
Die ersten kräftigen Sonnenstrahlen erhellen den Kies vor dem im Herbst 1923 bezogenen neuen Hauptgebäude der Universität Innsbruck am Innrain. Verdient im Schatten und mächtig düster – bis auf eine riesige weiße Rose – steht auf einem hohen dreieckigen Steinsockel ein aus Kupfer getriebener Adler, der seine schwarzen Schwingen ausbreitet. „Hier steht der burschenschaftliche Wahlspruch ,Ehre – Freiheit – Vaterland‘, denn die Einweihung im Jahr 1926 gestaltete sich zu einer deutschnationalen Kundgebung der Innsbrucker Professoren und Studierenden“, erklärt der Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät, Universitätsprofessor Dirk Rupnow. Er hat sein Treffen soeben beendet, um uns mit der geläuterten Geschichte der Universität Innsbruck vertraut zu machen, den sichtbaren Korrekturen im Narrativ ebenso wie den von ihm gesetzten Initiativen, die er im Team realisiert hat. Seit März 2018 hält der Historiker der österreichischen, deutschen und europäischen Zeitgeschichte sowie der NS-Zeit/ Holocaust und der Jüdischen Geschichte diese Leitungsfunktion, forscht und lehrt bereits seit 2009 an dieser renommierten Hochschule.
Schon der Vertrag des Adler-Architekten Lois Welzenbacher 1923 enthielt die Klausel, dass ihm die Wahl der Mitarbeiter freigestellt sei, „doch verpflichtet er sich, nur Deutsche hiezu zu wählen“. Noch deftiger beendete 1926 Prorektor Theodor Rittler seine Ansprache bei der Einweihung: „Der Adler, als Wappen Deutschlands, Österreichs und Tirols, ist das beste Zeichen, unsere Toten aufzurichten. Denn für Deutschlands Größe, Österreichs Ehre und die Einheit Tirols sind sie in den Kampf gezogen. Im Anblick des Adlers wollen wir uns der Kraft und Stärke unseres Volkstums getrösten und gläubig sprechen: Deutschland, dein Reich komme!“ Ursprünglich waren nur die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Angehörigen der Universität am Ehrenmal angebracht. Es dauerte noch bis 1952, bis die Namen der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen ergänzt wurden.
„Die Banalität des Sichtbaren
darf nicht als Referenz für
einen Entlastungsdiskurs
benützt werden.“
Dirk Rupnow
Konsequente Auseinandersetzung. Erst 1984 beschloss der Akademische Senat, eine Gedenktafel für den Medizinstudenten aus Innsbruck Christoph Probst an diesem „Ehrenmal“ anzubringen. Probst wurde gemeinsam mit den Geschwistern Scholl als Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ am 22. Februar 1943 in München-Stadelheim hingerichtet. Als zusätzliches Gedenkzeichen wurde der Universitätsvorplatz 1993 in Christoph- Probst-Platz umbenannt und im Februar 2019 dessen Exmatrikulation symbolisch rückgängig gemacht. „Mit der 2020 etablierten Christoph Probst Lecture will die Universität Innsbruck alljährlich an ihren kurzzeitigen Medizinstudenten erinnern. Das Ziel der Christoph Probst Lecture ist es, im Rahmen von Vorträgen renommierter Fachleute die Ideale der Weißen Rose – Freiheit, Demokratie und Zivilcourage – zu reflektieren und weiterzutragen“, erläutert Rupnow, der jüngst Irina Sherbakova zu Gast hatte, die über „35 Jahre Memorial“, die ältesten NGO Russlands, referierte.

Die ursprünglich klar deutschnationale Ausrichtung führte immer wieder zu Protestaktionen gegen das Adler-„Ehrenmal“; im Oktober 2010 wurde es von Unbekannten rosa eingefärbt. Doch erst im Jahr 2019, Anlass war das 350-jährige Jubiläum der Universität Innsbruck, gab es einen Wettbewerb „zu einer künstlerischen Intervention am Denkmal“, den der Vorarlberger Künstler Wolfgang Flatz gewann. „Das wurde zum sichtbaren Zeichen eines offenen und selbstkritischen Umgangs mit der eigenen Geschichte“, betont der 1972 in Berlin geborene Professor Dirk Rupnow.
