
WINA: Sie spielen zum ersten Mal die Hauptrolle des Tevje in Anatevka an der Wiener Volksoper, die Wiederaufnahme einer erfolgreichen Produktion. Wie kam es dazu, dass man Ihnen diese Singspiel-Rolle angeboten hat?
Cornelius Obonya: Ganz einfach: Da der Kollege Dominique Horwitz im Moment nicht spielen kann, hat mich die Direktion gefragt, ob ich das machen möchte, und zwar für sieben Vorstellungen von insgesamt neun. Das hat mich sehr gefreut, denn ich habe ja schon Musicals gesungen. Zum Glück ging sich das zeitlich aus, weil meine Dreharbeiten verschoben wurden.
In guter Erinnerung ist Ihre Hauptrolle in der deutschsprachigen Erstaufführung des Broadway-Hit-Musicals The Producers im Sommer 2008 im Ronacher. Zusätzlich kennt man Sie auch als singenden Interpreten von Couplets aus der satirischen Feder von Gerhard Bronner, Hermann Leopoldi u. a. Wie bereiten Sie sich auf die vielschichtige Rolle des Milchmanns Tevje vor?
I Anatevka ist thematisch kein klassisches Musical, denn es verhandelt das Leben in einem russischen Stetl lange vor der Shoah, in einer Zeit, in der brutale Übergriffe, Pogrome gegen jüdische Menschen zum Alltag gehörten. Und natürlich sind viele amerikanisch-jüdische Momente hinein vermischt. Da hilft es schon, wenn man die Geschichte gut kennt. Bei aller Ernsthaftigkeit des Stoffs ist es aber auch ein Riesenspaß, diese unglaublich schönen Bühnenlieder singen zu dürfen, und sie liegen mir als Bariton auch gut auf der Stimme. Ich habe zwar keine ausgebildete Singstimme, aber ich kann singen, und das reicht sehr gut für die Partie des Tevje, denn diese Rolle ist für einen singenden Schauspieler geschrieben. Als Singschauspieler den Tevje nicht singen zu wollen, wäre ziemlich fatal.
„Ich verwahre mich explizit
dagegen, die Mörder der Hamas mit einer
Befreiungsbewegung gleichzusetzen: […].“
Cornelius Obonya
Die Musik und die Gesangstexte von The Producer stammen von Mel Brooks, dem großartigen amerikanischen Komödianten, der gemeinsam mit Thomas Meehan das Buch verfasste und das Musical produzierte. Und auch Anatevka stammt aus der Feder eines amerikanisch-jüdischen Dramatikers: Joseph Stein (1912–2010), der bereits 1965 das Buch zu Fiddler on the Roof, deutsch Anatevka, geschrieben hatte, zu dem Jerry Bock (1928–2010) dann die Musik komponierte. Sie sprechen wunderbares britisches Englisch, dennoch liegt Ihnen das „Amerikanisch-Jiddische“ sehr gut auf der Zunge.
I Beim ersten Musical, also vor 14 Jahren im Ronacher, und auch jetzt an der Volksoper habe ich das maßlose Glück, dass das Stück von Amerikanern stammt, denn das ist eine andere Art der Technik und des Tempos, die ich sehr mag, und auch das Englischsprachige liegt mir sehr nah. Es ist eine große Freude, das zu machen, weil die Geschichte von Anatevka musikalisch und textlich so schön gebaut und trotz der menschlichen und politischen Dramatik gleichzeitig traurig und humorvoll ist.
Der bedeutendste jiddischsprachige Schriftsteller und Gründer der jiddischen Literatur, Scholem Alejchem (1859–1916), hat den Roman Tevje der Milchiker* verfasst. Muss man als Tevje, der Verkörperung eines eher einfachen Mannes, eines mehrfachen Familienvaters aus dem russischen Stetl, jiddeln? Anders gefragt: Wie bekommt man das jiddische Timbre hinein, ohne das zu tun?
I Es verführt dazu, aber man sollte keinesfalls jiddeln – dennoch sollte man versuchen, jiddisch zu denken. Da das Stück im Jahr 1905 spielt und die Inszenierung es auch in dieser Zeit belässt, kann ich nicht so tun, als wäre ich ein heutiger Wiener. Die Monologe Tevjes, sein Hadern mit G’tt, die Klage über den Verlust der jüdischen Tradition in der Generation seiner Kinder – all das ist auch die Stärke dieser Sprache: Man kommt automatisch in einen anderen Klang, und daher muss man versuchen, die richtige Tonalität zu finden.

