„Der Abgrund ist viel tiefer als die reine Brutalität“

Zur kommenden Uraufführung von Eichmann vor Gericht im Landesgericht Linz sprach WINA mit dem historischen Berater der Produktion, dem renommierten österreichischen Historiker und Autor Doron Rabinovici, und dem leitendenden Dramaturgen des Landestheaters Linz Andreas Erdmann über die herausfordernde Aufgabe, aus den zahlreichen Quellen eine zeitgemäße Dramatisierung des Prozesses von 1961 zu erarbeiten.

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Im Verhandlungssaal des Linzer Landesgerichts steht ab 21. September in einer Produktions des Landestheaters Linz Eichmann vor Gericht. © Philip Brunnader/Landestheater Linz

WINA-TIPP
Eichmann vor Gericht
Dokumentartheater nach den historischen Prozessunterlagen
Landestheater Linz im Landesgericht Linz,
20.09.2025, 19:30 Uhr: Premiere;
weiter Vorstellungen von 24.09.
bis 26.10.2025, 19:30 Uhr;
Inszenierung: Peter Wittenberg;
Beratung: Doron Rabinovici
landestheater-linz.at

In die im September beginnende Spielzeit 2025– 2026 fällt auch der 60. Jahrestag der Entdeckung Adolf Eichmanns durch den israelischen Geheimdienst im argentinischen San Fernando und dessen Auslieferung nach Israel. Diese machte es erst möglich, ihn für die ihm vorgeworfenen NSKriegsverbrechen vor Gericht zu stellen. Zu den von Generalstaatsanwalt Gideon Hausner formulierten Anklagepunkten zählten u. a. „Verbrechen gegen das jüdische Volk“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Kriegsverbrechen“ und die „Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation“. Der Prozess lief von April bis Dezember 1961 vor dem Jerusalemer Bezirksgericht und endete mit der Verurteilung des Angeklagten. Hannah Arendt veröffentlichte nur zwei Jahre später ihre rasch zu weltweiten, teils heftigen Diskussionen führenden Beobachtungen des Prozesses Eichmann in Israel. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. 20 Jahre später wurde Heinar Kipphardts auf Hannah Arendts Argumentationen basierendes Schauspiel Bruder Eichmann postum am Münchner Residenztheater uraufgeführt. Mit der Uraufführung von Eichmann vor Gericht widmet sich nun das Landestheater Linz erneut dem Prozess des in Linz aufgewachsenen Leiters der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“ ab 1938 und der „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ in Berlin ab 1939. Das Dokumentarstück greift dabei wesentliche Forschungserkenntnisse und Publikationen der letzten Jahre auf.

WINA: Wie kam es zur Entscheidung, ein Dokumentarstück über den Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann zu erarbeiten? Waren dabei biografische Aspekte wie Eichmanns Aufwachsen in Linz ausschlaggebend oder historische Eckdaten: Eichmann wurde vor 65 Jahren, im Mai 1960, vom israelischen Geheimdienst in seinem argentinischen Fluchtort aufgegriffen und nach Israel verbracht und damit erst, mit großer Verspätung, der Prozess gegen ihn möglich.

Andreas Erdmann:
Wir hatten schon seit Längerem über ein Projekt zum Eichmann-Prozess nachgedacht, sicher wegen Eichmanns Verbindung zu Linz. Heinar Kipphardts bekanntes Stück Bruder Eichmann ist jedoch politisch tendenziös, das wollten wir nicht machen. Den konkreten Anstoß stellte dann ein neuer Höchststand rechtsextremer Straftaten in Österreich dar. Und die Möglichkeit, im Schwurgerichtssaal des Linzer Landesgerichts zu spielen. Im Landestheater gibt es einen Umbau, und als uns das Landesgericht freundlicherweise seinen Schwurgerichtssaal anbot, drängte sich uns das Thema wieder auf. Wir haben uns daraufhin mit dem Regisseur Peter Wittenberg und mit Doron Rabinovicis großer Unterstützung daran herangewagt und fingen zu recherchieren an.

Doron Rabinovici: Andreas Erdmann und ich kannten einander bereits durch die gemeinsame Arbeit an Die letzten Zeugen am Wiener Burgtheater im Jahr 2013, bei der Andreas als Dramaturg entscheidende Arbeit geleistet hat. Ich war daher, als ich angefragt wurde, sofort Feuer und Flamme, dass wir wieder zusammenarbeiten dürfen.

„Aus einer bedeutungs- und sinnlosen Allerweltsexistenz
hatte ihn der Wind der Zeit
ins Zentrum
der ,Geschichte‘ geweht […].“

Hannah Arendt

Mit welchem Material haben Sie für die Entwicklung des Stücks gearbeitet?