Denn eine schonungslose Konfrontation mit den Geschehnissen in der NS-Zeit und ihren Nachwirkungen ist lange unterblieben. Die Universität und ihre Angehörigen waren auf vielfältige Art und Weise in menschenverachtende Ideologien und Praktiken verstrickt – und das nicht nur während des „Dritten Reiches“. Insbesondere der Umgang mit diesem ursprünglich deutsch-nationalen „Ehrenmal“ über rund 90 Jahre hinweg zeigt mehrere Aspekte auf: einerseits, wie langsam und schwer es dem antisemitischen Tirol mit dem Schlussstrich unter die eigene NSVergangenheit erging und dass die Anstöße dazu meistens von außen kommen mussten. Anderseits ist es gut, dass man das „Adler-Ehrenmal“ nicht weggerissen, sondern sich über eine beachtliche Zeitspanne daran sukzessive abgearbeitet hat. Denn die positive Irritation mit und durch diesen Unruhe-Klotz kam sowohl aus der Zivilgesellschaft als auch aus dem universitären Bereich, von Professoren und Studierenden.
Das sieht man auch sehr gut in der Aula der Universität, die wir ausnahmsweise durch Professor Rupnows Fürsprache besichtigen durften. Kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs, im Sommer 1938, gab der damalige Rektor Harold Steinacker das Mosaik einer Hitler-Darstellung bei der Tiroler Glasmalerei- und Mosaikanstalt für die Aula in Auftrag mit der Zustimmung der Privatkanzlei des „Führers“. Der Innsbrucker Künstler Hubert Lanzinger verwendete für das Gemälde mit dem Namen Der Bannerträger seine Vorlage aus 1934 teilweise wieder – diese war als Postkarte bereits bekannt. Das Motiv zeigte Adolf Hitler als Ritter in silberner Rüstung zu Pferde, mit der Hakenkreuzfahne in der Hand. Die Präsenz des Porträts an der Stirnwand dominierte den Saal.
„Wir müssen zweifeln lernen. Die moderne Welt kann ohne Zweifel nicht funktionieren.“
Ágnes Heller
Nach 1945 wurde das Mosaik offenbar weitgehend abgeschlagen und zunächst durch eine neutrale Putzoberfläche übertüncht. Zwei Jahre später brachte die katholische Studentenverbindung Austria an der inkriminierten Stelle ihren Wahlspruch an – „in veritate libertas“ (in der Wahrheit liegt die Freiheit). Es gab weder im Universitätsarchiv ein fotografisches Zeugnis des Mosaiks, noch war sein Verschwinden nachvollziehbar dokumentiert. „Eine Tiefensondierung im Auftrag der Universitätsleitung brachte Reste des Mosaiks selbst und die Spuren seiner Beseitigung zutage“, weiß Professor Rupnow, der an den umfangreichen Recherchen beteiligt war. „Angesichts der Vielschichtigkeit und Ambivalenz der damit sichtbaren Vorgänge – des vorauseilenden Gehorsams der universitären Amtsträger 1938 sowie der eilfertigen Distanzierung 1945, vor allem aber der Verdrängung der eigenen Mitverantwortung und Schuld – hat sich die Universität Innsbruck entschlossen, die Sondierungsbohrungen in die Vergangenheit teilweise offen zu lassen.“ Doch Professor Rupnow sieht mit dem Befund noch vieles unbeantwortet und schreibt dazu: „So schwer es fällt, im Nachhinein ideologische Verblendung und Bereitschaft zur Komplizenschaft oder nur professorale Ängstlichkeit zu verstehen, so notwendig ist heute die Beunruhigung durch das Mahnmal. Die Banalität des Sichtbaren – eine weiße Wand, eine Kartusche mit einem Schriftzug, Bohrlöcher – darf nicht als Referenz für einen Entlastungsdiskurs benützt werden.“
Genau deshalb setzt Rupnow seine Forschung und Lehre im Bereich der Kulturwissenschaften sowie der transnationalen Geschichte und der Migrationsgeschichte konsequent fort: Bereits 1999/2000 war er Mitarbeiter der Historikerkommission der Republik Österreich und absolvierte Gastaufenthalte und Fellowships unter anderem am Simon-Dubnow-Institut für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig sowie am Center for Advanced Holocaust Studies des United States Holocaust Memorial Museums in Washington, DC. 2017 lehrte Rupnow als Distinguished Visiting Austrian Chair Professor an der Stanford University1 und 2022 als Gastprofessor am Center for Austrian Studies/European Forum der Hebrew University in Jerusalem.