wurde 1969 in Wien in eine Schauspielerdynastie geboren: Seine Eltern sind Elisabeth Orth und Hanns Obonya (1922–1978), seine Großeltern mütterlicherseits Paula Wessely und Attila Hörbiger. Mit 17 Jahren begann er, am Max Reinhardt Seminar Schauspiel zu studieren, verließ dieses nach einem Jahr und lernte fortan beim Kabarettisten Gerhard Bronner. Bronner gehörte ebenso zu den wichtigen Begegnungen in seinem Beruf wie Emmy Werner, die ehemalige Direktorin des Volkstheaters, und die Regisseurin Andrea Breth, mit der er an der Schaubühne Berlin und am Burgtheater Wien gearbeitet hat. Sein weiterer Weg führte Cornelius Obonya als „Jedermann“ zu den Salzburger Festspielen und zu zahlreichen deutschen, österreichischen und internationalen Produktionen in Film und Fernsehen, u. a. mehrmals Tatort und Adults in the Room (2019) von Costa-Gavras, der bei den Filmfestspielen von Venedig gezeigt wurde. Auch als Kommentarsprecher von Dokumentationen und als Interpret von Hörbüchern ist der Schauspieler bekannt. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Cornelius Obonya ist mit der Regisseurin Carolin Pienkos verheiratet und Vater des gemeinsamen Sohnes Attila. © Sasha Ilushina photography
Sie wurden 2019, als Nachfolger ihrer Mutter, der hoch geschätzten Burgschauspielerin Elisabeth Orth, zum Präsidenten der Aktion gegen den Antisemitismus gewählt. Das Ziel dieser Aktion ist es, alle Formen des Antisemitismus in den Blick zu nehmen: von rechts, von links und von islamischer Seite. Welche Auswirkungen hat das Hamas-Massaker in Israel vom 7. Oktober 2023 auf Ihre Arbeit für die Aktion?
I Wenn man sich ein wenig im Internet umschaut, merkt man, wie schnell und uninformiert mit dem Begriff „Genozid“ herumgeworfen wird. Das ist für mich erschreckend, denn würde man sich seriös informieren, könnte man klar erkennen, dass der Kampf der Israelis gar nichts mit Genozid zu tun hat. Enttäuschend war festzustellen, dass die Befreiung der Geiseln nicht das oberste Ziel war. Deshalb leiden noch einhundert Menschen in dieser Hölle. Aber der Anfang der Aggression ist mit dem 7. Oktober eindeutig. Punkt! In Österreich würde man auch etwas anders denken, wenn eine brutale Horde über die burgenländische Grenze ins Land stürmen und über tausend Menschen abschlachten würden. Ich verwahre mich explizit dagegen, die Mörder der Hamas mit einer Befreiungsbewegung gleichzusetzen: Diese Terroristen möchten Israel von der Landkarte löschen – daran gibt es nichts zu deuteln.
„Man leistet den Eid auf die Verfassung der
Republik – und wählt dann die Bequemlichkeit.
Das geht sich für mich einfach nicht aus!“
Israels Ansehen hat auch in Österreich Schaden genommen, weil viele ein idealisiertes Bild von diesem ständig um seine Existenz ringenden kleinen Staat haben – und sich die jahrzehntelange Anspannungen im Alltag nicht vorstellen können. Merken Sie das auch?
I Mir wäre selbstverständlich viel lieber, genauso wie den meisten Israelis, wenn man jeden einzelnen dieser Schlächter vor Gericht stellen könnte. Aber da wären wir in einer idealen Welt, die es in dieser Form nicht gibt – vor allem nicht im Nahen Osten. Aber irgendwann muss Schluss damit sein, dass die Menschen im Norden Israels unaufhaltsam aus dem Libanon beschossen werden, dass Kinder bereits im dritten Schuljahr ständig üben, wie sie am schnellsten in einen öffentlichen Schutzraum laufen. Bei allem, was passiert, sind sicher jeder Seite auch größte Fehler unterlaufen, aber nichts rechtfertigt den Massenmord der Hamas in den grenznahen Ortschaften und Kibbuzim. Das muss man immer wieder klar und offen sagen. Dennoch dürfte sich die israelische Regierung nicht derart radikalisieren, in dessen Folge sich auch das Militär und das demokratische Land radikalisieren.
Zurück zu Österreich und dem besorgniserregenden Anstieg des Judenhasses. Haben Sie als Präsident der Aktion gegen den Antisemitismus auch Schmähungen abbekommen?
I Persönlich nicht, aber das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), unter dessen Dach wir agieren, bekommt vieles davon ab. Wirkliche Sorge bereitet mir, dass sowohl die Sozialdemokratie wie auch die Liberalen offensichtlich kein Problem damit haben, einen rechtsradikalen FPÖ-Mann „nur wegen der Usancen“ in das zweithöchste Amt des Staates zu wählen. Diese Entscheidungen, gewisse „Gewohnheit zu respektieren“, wird sich meiner Meinung nach beinhart rächen. Das Schlimmste ist, dass alles wurscht geworden ist und schlicht und ergreifend etwas verschüttgeht:Man leistet den Eid auf die Verfassung der Republik – und wählt dann die Bequemlichkeit. Das geht sich für mich einfach nicht aus!
