Den alten Glanz nachempfinden

Österreichweit bemüht sich die Kultusgemeinde, die jüdischen Friedhöfe zu sanieren und sicher begehbar zu machen. Eine besondere Herausforderung ist das richtige Wiederaufstellen der Grabsteine am Friedhof in der Seegasse – er ist der älteste noch erhaltene jüdische Friedhof in Wien und wurde im 16. Jahrhundert errichtet. In der NS-Zeit ordneten die Nationalsozialisten die Zerstörung an – viele der Grabsteine konnten aber auf den Zentralfriedhof gerettet und dort vergraben werden. Seit einigen Jahren wird der Friedhof nun Stück für Stück rekonstruiert.

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Das Friedhofsgelände: sich ein Bild vom aktuellen Zustand machen. ©Alexia Weiss

Es ist ein Puzzle der besonderen Art, das in Angriff zu nehmen überhaupt nur möglich war, da dieser Friedhof zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Bernhard Wachstein im Auftrag der damaligen Historischen Kommission der IKG Wien penibel dokumentiert wurde. Die Inschriften des alten Judenfriedhofs in Wien erschien 1912 bei Wilhelm Braumüller. Das zweibändige Kompendium ist die Grundlage für die Arbeit des Restaurators und Bildhauers Heinz Stöffler, der das Sanierungsprojekt Friedhof Seegasse leitet.
Wachstein fertigte einerseits einen Lageplan an, sodass es nun möglich ist, die Grabsteine wieder über den Gräbern, die auf dem Areal, das nicht bebaut wurde, nicht zerstört wurden, aufzustellen. Ein Teil des Friedhofsgrundstückes wurde allerdings zwischenzeitlich bebaut, dort befindet sich ein Seniorenheim der Stadt Wien. Der Friedhof ist im Garten dieses Heimes gelegen und kann auch nur durch dieses betreten werden.
Andererseits beschrieb Wachstein jedes einzelne Grab so umfassend wie möglich. Teils fotografierte er Grabsteine, teils fertigte er Abschriften der Grabinschriften an und skizzierte die Grabgestaltung. Er interpretierte diese Inschriften zudem Zeile für Zeile, merkte auch an, wo möglicherweise dem Steinmetz Fehler passiert waren. Wo immer möglich, versuchte er, zu den Verstorbenen biografische Informationen dar- und Querverbindungen zu anderen Personen der damaligen jüdischen Gemeinde herzustellen.
Die Herausforderungen Wachsteins zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren allerdings ganz andere als jene nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Um 1900 war der Friedhof intakt, manche Inschrift aber schon verwittert. Da standen die inhaltliche Arbeit, die Recherche im Archiv, die wissenschaftliche Dokumentation im Vordergrund. Heinz Stöffler sieht sich heute vor allem mit technischen und handwerklichen Herausforderungen konfrontiert. Bei einer Begehung des Friedhofes sowohl mit Vertretern und Vertreterinnen von IKG wie auch von Bundesdenkmalamt und der Kulturabteilung der Stadt Wien erläuterte er die zahlreichen Herausforderungen. Nicht nur gilt es, die teils sehr verwitterten Steine zu restaurieren und an der richtigen Stelle wieder aufzustellen. Sie werden auch gesichert aufgestellt, um ein Kippen in der Zukunft zu verhindern.
Gesichert bedeutet: Es wird ein Betonring gefertigt, der dem Stein Halt gibt. Dieser Ring wird mit Sand befüllt, sodass das Regenwasser durchsickern kann und die Steinsubstanz nicht beschädigt wird. Dort, wo weder ein ganzer Grabstein noch ein Fragment aufgefunden werden kann, lässt Stöffler die betreffenden Gräber durch das Setzen von Betonriegeln markieren. So sollen auch die ursprünglichen Wege des Friedhofs wieder sichtbar werden.
Wie aber geht man mit Steinfragmenten um? Stöffler zeigt mir dazu das Grab mit der Plannummer 170 und der Belegnummer 816. Es handelt sich um den Grabstein des 1736 verstorbenen Benjamin Wolf b. Jehuda aus Berlin, gefertigt aus Sandstein. Erhalten ist der obere Teil des Steines. Da Wachstein auch die genauen Abmessungen der Grabsteine dokumentiert hat, konnte nun der untere Teil – ohne die Inschrift, damit auch klar sichtbar ist, was ist Original, was nur Stütze – nachgegossen werden. Die Maße dieses Steins hatte Wachstein mit einer Höhe von 169 Zentimeter, einer Breite von 112 Zentimeter und einer Dicke von 20 Zentimetern angegeben. Von den 18 Zeilen Text sind nun noch neun vollständig und vier teilweise erhalten.

