
Man muss nicht nur beseelt, sondern auch ein wenig besessen sein, um jahrzehntelang konsequent auf ein Ziel hinzuarbeiten: Der habilitierte Musikwissenschaftler Gerold Gruber hat schier unermüdlich Kontakte zu Familien, Nachlassverwaltern und Institutionen gepflegt, um die Musik verfolgter, vertriebener und ermordeter Komponisten und Komponistinnen aus Österreich in irgendeiner Form wieder in ihre ursprüngliche Heimat zu bringen. „Es ist unbedingt notwendig, diese große Lücke, die die NS-Verfolgung hier gerissen hat, auch nur ein wenig aufzufüllen“, erzählt Gruber, „diese vielen fehlenden Teile in die Kulturkette endlich wieder einzugliedern, damit sie heute und für kommende Generationen zugänglich werden – und nicht komplett verschwinden.“
Thomas Angyan, Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde von 2005 bis 2020, brachte das Anliegen von Gruber auf den Punkt: „Der Verein exil.arte lässt verstummte Stimmen wieder sprechen und bringt gewaltsam zum Verstummen Gebrachtes wieder an unser Ohr – und damit auch an unser Herz.“ Doch der Weg war noch lang, bis der Biograf von Arnold Schönberg und Gründer von exil.arte als wissenschaftlicher Leiter und administrativer Direktor des Exilarte-Zentrums der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien seine umfassende Forschungsarbeit gemeinsam mit anderen aufnehmen konnte.
„Ich bin seit Jahrzehnten als SchönbergForscher tätig und habe jetzt auch das Buch Schönberg verstehen – Überwältigende Vielfalt dissonanter Töne veröffentlicht“, erzählt Gruber, „und bei der Recherche zu diesem Komponisten kommt man unweigerlich auf das Thema Exil. So stieß ich im Umfeld von Los Angeles über diverse Kontakte auch auf weitere aus Österreich vertriebene Künstlerinnen und Musiker.“ Dabei erfuhr Gruber, dass noch andere auf ihre Entdeckung oder besser Wiederentdeckung warten. „Dort wurde mir dieser große Verlust noch schmerzlicher bewusst, dass nämlich weder die etablierte österreichische Kultur- und Musikforschung sich dieses Kulturguts annahm, noch dieses in die aktuelle Aufführungspraxis einbezogen wurde.“
Gesagt, getan: 2006 gründete Gerold Gruber, der Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien sowie Stimmbildung und Pantomime bei Samy Molcho an der damaligen Hochschule für Musik und darstellende Kunst studiert hatte, den Verein exil.arte. „Wir waren noch keine universitäre Einrichtung, aber das österreichische Außenamt in Person der Gesandtin Waltraud Dennhardt-Herzog, die die Kulturabteilung leitete, vermittelte mir entscheidende Kontakte. Durch sie lernte ich zahlreiche Rechtsnachfolger der schöpferischen Musiker und Sänger kennen, die mich über Nachlässe von Partituren, Dokumente und Briefen informierten.“ Die Dankbarkeit für die Diplomatin, die bald danach das Generalkonsulat in New York leitete, ist noch heute sehr präsent. Dennhardt-Herzog, die jetzt dem Austrian Cultural Forum in London vorsteht, hält auch weiterhin die Kultur der sterreichischen Exilgemeinde aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs lebendig.
„Er erinnerte mich stark an
meinen verstorbenen Großvater, und als er
mir seine Lebensgeschichte erzählte, konnte
ich das alles nicht glauben.“
Ronald S. Pohl
Als in Wien der Verein Orpheus Trust geschlossen wurde, und weil die dort gesammelten Nachlässe nach Berlin verlegt wurden, waren Gruber und viele andere dieser Sparte ziemlich entsetzt, dass diese bereits vorhandenen Schätze abwanderten. „Ich war mir sicher, dass die Künstler dort zwar archivarisch gut betreut werden, aber diese schöpferischen Menschen waren viel stärker mit Wien verbunden.“ Gruber fand in der Nationalbibliothek und der Wien Bibliothek offene Ohren für sein Anliegen, denn alle wollten diese Werte hier behalten. Doch der Orpheus Trust bestand trotz der großen Unterstützung durch die Stadt Wien darauf, diese Materialien Berlin zu überantworten.