Auf der Website der Universität Innsbruck gewinnt man anhand zweier exemplarischer Biografien Einblick in das Schicksal jüdischer Studierender. Käthe Frankl2 und Irene Link3 stehen stellvertretend für jene jüdischen Absolventinnen der Universität Innsbruck, die 1938 ihre Studienabschlüsse bereits erworben hatten. Eine formelle Wiederverleihung von aberkannten Titeln ist seitens der Universität Innsbruck nach 1945 unterblieben – und war auch nicht mehr vorgesehen. Für die Universität Innsbruck sind derzeit elf Aberkennungen akademischer Titel während der NS-Zeit dokumentiert. Aufgrund der Überlieferungslage kann nicht ausgeschlossen werden, dass es noch weitere Fälle gegeben hat.
In den Jahren 1925 bis 1933 wurden die jüdischen Hörer und Studentinnen der Universität Innsbruck auf Ersuchen des Rabbinats für Tirol und Vorarlberg mit Angabe der Namen und Anschriften jedes Semester von der Universität dorthin gemeldet. Nach 1934 gab es nur noch drei Juden an der medizinischen Fakultät Innsbruck: zwei Amerikaner und eine Ungarin. Zwei Studierende, Melanie Adler und Dr. Munisch Heuer, wurden in KZ-Lagern ermordet – von den meisten anderen ist das weitere Schicksal unbekannt.
Ein Gebäude für Diversität, Offenheit und Freiheit. Professor Rupnow machte sich innerhalb der Universität auch für die Benennung des neuen Gebäudes der Hochschule am Innrain 2023 stark: So wurde es 2023 in Erinnerung an die große Philosophin Ágnes Heller (1929 –2019) eröffnet. Sie war eine der bedeutendsten Philosophinnen ihrer Zeit. In Budapest geboren, überlebte sie als Kind jüdischer Eltern den NS-Terror in Ungarn, während viele ihrer engsten Verwandten ermordet wurden. Sie studierte Philosophie bei Georg Lukács und war eine der bedeutendsten Vertreterinnen der „Budapester Schule“, die den sowjetischen Kommunismus kritisierte.
Heller war eine Vertreterin der kritischen Theorie und der humanistischen Philosophie. Sie beschäftigte sich unter anderem mit dem Verhältnis von Leben und Freiheit und der Rolle von Kunst und Moral in der modernen Gesellschaft. Ihr Leitspruch: „Wir müssen zweifeln lernen. Die moderne Welt kann ohne Zweifel nicht funktionieren.“ Ágnes Heller starb im Juli 2019 im Alter von 90 Jahren bei einem tragischen Badeunfall am Balaton in Ungarn. „Mögen der kritische Geist von Ágnes Heller, ihre kreative Neugier, ihr konstruktiver Zweifel, ihre Empathie und ihr Mut alle jene inspirieren, die in diesem Haus ein und aus gehen“, wünschte sich Philosoph Josef Mitterer anlässlich der Eröffnung dieses Gebäudes.