AE: Die Szenen, die wir in den Gerichtssaal bringen, stammen vor allem aus den Gerichtsprotokollen sowie aus dem Interview, das der israelische Polizist Avner Werner Less vor dem Prozess mit Eichmann führte. Wenige Zitate haben wir aus Gesprächen übernommen, die Eichmann mit Willem Sassen*, wie er ein geflohener Nationalsozialist, in Argentinien führte. Diese Gespräche, deren Inhalt Eichmann stark belastete, waren zur Zeit des Prozesses zwar bekannt, durften aber als Beweismittel fast nicht verwendet werden – ein furchtbares Dilemma für den Staatsanwalt. Eingestreut sind einige Erinnerungen von Zeitzeug:innen des Prozesses. Das Stück endet mit Worten von Less, der Eichmann 275 Stunden lang verhörte und auch bei dessen Hinrichtung anwesend war.

Doron Rabinovici. Der vielfach ausgezeichnete Historiker und Schriftsteller ist aktuell historischer Berater der Linzer Produktion Eichmann vor Gericht. © Lukas Beck

Wie sah die Zusammenarbeit zwischen dem Projektteam und Doron Rabinovici aus?

AE: Uns war klar, dass Größere, als wir es sind, schon an diesem Stoff in die Irre gingen – sich vielleicht auch von Eichmann haben täuschen lassen. Neben der starken politischen Aufgeladenheit des Themas, die sicher irritieren kann, hat auch Eichmanns Selbstinszenierung besser funktioniert, als es viele Zeitgenoss:innen wahrnahmen. Insbesondere die Publikationen von Bettina Stangneth** bestärkten uns in diesem Eindruck. Eichmann war ein „Puppenspieler“, der verschiedene Identitäten annahm, um die Menschen zu manipulieren – auch in seinem Prozess. Und es war harte Arbeit für die Staatsanwaltschaft, ihm diese Maske vom Gesicht zu reißen. Angesichts dessen suchten wir Linzer Dramaturg:innen jemanden, der sich besser auskannte als wir und uns während der Textauswahl die Richtung weisen konnte – was Doron dann zu unserem Glück von unserem ersten Gespräch an auch getan hat.

Sie haben bereits vor dem Sommer mit den Proben begonnen. Wo stehen Sie aktuell, kurz vor Beginn der Endproben?

AE: Die Situation im Linzer Schwurgerichtssaal gleicht zunächst der eines wirklichen Prozesses, mit Richtern, Zeug:innen, Staatsanwälten, einem Angeklagten, seinem Anwalt, einem Publikum, das in diesem Fall das Linzer Publikum ist. Die Worte, die wir hören, sind die Aussagen wirklicher Menschen, von denen viele Unbeschreibliches erlebt hatten und versuchen mussten, darüber zu sprechen. Das ist keine literarische Fiktion und kann darum auch nicht von den Schauspieler:innen einfach „gespielt“ oder „verkörpert“ werden. Das ist eine große Herausforderung für den Regisseur Peter Wittenberg und seine Dramaturgin Wiebke Melle. Bei der Darstellung Eichmanns liegt die Sache noch ein bisschen anders – was mit der Fragwürdigkeit seiner Aussagen zu tun hat.

Wie hat sich die öffentliche Sicht auf den Prozess vor 60 Jahren, wie die auf Eichmann selbst verändert?

DR: Dazu ist zu sagen, dass sich zwar das Bild dank der nun vorliegenden Dokumente verändert hat. Nur hat das überhaupt keinen Einfluss auf die öffentliche Debatte: Eichmann wird weiterhin als Folie verwendet – gegen jüdische Politik. Weil so getan wird, als spielte die damalige Haltung der jüdischen Funktionäre eine größere Rolle als seine antisemitische Grundeinstellung. Nicht weil die „Judenräte“ die jüdische Gemeinschaft verrieten, sondern weil sie Teil der Opfer waren und in deren Interesse zu handeln versuchten, waren sie verurteilt, sich in die Handlungsvorgaben der Machthaber hineinzuversetzen. Im Sinne der Juden hatten sie wie Nazis zu denken. Sie mussten darauf zählen, dass das nationalsozialistische Reich auf den ökonomischen Nutzen der jüdischen Zwangsarbeit nicht verzichten wollte. Sie hüteten streng die Ordnung der Feinde, weil sie hofften, diese würden sich im Gegenzug ebenfalls an das von ihnen erlassene System, an ihr Gesetz „Arbeit oder Leben“ halten. Sie gingen auf die Lügen und Versprechungen der Nazis ein, denn dies war, wie man es drehte und wendete, die einzige Chance, die überhaupt noch verblieb, einen Teil der Menschen zu retten. Die nationalsozialistischen Behörden konnten jedoch aufgrund ihrer Macht jederzeit alle Spielregeln wieder ändern. Die jüdische Verwaltung versuchte, Zeit zu gewinnen; sie wollte wenige opfern, um viele zu retten. Sie scheiterte beinahe überall: Jede Entscheidung für das Leben war eine für den Tod.
Wir leben in einer Zeit der Inflationierung des Begriffs „Genozid“. Daher ist die Aufführung so wichtig. Hier wird gezeigt, was es bedeutet, dass die Wannsee- Konferenz stattfand, bei der die Absicht zum Genozid klar beschlossen wurde. Die Relativierungen sind derzeit massiv spürbar – von allen Seiten. Hier die antisemitische Dimension aufzuzeigen, ist ganz wichtig.