Renoviert. Der Grabstein von Benjamin Wolf b. Jehuda, angelegt 1736, von Schöndl, T. Lazar Pösing (Hischl), Fr. Isak Oppenheim, angelegt 1741, und (als Kopie) von R. Simson b. Josef Josel Wertheim aus dem Jahr 1724 (v. l. n. r.). © Alexia Weiss

Das 1741 angelegte Grab mit der Plannummer 72 und der Belegnummer 848 ordnete Wachstein „Schöndl, T. Lazar Pösing (Hischl), Fr. Isak Oppenheim“ zu. Es handelt sich also um Schöndl, Frau des Isak Oppenheim und Tochter von Lazar Pösing. Diesen Grabstein aus Marmor fanden Stöffler und sein Team zerbrochen vor, er konnte weitgehend wieder zusammengesetzt werden, ein kleiner Teil fehlt jedoch. Die vorhandenen Teile wurden hier verdübelt, der fehlende Teil so nachgegossen, dass der Betrachter auch hier erkennt, was Original und was Rekonstruktion ist. Daher wurde auch darauf verzichtet, die Schrift auf dem nachgegossenen Teil zu ergänzen.
Bei dem Grab einer der wichtigsten historischen Personen, die auf dem Friedhof in der heutigen Seegasse beerdigt wurden, jenem von R. Simson b. Josef Josel Wertheim, verstorben 1724, entschied man sich wiederum, eine Kopie des Zeltgrabes anzufertigen, und orientierte sich auch dabei an den Angaben von Wachstein (Plannummer 68, Belegnummer 765). „Sarkophag aus Marmor“ hatte dieser festgehalten, danach die genauen Maße der einzelnen Platten notiert.

Wo immer möglich, versuchte er zu den Verstorbenen biografische Informationen dar- und Querverbindungen zu anderen Personen der damaligen jüdischen Gemeinde herzustellen.

 

Hoffaktor. Wertheim, teils in geschichtlichen Aufzeichnungen auch als Samson Wertheimer beziehungsweise Wertheimber geführt, kam 1658 in Worms zur Welt. 1684 zog der Rabbiner nach Wien und wurde über die Vermittlung von Samuel Oppenheimer zu den Finanzgeschäften am Wiener Hof zugelassen. Er war Hoffaktor (ein an einem Hof beschäftigter Kaufmann) und Kreditgeber Leopolds I. Im Zug der Vertreibung von Juden aus Wien 1670 musste auch er die Stadt verlassen und wirkte nun von Eisenstadt aus, wo jüdisches Leben dem dortigen Fürsten Paul I. Esterházy willkommen war. Im Burgenland förderte er den Aufbau der Siebengemeinden (Schewa Kehillot). In Wertheimers ehemaligem Haus ist heute das Österreichische Jüdische Museum untergebracht.