Es wäre aber nicht Gerold Gruber, wenn er aufgegeben hätte. Er klagte sein Leid u. a. seiner hilfreichen Gesandtin. „Ihre Reaktion war glasklar, sie sagte nur: ‚Nicht jammern! Da muss etwas passieren, damit wenigstens etwas von dem unschätzbar Wertvollen, das nach 1945 verloren ging, ins Ursprungsland zurückgebracht wird.‘ So konnten wir 2006 mit Hilfe des Nationalfonds, des Zukunftsfonds und der substanziellen Kontakte durch das Außenamt den Verein gründen“, freut sich der Initiator. Mittels Symposien und Konzerten gelang es, die Öffentlichkeit mit dieser wiederentdeckten Musik zu befassen. Deren Vielfalt reicht von der Operette über die Zweite Wiener Schule und den Jugendstil bis zum Film-Chanson, Kabarett und vielem mehr.

1030 Wien) befindet sich, in unmittelbarer Nähe zu Konzerthaus und Akademietheater, in den Räumen der mdw und bietet in seinen Räumen Dauer- und Sonderausstellungen ebenso wie Raum und Expertise bei
Forschungsvorhaben.
Da es in Wien kein Archiv gab, war es sehr schwierig, Nachfahren oder Nachlassanwälte dazu zu bewegen, die Originalpartituren dem Verein zu überantworten. Doch die Wende kam im Oktober 2015, als Ulrike Sych zur Rektorin der mdw ernannt wurde, denn bereits nach wenigen Monaten fragte sie Gerold Gruber, ob er ein Forschungszentrum über das Exil machen möchte. „Ich war überglücklich und rief gleich Eva Gál an, die Tochter von Hans Gál.* Der Komponist und Musikpädagoge Hans Gál wurde in Brunn am Gebirge geboren, machte aber bis zur Machtergreifung der Nazis in Deutschland Karriere“, erzählt Gruber. „Eva überlegte, seine Musik der British Library oder der Bibliothek in York zu übergeben.“ Zehn Jahre lang hat der Musikforscher den Kontakt zu Eva Gál gepflegt – und zu guter Letzt war er erfolgreich. Sechzig Prozent von Gáls Musik konnten nun in Wien aufgeführt werden.
Der Nachlass Julius Bürger. Mit der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aufarbeitung der seit Juli 2017 auf 36 wertvolle Nachlässe gewachsenen Bestandes (darunter so bekannte wie Egon Wellesz, Erich Wolfgang Korngold, Fritz Kreisler, Jan Kiepura und Marta Eggerth, Richard Tauber) ist es gelungen, ein verschollenes Kulturerbe nach Wien zurückzubringen. Der erste Nachlass war jener von Julius Bürger.
„Er kam in meine Kanzlei und wollte nur ein Testament machen. Er erinnerte mich stark an meinen verstorbenen Großvater, und als er mir seine Lebensgeschichte erzählte, konnte ich das alles nicht glauben“, erzählt Ronald S. Pohl, Rechtsanwalt in New York, der für die Präsentation eines Filmporträts über Julius Bürger im Sommer 2024 nach Wien kam.
„Es entwickelte sich eine innige Freundschaft zwischen uns, und er führte mich in seine Wohnung in Queens, wo ein Riesenstapel verstaubter, handgeschriebener Partituren am Boden lagen“, erinnert sich Pohl weiter. Bürgers Wunsch, seine Musik noch öffentlich aufgeführt zu hören, hat ihm Pohl weitgehend erfüllen können. Im Alter von 98 Jahren verstarb der Wiener Komponist, und der „Enkel“-Anwalt meldete sich beim Musikwissenschaftler Michael Haas, der seit 2016 als Senior Researcher für das Exilarte-Zentrum arbeitet. „Keiner von uns kannte seine Werke, das war eine echte Entdeckung!“, freut sich Gruber, dem es 2023 gelang, Bürgers Orchesterwerke zum ersten Mal in New York, Tel Aviv und Wien der Öffentlichkeit zu Gehör zu bringen.