Sie sind ein höchst erfolgreicher Bühnen-, Fernseh- und Filmschauspieler, erst kürzlich konnten wir Sie im Tatort als überzeugenden und überzeugten Nazi-Professor bewundern. Trotz all dem nehmen Sie sich Zeit für unzählige kostenlose Benefiz-Auftritte: Jüngst rezitieren Sie bewegende Gedichte bei der Gedenkfeier der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) zum 7. Oktober auf dem Ballhausplatz. Kurz darauf erlebten wir Sie bei der Verleihung des Paul-Weis-Preises für Verdienste um die Menschenrechte (siehe WINA-Bericht dazu). Ihr Engagement ist mehr als außergewöhnlich und beispielhaft. Woher kommt das?
I Das kommt schlicht und ergreifend von meiner Mutter. Ich bin so erzogen und bin so aufgewachsen. Da sie die Auseinandersetzung mit ihren Eltern gesucht hat, die in einem Nazi-Propagandafilm mitgespielt haben, förderte sie meine Bewusstwerdung in dem Sinne, dass man als Künstler gewärtig sein muss, für wen, vor wem man manchmal spielt; und auch, von wem man das Geld dafür bekommt. Diese rote Linien sind auch heute nicht leicht einzuhalten, man muss sich entscheiden. Denn ab dem Moment, an dem man die Haltung, „ich bin Künstler, das geht mich nichts an“, pflegt, ab diesem Moment kann jeder von dir etwas verlangen, auch unter Umständen, die du gar nicht willst.
Sie haben noch einen zweiten wichtigen Einfluss erwähnt?
I Ja, das war meine Begegnung mit Ari Rath**. Ich hatte das Glück, dass er gleich nach der Waldheim-Zeit in mein Leben getreten ist, und das hat mich am stärksten sozialisiert und sensibilisiert. Ari Rath war ein lebendiges Sinnbild für mich: jemand, der mit dreizehn Jahren seine Heimat Wien, wo er geboren wurde, verlassen musste, um zu überleben. Ohne Eltern, ohne Geld, nur mit seinem ein Jahr älteren Bruder Meschulam an der Seite, ging er vom Schiff in ein unbekanntes Land. Wenn ich nur daran denke, wie mein Sohn das mit 13 geschafft hätte … Obwohl ich das nicht sagen kann, weil man ja in solchen Ausnahmesituationen anders denkt, denken muss. Aber ich möchte nicht, dass Jugendliche, fast halbe Kinder noch, so etwas überhaupt denken müssen.
Haben Sie mit Ari Rath auch Politisches erörtert?
I Ja, weil mir Ari aus seiner journalistischen Erfahrung heraus beigebracht hat, Dinge etwas anders zu hinterfragen. Immer zuzuhören, sich vor allem zu informieren, denn Wissen ist das Allerwichtigste. Wenn man nichts weiß, sollte man die Klappe halten, aber wenn man nur glaubt, es anders zu wissen, dann muss man den Mund aufmachen, sonst macht man sich schuldig. Denn so fängt es an, so hat es immer über die Weltgeschichte hinweg angefangen: Das hat nicht immer mit Antisemitismus zu tun, aber es handelt sich immer um das menschliche Miteinander. Der dritte Grund, warum ich das tue, liegt auf der Hand: Obwohl mein Vater sehr früh gestorben ist, bin ich sehr privilegiert aufgewachsen und habe eine schöne Jugend gehabt; es hat mir an gar nichts gefehlt. Und vor allem, wenn man das unglaubliche Lebensglück hat, eine wunderbare Ehe zu führen, ein gesundes Kind zu haben, dann gibt man etwas zurück; jedenfalls sehe ich das so.
* Das Libretto von Anatevka basiert auf einer Erzählung Scholem Alejchems aus dem Jahr 1916. Der Originaltitel Fiddler on the Roof (Ein Fiedler auf dem Dach) bezieht sich auf die Bildkomposition Der Geiger (1912/1913) des französisch-polnisch-jüdischen Malers Marc Chagall.
** Ari Rath wurde 1925 in Wien geboren und musste im November 1938 flüchten. In Palästina, das er mit dem Kindertransport auf der „Galilea“ erreichte, lebte er zunächst in einem Kibbuz. Ab 1958 war er Redakteur, ab 1975 Chefredakteur der Jerusalem Post (und der erste journalistische Arbeitgeber der Autorin dieser Zeilen in Tel Aviv). Er gehörte zur Generation von Jitzchak Rabin, Teddy Kollek und Schimon Peres und war Berater von David Ben-Gurion. 2012 veröffentlichte er seine Erinnerungen unter dem Titel Ari heißt Löwe. Ari Rath starb 2017 in Wien.