Bedeutung des gefeierten Mannes. Steht man heute auf dem Friedhof Seegasse, sticht dieses Grab – selbst als Kopie – sichtbar heraus. Das scheint auch schon Wachstein so wahrgenommen zu haben, denn er schrieb: „So wie das Denkmal, das die Erinnerung an Simson Wertheimer festzuhalten bestimmt war, sich vor allen anderen durch reich gegliederte Formen auszeichnet, so sollte auch die reiche Inschrift durch Stil und Form die Bedeutung des in der ganzen Judenheit gefeierten Mannes in einer eigenen Art anzeigen. Die Zusammenreihung von zum Teile entlegenen Stellen aus dem ganzen Schrifttum, die durch Umänderungen des ersten Wortsinnes erzeugten Anspielungen auf die Eigenschaften und Lebensumstände des Verstorbenen stellten auch an den Leser der damaligen Zeit, wo die Kenntnis der rabbinischen Literatur eine verbreitertere war, nicht geringe Anforderungen. Aber gerade dies liegt in der Absicht des Verfassers der Inschrift. Das Lob des Gefeierten soll durch dessen eigene Ideenwelt, durch das, was seinen Lebensinhalt ausmachte, gleichsam seine Objektivierung finden. Den Zeitgenossen und auch den Nachkommen die Bedeutung Wertheimers einfach mitzuteilen, hielt der Autor für ganz überflüssig. Aber jedermann, der vor das Denkmal hintritt, sollte den lebendigen Eindruck der Persönlichkeit Wertheimers verspüren.“
Auch wenn Wachstein in seiner Beurteilung Wertheimers als Gelehrter zum Schluss kam, dass dessen Vorträge zwar von einer Versiertheit im Schrifttum zeugten, sich aber nicht über das Mittelmaß erhoben, hielt er in seiner Dokumentation anerkennend fest: „Die Vereinigung von Gelehrsamkeit und praktischer Welterfahrung verlieh der Persönlichkeit des Oberhoffaktors und Landes- und Oberrabbiners einen Glanz, der weithin erstrahlte. Die Schulung und scharfe logische Ausbildung des Verstandes hat denn auch das ihrige beigetragen, das Leben Wertheimers glücklicher zu gestalten als das Samuel Oppenheimers. War dieser geniale Finanzmann ein kühner Unternehmer, dem die geschäftlichen Operationen Lebensbedingung waren, so war jener ein klar denkender Geschäftsmann, der das Erworbene zu schätzen wusste. War Oppenheimer seiner Natur gemäß ein vorwärts drängender Charakter, dem sein Tätigkeitsdrang keine Zeit für eine Rückschau ließ, so war Wertheimer ein glänzender Verwalter, der zu jeder Zeit über den Stand seiner Angelegenheiten sich Rechenschaft abgeben konnte.“

© Alexia Weiss

All diese Zwischentöne wird man heute nur verstehen, wenn man sich eingehend mit den Schriften befasst hat und die Texte auf diesem imposanten Grab nicht nur wörtlich erfasst, sondern auch die Zusammenhänge herstellen kann. Umso größer ist der Schatz, den Wachstein der Wiener jüdischen Gemeinde vor etwas mehr als 100 Jahren mit seiner Dokumentation des Friedhofes hinterlassen hat. Sie ermöglicht nun eine Rekonstruktion. Sie ermöglicht es, einen wichtigen Ort jüdischer Geschichte in dieser Stadt auch für künftige Generationen zu erhalten.
Bis der Friedhof gänzlich wieder zusammengesetzt ist, haben Stöffler und sein Team allerdings noch alle Hände voll zu tun. Denn sowohl am 4. Tor wie auch in der Seegasse selbst sind noch Steine vergraben, müssen Fragmente zugeordnet, restauriert und an der richtigen Stelle aufgestellt und gesichert werden. Es ist ein Mammutprojekt, allerdings eines, das auch zeigt, dass dem Ziel der Nationalsozialisten zum Trotz, das Judentum auszuradieren, dieses Judentum weiter lebt und auch alles dafür tut, den Toten von einst ihre Namen und damit die Erinnerung an sie wiederzugeben.

10 Jahre Friedhofsfonds

2001 wurde im Entschädigungspaket von Washington auch eine substanzielle Beteiligung der öffentlichen Hand bei der Sanierung jüdischer Friedhöfe in Österreich fixiert. Es dauerte allerdings bis zum Dezember 2010, bis dafür auch die gesetzliche Grundlage geschaffen wurde. Seitdem gibt es einen Friedhofsfonds, der vom Nationalfonds verwaltet wird. Die Israelitischen Kultusgemeinden, die sich um die Sanierung der Friedhöfe kümmern, können dabei für jedes konkrete Instandsetzungsprojekt um Fördermittel ansuchen. Für 20 Jahre wurden dabei vom Bund 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, wobei allerdings immer auch Eigen- beziehungsweise Drittmittel nachgewiesen werden müssen. Nach einer erfolgten Sanierung übernimmt die jeweilige Gemeinde die weitere Pflege, dazu werden auch jeweils Pflegevereinbarungen geschlossen. Österreichweit gibt es mehr als 60 jüdische Friedhöfe.
ikg-wien.at/friedhoefe-massengraeber

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