„Das neue Österreich soll eine Chance von mir bekommen“

Warum möchte ein junger Schweizer Jude die österreichische Staatsbürgerschaft seiner Großeltern wiedererlangen? Für Jonathan Kreutner, seit 13 Jahren Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, ist es vor allem eine Frage der Gerechtigkeit.

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JONATHAN KREUTNER, 1978 in der Schweiz geboren, hat allgemeine Geschichte, neuere deutsche Literatur und Staatsrecht in Zürich studiert und in Basel in Jüdischen Studien promoviert. Seit 2009 ist er als Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes tätig. Er ist verheiratet und Vater zweier Kinder. © privat

Ich habe noch keinen Pass in der Hand“, erklärt Jonathan Kreutner gleich eingangs. Was gerade in seinem Fall eine gelinde Untertreibung ist. Denn eigentlich hat der gebürtige Schweizer als Sohn einer israelischen Mutter auch einen israelischen Pass, ist also bereits Doppelstaatsbürger. Mit dem österreichischen, den er seit einigen Monaten anstrebt, bekäme er also eine „Trinationalität“, wie er erklärt. Seit über einem Jahr haben Nachkommen von Opfern der NSDiktatur die Möglichkeit zur (Wieder-)Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Und dass seine Großeltern, Jakob und Ida Kreutner, solche Opfer waren, ist mehrfach gut dokumentiert.

 

„Meine Großeltern sind Ende November
1938 mit dem kranken Baby bei eisiger Kälte über den
Rhein in die Schweiz geschwommen.“

 

Dramatische Flucht. Doch zurück zum Anfang oder „back to the roots“, zur Familiengeschichte, die in der Wiener Leopoldstadt ihren Ausgang nahm, wie Jonathan Kreutner erzählt. Hier heiratete das Paar 1934, 1937 wurde ihr Sohn Robert, Jonathans Vater, geboren. Beide waren Mitglieder der IKG. Als in der Reichspogromnacht 1938 die Gestapo Jakob niederschlug und schwer verletzte, versteckte Ida ihr Baby im Schrank. Nachdem Jakob notdürftig verarztet worden war, verließ die Familie Wien „Hals über Kopf“ und gelangte mit der Bahn nach Feldkirch. Bei Diepoldsau schwammen sie Ende November 1938 nach mehreren Fluchtversuchen mit dem kranken Baby bei eisiger Kälte über den Rhein in die Schweiz und wurden dort von Grenzbeamten aufgegriffen. „Meine Großmutter hat gesagt: ,Sie können mich erschießen, aber ich geh’ nicht zurück.‘ Da hat der Grenzchef von Diepoldsau den Polizeihauptmann Paul Grüninger in St. Gallen angerufen, und der hat gesagt: ,Die kannst du reinlassen, wir finden eine Lösung.‘ Freilich war das illegal. Sie wurden sogar vom Polizeichef von Diepoldsau aufgenommen, kamen dann in ein Flüchtlingslager und irgendwie im Laufe der Vierzigerjahre nach Zürich.“ Genau diese dramatische Rettungsaktion kommt im Film Die Akte Grüninger vor und ist auch im Jüdischen Museum von Hohenems dokumentiert. „Weil meine Großeltern sehr früh einen Dokumentarfilm über sich drehen ließen, sind sie zwei der ganz wenigen österreichischen Flüchtlinge, deren Geschichte bereits früh und gut aufgezeichnet wurde. Sie ist daher auch exemplarisch für jüdische Flüchtlinge, die in die Schweiz gekommen sind. Mein Vater und ich wurden auch im Schweizer Fernsehen als ,Grüningers Erben‘ porträtiert. Ich wurde am 30. November 1978 geboren, auf den Tag genau 40 Jahre nach der Rettung meiner Großeltern, die mein Großvater als Beginn seines zweiten Lebens bezeichnet hat.“

