cafés am Montparnasse.

Freunde und Kollegen. Modigliani mit Pablo Picasso (Mitte) und André Salmon, Paris 1916.
© Cincinnati Art Museum, Ohio, USA. Gift of Mary E. Johnston; © Musée Carnavalet / Roger-Viollet

»Wenn ich deine Seele kenne, werde ich deine Augen malen.«
Amedeo Modigliani

 

Unter ärmlichsten Verhältnissen leben sie nun im verwahrlosten Atelierhaus La Ruche. Diese Gruppe erhält von Kunstkritikern bald den Namen Pariser Schule, um sie als Reaktion auf Fremdenfeindlichkeit und grassierenden Antisemitismus in Frankreich zu „frankophonisieren“. Modigliani verbringt diese Zeit mit den Kollegen Chaim Soutine, Maurice Utrillo, Jacques Lipchitz, Moise Kisling und Max Jacob. „Wenn ich deine Seele kenne, werde ich deine Augen malen“, ist ein berühmter Ausspruch Modiglianis, und man könnte dies mit der jüdischen „Neshuma“ (Seele) assoziieren. Finden sich denn jüdische Elemente in Modiglianis malerischen Motiven? „Ich würde eher sagen, einiges an Kabbalistischem und Mystischem“, erklärt Daniel Benyes, selbst Spross einer sephardischen Familie und Pressesprecher der Albertina. Er verweist auf ein Modigliani-Porträt des weißrussisch-jüdischen Malers Chaim Soutine (1893–1943) aus dem Jahr 1916, auf dem dieser die Finger seiner rechten Hand wie die Kohanim beim Segnen gespreizt hat. Auch Modiglianis berühmtes Selbstporträt als Pierrot mit Halskrause kann kabbalistisch ausgelegt werden. „Das kleine t am Ende des Wortes Pierrot ist so geschrieben, dass man es auch als roi, also König lesen könnte: König der Steine“, so Benyes.

Lola de Valence, die berühmte Tänzerin, 1915. © The Metropolitan Museum of Art

Handfester Skandal. Der aus Polen stammende Kunsthändler Leopold Zborowski nimmt Modigliani 1916 unter Vertrag, und in dessen Atelierhaus malt er erstmals an die zwanzig Akte. Im April 1917 lernt er die 19-jährige Kunststudentin Jeanne Hébuterne, seine große Liebe, kennen. Sie ziehen zusammen, und im gleichen Jahr findet die einzige Einzelausstellung zu seinen Lebzeiten in der Galerie Berthe Weill statt; wegen der offen gezeigte Nacktheit wird die Polizei gerufen, und die Schau wird zu einem handfesten Skandal. Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges, als deutsche Fliegerbomben Paris treffen und mit einer Invasion gerechnet wird, verlässt das Paar die Stadt und lässt sich für ein Jahr in Cagnessur-Mer nieder, wo Jeanne im November 1918 eine Tochter zur Welt bringt. Als Jeanne 1919 erneut schwanger wird, verlobt sich Modigliani mit ihr. Die beabsichtige Hochzeit kann leider nicht stattfinden: Gegen Ende des Jahres erkrankt Modigliani schwer an Tuberkulose und verstirbt am 24. Jänner 1920 in der Pariser Charité. Die im achten Monat erneut schwangere unverheiratete Mutter einer erst vierzehn Monate alten Tochter, die von ihrer Familie verstoßen wurde und mittellos ist, stürzt sich zwei Tage nach Modiglianis Tod aus dem Fenster im obersten Stock ihres Elternhauses.

 

Max Jackob, 1916/17 © Musée Carnavalet / Roger-Viollet

Modiglianis Begräbnis gerät zu einem Ereignis: „ Als wäre ein Prinz gestorben“, hieß es am Montparnasse. Die Künstlerfreunde sammeln Geld, um die Beisetzung zu finanzieren: Maler, Schriftsteller, Modelle, Galeristen und viele Barbesitzer nehmen Abschied. Erst 1930 wird Jeanne Hébuterne mit Modigliani im gemeinsamen Grab auf dem Friedhof Pére-Lachaise wiedervereint. Die kleine Tochter wird von Modiglianis Schwester in Livorno adoptiert.

Modiglianis Suche nach einer zeitlosen Schönheit, die über den Kulturen steht und nicht mehr dem Ideal einer europäischen Tradition folgt, zeigt sich in seiner Ästhetik des Fragmentarischen und Altertümlichen. „Sein Brückenschlag zwischen moderner Kunst und Jahrhunderte zurückliegenden Epochen stellt einen bis heute aktuellen, herausragenden und völlig individuellen Beitrag in der Kunstgeschichte dar“, fasst es Kurator Marc Restellini im informativen und reichhaltigen Katalog zusammen. „Das Spannungsfeld seiner Kunst zwischen Avantgarde und Archaik ist auch Sinnbild seines eigenen dramatischen Lebens.“

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