Wien, London, New York. Julius Bürger wurde als eines von neun Kindern 1897 in Wien geboren. Sein Vater Joseph war Schneider, seine Mutter Hausfrau. 1919 begann er sein Studium bei Franz Schreker in Wien, 1920 folgte er seinem Lehrer nach Berlin. Aufgrund einer Empfehlung Bruno Walters wurde Bürger Assistent von Artur Bodanzky an der Metropolitan Opera in New York. 1929 wechselte er als Otto Klemperers Assistent an die Krolloper in Berlin. 1933, als Hitler Reichskanzler wurde, musste er nach Wien zurückkehren. Er war weiterhin als Arrangeur und Dirigent tätig, unter anderem auch immer wieder für die BBC in London. Die politischen Veränderungen in Österreich 1938 veranlassten Bürger und seine Frau, auf dem Weg von London nach Wien den Zug bereits in Paris zu verlassen. Ein Jahr später emigrierten sie nach Amerika. Seine Mutter wurde auf dem Transport nach Auschwitz erschossen, fünf seiner Brüder wurden im Lager ermordet.
In den USA war Bürger ab 1949 wieder an der Metropolitan Opera tätig, und es entstand eine enge künstlerische Freundschaft mit Dimitri Mitropoulos. Obwohl er kaum noch komponierte, gewann er 1984 einen Kompositionspreis an der University of Indiana mit einem Werk, das er schon 39 Jahre zuvor komponiert hatte: Variationen über ein Thema von C. Ph. E. Bach.
„Es ist unbedingt notwendig, die große
Lücke, die die NS-Verfolgung hier gerissen hat,
auch nur ein wenig aufzufüllen.“
Gerold Gruber
Der unschätzbare Wert des ExilarteZentrums besteht auch darin, dass es nicht nur als Anlauf- bzw. Schnittstelle für Rezeption, Erforschung, Bewahrung und Präsentation der Werke von Komponistinnen und Komponisten, Interpretinnen und Interpreten, Musikforscherinnen und Musikforscher sowie Theaterkünstlerinnen und Theaterkünstler gilt, sondern mit seinen fünf Mitarbeiterinnen unter der Leitung von Professor Gerold Gruber die Aufarbeitung der Vielfalt dieses Kulturerbes vorantreibt. Dieses große und wichtige Vorhaben kann nur mit multidisziplinärer sowie spartenübergreifender Unterstützung bewältigt werden.
Mit der Eröffnungsausstellung Wenn ich komponiere, bin ich wieder in Wien, die bald schon zur Dauerausstellung erweitert wurde, hat das Exilarte-Zentrum auch das emotionale Moment gut eingefangen. „Er erinnerte mich stark an meinen verstor- benen Großva- ter, und als er mir seine Le- bensgeschichte erzählte, konnte ich das alles nicht glauben.“ Ronald S. Pohl
* Richard Strauss und Wilhelm Furtwängler empfahlen Gál 1929 als Direktor der Mainzer Musikakademie. 1933 verlor Gál seine Anstellung in Mainz und flüchtete vorerst nach Wien. Nach dem „Anschluss“ schaffte es Gál 1938 noch nach England, wo er 1940 auf der Isle of Man interniert wurde. Von 1945 bis 1965 lehrte er an der University of Edinburgh und gründete mit dem ebenso aus Wien stammenden Rudolf Bing (später Direktor der Met in New York) das Edinburgh Festival. 1957 erhielt er zum zweiten Mal den Österreichischen Staatspreis, kehrte aber nicht mehr nach Österreich zurück. Hans Gál verstarb 1987 in Edinburgh.