Jakob und Ida Kreutner mit ihrem Sohn Robert im Sommer 1939. © privat

Partielle Amnesie. Zunächst als Staatenlose geduldet, erhielt die Familie 1955 die Schweizer Staatsbürgerschaft. Davor habe „irgendwann einmal“ Österreich den Staatenlosen wieder die österreichische Staatsbürgerschaft angeboten, allerdings verknüpft mit Bedingungen, die Großeltern hätten das aber abgelehnt. Schriftliche Belege dafür gebe es aber keine. Immer wieder hat der Enkel versucht, Informationen und Geschichten zu erfahren. „Aber mein Großvater hatte eine Art partieller Amnesie, seine Erinnerungen haben am 9. November 1938 aufgehört, nur meine Großmutter hat bruchstückhaft Erinnerungen an seine Familie gehabt. Meines Wissens haben sie auch nie wieder Österreich besucht. Ich habe dann später als Historiker viel über die Familiengeschichte recherchiert. Erst im Nachlass meiner Großeltern haben wir Heimatscheine und Geburtsurkunden gefunden und dann erst verschollene Verwandte gesucht und gefunden und sogar ein Familientreffen organisiert.“ Auch sein Vater, der heute 85 ist, habe mit der für ihn überwiegend belasteten Vergangenheit abgeschlossen und würde nie die österreichische Staatsbürgerschaft anfordern. Beim Sichten der nötigen Dokumente seien bei ihm wieder viele ungute Gefühle hochgekommen. „Ich habe keine direkte persönliche Erfahrungen, doch meine Großeltern und mein Vater wurden entrechtet und ausgebürgert, und ich will auch für meine Kinder dieses Recht in Anspruch nehmen. Ich erlebe heute ein anderes Österreich als noch vor 20 Jahren, und dieses andere Österreich soll auch eine Chance von mir bekommen. Meine Großeltern haben noch die Waldheim-Zeit erlebt, doch heute hat sich ein neues Geschichtsbewusstsein in Österreich entwickelt, zu dem ich auch stehen kann, sonst hätte ich es nicht gemacht. Ich habe das Gefühl, dass da ein Diskurs stattfindet, den ich unterstützenswürdig finde. Man darf, ohne die Vergangenheit zu vergessen, einen Blick in die Zukunft wagen. Man muss als selbstbewusster jüdischer Mensch leben, und dazu gehört auch, seine Rechte einzufordern.“

Europäische Identität. Auslöser für diesen Schritt war für den Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds letztlich ein Gespräch mit seinem Kollegen Benjamin Nägele, dem Generalsekretär der IKG. „Er fragte mich, wie ich mich heute diesbezüglich fühle. Nun, ich lebe das Schweizer Judentum jeden Tag, habe mich aber immer auch als Europäer gefühlt und der europäisch-jüdischen Geschichte verbunden. Durch eine EU-Staatsbürgerschaft werde ich auch Teil dieses europäischen Zusammenhalts, das war für mich ebenso ein entscheidender Trigger. Es bedeutet für mich auch zurück zu den Wurzeln, weil alle meine Urgroßeltern eigentlich Europäer waren. Ich bin sehr eng mit dem Schweizer Judentum und Israel verbunden, Hebräisch ist meine Muttersprache, aber meine Kernidentität ist eine europäisch-jüdische – schon auf Grund meines Familienhintergrunds.“ Dieser bringt es mit sich, dass er im Gegensatz zu seiner Frau, die über Generationen und Jahrhunderte Wurzeln in der Schweiz hat, eigentlich kein typischer Schweizer Jude ist.
„Meine beiden Kinder, die heute vier Jahre und wenige Monate alt sind, haben durch ihre Mutter eine Verbindung zu diesem urschweizerischen Judentum und bekommen durch mich jetzt eine Verbindung zum europäischen Judentum, das unser aller Werte, Kultur und Geschichte über Generationen geprägt hat, das ist mir auch als Historiker wichtig.“
Materielle Forderungen, etwa in Hinblick auf eine Restitution, habe er nicht. Und wie lange dieser nunmehr eingeleitete Prozess zur Staatsbürgerschaft noch dauern kann, ist Jonathan Kreutner „eigentlich wurscht, solange diese späte Form der Gerechtigkeit umgesetzt wird“.

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