
WINA: Deportation – deportiert. Können diese Begriffe im Deutschen überhaupt noch ohne den Nationalsozialismus und ohne die damit verbundene potenziell tödliche Gefahr für die Betroffenen gedacht werden?
Michaela Raggam-Blesch: Aus meiner Sicht als Historikerin der Holocaust Studies ist der Begriff im Deutschen untrennbar mit der Bedeutung verbunden, die er während des NS-Regimes erhielt. Deportationen waren ein zentrales Element der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und bildeten die Vorstufe zum Genozid. Menschen, die aufgrund ihrer „rassischen“ Zuordnung zur Verfolgung und Ermordung bestimmt waren, wurden gewaltsam aus ihren Wohnungen geholt und in Sammellagern interniert, bevor sie schließlich in Züge verladen wurden. In unserem Tagungsband war es uns daher wichtig zu betonen, dass der Holocaust für Hunderttausende von Menschen nicht an fernen Orten „im Osten“ begann, sondern in ihren Gemeinden und Heimatländern. Und für jüdische Wiener und Wienerinnen hier in Wien.
Marianne Windsperger: Wir haben im Deutschen natürlich eine besondere Sensibilität gegenüber „kontaminierten“ Begriffen, und das ist gut so. Von „Deportationen“ zu sprechen und damit auf Ausweisungen, Abschiebungen und Pushbacks an Grenzen anzuspielen, ist im Deutschen nicht möglich, ohne die Bedeutungen dieses Begriffs während des NS-Regimes mitzudenken. Es ist aber auffallend, wie sehr die extreme Rechte in Europa daran arbeitet, gewisse Begriffe umzudeuten und zu vereinnahmen: „Remigration“ wird beispielsweise im deutschsprachigen Raum von rechten Gruppierungen mittlerweile als beschönigender Begriff für die Vertreibung und Ausweisung ganzer Bevölkerungsgruppen verwendet. Gerade in der Migrations- und Exilforschung wurde der Begriff lange für die mehr oder minder freiwillige Rückkehr von Menschen in ihr Herkunftsland verwendet und auch „Rückkehrmigration“ genannt. Forscherinnen und Forscher heute können den Begriff „Remigration“ also kaum mehr verwenden, ohne die Bedeutungsschichten, die er inzwischen dazubekommen hat, zu thematisieren.

Im deutschsprachigen Raum ist in der aktuellen Debatte rund um Geflüchtete und Migranten, die von einem Teil der politischen Player nicht erwünscht sind, von „Abschiebungen“ die Rede. In den USA sprechen Präsident Donald Trump und auch die Medien hingegen von „deportations“. Wird sich das auch auf den deutschsprachigen Diskurs auswirken?
MRB: Die aktuellen Ereignisse in den USA sind tatsächlich erschreckend – insbesondere weil „deportations“ von sogenannten „illegals“, also Personen ohne offizielle Aufenthaltsberechtigung, von Trump als Wahlversprechen propagiert wurden und von großen Teilen der amerikanischen Bevölkerung unterstützt werden. Dabei handelt es sich oft um Menschen, die seit Jahren in den USA leben, dort Familien gegründet haben, systemrelevante Arbeiten übernehmen und Steuern zahlen.
Doch auch in Europa sind „Abschiebungspläne“ von Geflüchteten insbesondere innerhalb rechter Parteien hoch im Kurs. Nehmen wir hier in Österreich die Positionen der FPÖ. Ein alarmierendes Signal war zudem der Ende Jänner im deutschen Bundestag eingebrachte, letztlich jedoch gescheiterte Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik. Diesem ging erstmals eine Zusammenarbeit zwischen der CDU/CSU und der AfD voraus. Während dies in Deutschland vielerorts für erheblichen Aufruhr sorgte, trat in Österreich zeitgleich die ÖVP in Regierungsverhandlungen mit der FPÖ ein. All dies zeigt, dass die vielbeschworene politische Mitte überall zunehmend nach rechts rückt.