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Doch auch außerhalb des großen Universitätsgeländes mit den verstreut angesiedelten Instituten gibt es noch anderes, an das man hier durch Gedenksteine und Mahnmäler erinnert. „Erst seit den späten 1980er-Jahren wurden in Innsbruck und Tirol verstärkt öffentliche Erinnerungszeichen an die Opfer des Nationalsozialismus errichtet“, schreibt die Germanistin Claudia Rauchegger-Fischer, die als Lektorin für Didaktik an der Universität Innsbruck tätig ist. Hier wären z. B. das Euthanasiedenkmal am Klinikgelände von Oswald Tschirtner4, die Tafel am ehemaligen Gebäude der Gestapo in der Herrengasse sowie das Mahnmal für die brutalen Novemberpogrome am Landhausplatz zu nennen.
Die letzte Station auf der Gedenktour mit dem engagierten Zeitgeschichte-Professor Rupnow war die Grünfläche vor der Medizinischen Fakultät der Universität Innsbruck: Dort steht ein unscheinbarer etwa 1,50 Meter großer grauer Stein, beladen mit schwarz verkohlten Büchern aus Kupfer mit der Inschrift: „Die ganze Welt ist | eine sehr schmale Brücke | und Hauptsache ist | keine Angst zu haben“, darunter steht die Inschrift: „Ausgegrenzt – Vertrieben – Ermordet | 1938 – 1945 | Im Gedenken an die Professoren, Ärztinnen und Studentinnen der Medizinischen Fakultät Innsbruck.“ 2008, genau 80 Jahre nach dem blutig-brutalen Novemberpogrom in Innsbruck, hat die israelische Bildhauerin und Malerin Dvora Barzilai diese Skulptur geschaffen.
1 Der Distinguished Visiting Austrian Chair ist ein Geschenk der Republik Österreich an die Stanford University und wurde im Jahr 1976 anlässlich der 200-Jahrfeier der Gründung der USA eingerichtet. Die Erträge aus diesem Geschenk werden für die Finanzierung des Austrian Chairs für einen Lehrund Forschungsaufenthalt an der Stanford University für sechs Monate des akademischen Jahres gewidmet.
2 Käthe Frankl (1902–1949) begann 1921/22 ihr Medizinstudium in Innsbruck, das sie nach einigen Semestern in Berlin 1926 mit der Promotion in Innsbruck beendete. Danach kehrte sie als Volontärärztin nach Berlin an die Nervenklinik der Berliner Charité zurück und heiratete 1929 den dortigen jüdischen Oberarzt Walter Misch (1889–1943). Das Ehepaar ging nach dem Reichstagsbrand 1933 zunächst nach Paris, dann weiter nach England, wo Käthe ab 1933 Mitglied der British Psycho-Analytical Society wurde. 1946 initiierte sie das West Sussex Child Guidance Service, eine Einrichtung, die zusammen mit dem von Anna Freud aufgebauten Hampstead Child Therapy Course für die Ausbildung von Kinderanalytiker weltweiten Ruf erlangte.
3 Irene Link (1908–1986) war die Tochter des Hohenemser und ab 1914 Innsbrucker Rabbiners Dr. Josef Link. Sie begann nach der Promotion eine Facharztausbildung für Psychiatrie und arbeitete als Assistenzärztin an der Universitätsklinik in Innsbruck, von 1933 bis 1938 im Nervenkrankenhaus Maria-Theresien-Schlössel in Wien. Link heiratete Dr. Max Hitschmann, einen Wiener Juristen, der nach den Novemberpogromen im Konzentrationslager Dachau interniert war und sofort nach der Entlassung emigrierte. In Shanghai fand das Ehepaar ein erstes Exil, im April 1940 erhielten sie die Einreisebewilligung in die USA. Bis sie ihre Prüfungen wiederholt hatte und als Psychiaterin tätig sein durfte, arbeitete sie als Krankenschwester. Sie war am Springfield State Hospital in Baltimore tätig.
4 Oswald Tschirtner wurde 1920 in Perchtoldsdorf geboren und lebte von 1981 bis zu seinem Tod 2007 im Haus der Künstler in Gugging. Bekannt wurde er durch seine Kopffüßler, reduzierte Figuren ohne kennzeichnende Attribute wie Kleidung oder Geschlecht.
