Die Kriminalisierung von Geflüchteten als „criminals“ und die Androhung von „deportations“ in den USA stehen für eine besorgniserregende Entwicklung, deren globale Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Auch wenn sich hier gewisse Parallelen zur Politik der Ausgrenzung im NS-Regime aufdrängen, können diese Maßnahmen dennoch nicht mit den Deportationen der Nationalsozialisten gleichgesetzt werden – denn für viele der Verfolgten führten diese direkt in den Tod.
„Die Kriminalisierung von Geflüchteten
als „criminals“ und die Androhung von „deportations“
in den USA stehen für eine besorgniserregende Entwicklung, deren globale Auswirkungen noch nicht absehbar sind.“
Michaela Raggam-Blesch
In Ihrem Buch zeigen Sie auf, wie in der NS-Zeit nach und nach immer mehr Personengruppen von „Deportationen“ betroffen waren – so ging es ab 1943 zunehmend um Menschen aus „gemischten Familien“, aber auch um die so genannten „Geltungsjuden“. Wenn Sie die systematische Säuberung durch die Nationalsozialisten zu Ende denken: Hätte sich diese Ideologie noch länger gehalten, wer hätte am Ende keine Sorge mehr haben müssen, eines Tages wegtransportiert zu werden?
MRB: In unserem Buch war es uns ein besonderes Anliegen, auch auf Gruppen hinzuweisen, die zunächst unter vorläufigem Schutz standen, wie die Angehörigen von „Mischehefamilien“. Während der systematischen Massendeportationen der Jahre 1941/42 waren sie zumeist von den Deportationstransporten zurückgestellt.
Nach der Deportation des Großteils der jüdischen Bevölkerung gerieten jedoch auch jene Jüdinnen und Juden zunehmend ins Visier der Behörden, die durch einen nicht-jüdischen Elternteil oder Ehepartner zunächst geschützt waren.
Die Vielzahl an antijüdischen Verordnungen griff immer stärker in den Alltag der Verfolgten ein – dazu zählten Anordnungen wie das Verbot, Haustiere zu halten, öffentliche Lokale zu besuchen sowie der Ausschluss vom Bezug von Milch, Eiern und Fleischprodukten. Diese Maßnahmen führten zu einer Kriminalisierung jüdischen Lebens. Um zu überleben, sahen sich viele gezwungen, gegen diese Verordnungen zu verstoßen. Wurden Verfolgte etwa mit verbotenen Lebensmitteln aufgegriffen, wurden sie nach kurzer Haftzeit meist direkt nach Auschwitz deportiert.
Gegen Kriegsende wurde schließlich auch der Schutz bestehender „Mischehen“ aufgehoben und noch knapp 2.000 Personen aus mehreren deutschen Städten im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert. Das Überleben dieser Menschen war demnach also nicht vorgesehen.
Darüber hinaus waren auch andere Gruppen von Verfolgung und Vernichtung betroffen, darunter Roma, homosexuelle oder als „asozial“ definierte Personen sowie Menschen mit Beeinträchtigungen. Ebenso gerieten ethnische Gruppen wie Personen tschechischer Herkunft, sowjetische Kriegsgefangene und sogenannte „Ostarbeiter“ in den Bannkreis der NS-Verfolgung. Um es mit Martin Niemöllers berühmtem Zitat auszudrücken: Am Ende wäre wohl kaum jemand übrig geblieben.

An „Deportationen“ in der NS-Zeit erinnern heute in vielen Städten verschiedenste Denkmäler. In Wien gibt es zum Beispiel am Westbahnhof das Denkmal „Für das Kind“ und am Gelände des ehemaligen Aspangbahnhofes das „Mahnmal Aspangbahnhof“. Was schaffen solche Interventionen im öffentlichen Raum – und was schaffen sie nicht?
MRB: Wie auch immer man zur künstlerischen Umsetzung dieser Denkmäler steht, sind diese wichtige Eingriffe in den öffentlichen Raum, die auf die Präsenz der durch die Shoah „kontaminierten Orte“ in der Topografie der Stadt verweisen. Auch wenn Robert Musil von der „Unsichtbarkeit“ von Denkmälern spricht, wirken sie dennoch als Interventionen, über die wir im Alltag – wie am Beispiel der „Steine der Erinnerung“ – auch sprichwörtlich stolpern können. Sie halten die Erinnerung an das Schicksal der Ermordeten wach und fordern eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
MW: Denkmäler sind sichtbare Erinnerungszeichen, touristische Anziehungspunkte und werden zu Ausgangspunkten neuer Fragen und Aneignungen für jüngere Generationen. Auch wenn Denkmäler nicht die Geschichten einzelner Deportierter, Ermordeter oder geretteter Kinder erzählen können, so sind sie vielleicht doch Anlass, ein Buch zu dem Thema zu lesen oder eben die Stimmen der Überlebenden in Form von Memoiren, Interviews, Autobiografien oder Tagebüchern zu entdecken – vieles ist online leicht verfügbar. Gerade Bahnhöfe sind stark frequentierte Durchgangsorte, aber auch Orte, an denen man wartet, und hier können Denkmäler als Anstoß wirken, sich mit der Geschichte des NS-Regimes auseinanderzusetzen.
„[…] über die Hälfte der Befragten in
den USA gibt an, dass sie glauben, dass sich
der Holocaust wiederholen könnte.
Ich sehe das als Auftrag, weiterzuforschen
und zu vermitteln.“
Marianne Windsperger
Oft ist vom „Lernen aus der Geschichte“ die Rede. So genannte Abschiebungen im Heute passieren auf Basis geltenden Rechts – dagegen als Zivilgesellschaft anzukämpfen ist daher meist erfolglos. Ein Machtwechsel in der Regierung kann aber auch zu noch strikteren gesetzlichen Regelungen führen. Allerdings hat auch der NS-Terrorstaat immer zunächst den rechtlichen Unterbau für seine Vernichtungspläne geschaffen. Was sind die Kriterien, damit man hier vom Kippen des Rechtsstaats in einen Unrechtsstaat sprechen kann?
MRB: Der NS-Staat hat tatsächlich eine legale Basis für seine Mordmaschinerie geschaffen. Um beispielsweise die Enteignung deportierter Jüdinnen und Juden rechtlich abzusichern, trat im Herbst 1941 – noch vor Beginn der systematischen Massendeportationen – die 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes in Kraft. Damit verloren alle als jüdisch definierten Personen ihre Staatsangehörigkeit, sobald sie ihren Aufenthalt ins Ausland verlegten. Ihr gesamtes Vermögen fiel dem Deutschen Reich zu. Dies galt auch für jene, die gegen ihren Willen deportiert wurden und damit die Reichsgrenzen überschritten. Fritz Bauer prägte in diesem Zusammenhang die Definition des NS-Regimes als Unrechtsstaat par excellence.

Auch heute gibt es in Europa und den USA Entwicklungen, die demokratische Strukturen gefährden. Dennoch würde ich selbst in Ländern wie Ungarn, wo Viktor Orbáns Politik die Demokratie erheblich geschwächt hat, nicht von einem Unrechtsstaat sprechen. Alarmierend sind diese Tendenzen jedoch allemal – dazu gehören auch die Pläne des Projects 2025 und die im Eilverfahren erlassenen Dekrete des US-Präsidenten Trump.
MW: Ich möchte hier nochmal zum Lernen aus der Geschichte zurückkommen. Natürlich bewegen wir uns als Holocaustforscher und -forscherinnen in einer Bubble, aber wir sind davon überzeugt, dass das konkrete Wissen über die Schritte von der Ausgrenzung zur Vernichtung von Jüdinnen und Juden, Romnja und Roma, Sintizze und Sinti, homosexuellen Menschen und anderen hilft, Unrecht zu erkennen und antidemokratischen Tendenzen entgegenzutreten.
Wie jedoch eine Studie der Claims Conference, die anlässlich des 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Jänner veröffentlicht wurde, zeigt, ist das Wissen über den Holocaust sehr lückenhaft – in Europa und den USA gleichermaßen. Vernichtungsorte sind unbekannt, Zahlen der Opfer werden unterschätzt, und über die Hälfte der Befragten in den USA gibt an, dass sie glauben, dass sich der Holocaust wiederholen könnte. Ich sehe das als Auftrag, weiterzuforschen und zu vermitteln – auch durch wissenschaftliche Publikationen wie diese. Es gibt noch viel zu tun.