„Reue nützt nichts, Dinge zu bereuen, ist sinnlos, Reue ist
etwas für kleine Kinder.“
Adolf Eichmann
während des Prozesses

 

Eichmann wurde in Deutschland geboren. Die Familie zog aber bald schon nach Linz. Hier wuchs er auch auf und besuchte das dortige Bundesrealgymnasium Fadingerstraße, wo er sich mit dem späteren Chef der „Sicherheitspolizei“ und des „Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS“ (SD) Ernst Kaltenbrunner anfreundete, auf dessen Einladung hin Eichmann 1932 der österreichischen NSDAP und SS beitrat. Im Stück sagt Eichmann, man wäre in seiner Jugend vor allem „österreichisch“ eingestellt gewesen – und Kaltenbrunner hätte quasi „befohlen“, dass er zur SS käme: „Ich sagte dann: ,Ja, gut!‘ So kam ich zur SS.“

DR:
Als es zum Prozess kam, gab es eine Sitzung in Österreich, bei der besprochen wurde, was man machen könnte, würde Eichmann in Israel als Österreicher eingestuft werden – denn das wollte man ja nicht. Das wäre für die österreichische Lebenslüge, zumal in den 1960er-Jahren, ganz schlecht gewesen. Doch wirklich entscheidend ist, dass Eichmann in Österreich politisiert wurde. AE: „Es lebe Deutschland. Es lebe Österreich. Es lebe Argentinien.“ Diese Sätze sagte er vor seiner Hinrichtung.

Andreas Erdmann, leitender Schauspiel- Dramaturg des Linzer Landestheaters. © Privat

Das Beispiel seines Beitritts zur SS ist ja nur eines von vielen, mit denen Eichmann das Image des einfachen „Befehlsausführers“ perfektionierte.

AE: Zu Eichmanns erfolgreichem Framing gehört die Schutzbehauptung des „Befehlsnotstandes“, seine Selbstdarstellung als „kleines Rädchen“ im Getriebe. Diese Darstellung kam einer ganzen Tätergeneration gelegen. Der „Befehlsnotstand“ war das Feigenblatt, um zu behaupten: Ich persönlich hätte anders gewollt, aber ich konnte nicht. Nur mit großer Mühe konnten die Staatsanwälte aufzeigen, dass Eichmann Handlungsspielräume besessen hatte, die er weidlich nutzte. Und dass er seine Weisungen zum Teil aggressiv überschritt.
Die sogenannte „Endlösung“ war ein Staatsverbrechen, und wir kennen die Erzählung von der Hilflosigkeit der ausführenden deutschen Organe im NS-Apparat. Heute sehen wir aber auch die Korruption, die Unterschlagungen, die Selbstbereicherung dieser ausführenden Kräfte, die im Widerspruch zu den Erzählungen von innerem Widerspruch stehen.

DR: Eichmanns Auftreten vor den jüdischen Funktionären war ab 1938 auch ganz anders als zuvor in Berlin, wo er noch als kleiner Nationalsozialist aufgetreten war. Er wurde erst in Wien zu dem, als den wir ihn kennen. Er ist es auch, der die Idee hat, was man mit dem österreichischen Straßenantisemitismus machen kann. Er ist es, der den Amtsdirektor der Wiener IKG, Josef Löwenherz***, gleich bei der ersten Begegnung mit den jüdischen Funktionäre anherrscht. Die Überlebenden im Jerusalemer Gerichtssaal sagen: Das ist nicht der Mann, den wir damals kennengelernt haben. Der Mann, der hier sitzt, ist ein Häufchen Elend. Aber das war er einst nicht. Alle Täter, die nach 1945 gefragt wurden, warum sie mitgemacht hatten, wollten glauben, dass sie wie Eichmann nur Befehlen gefolgt sind.

Eichmann vor Gericht ist, neben den historischen Fakten, die dokumentarisch dicht eingearbeitet wurden, in meinen Augen auch ein sehr aktueller politischer Kommentar.

DR: Der Zeitpunkt, um ein Stück wie Eichmann vor Gericht auf die Bühne zu bringen, könnte nicht drängender sein. Die falsche Lesart, die sich bis heute durchzieht, macht aus Eichmann einen Technokraten und Opportunisten ohne ideologischen Hintergrund. Das war eine Möglichkeit, das Buch Eichmann in Jerusalem von Hannah Arendt von 1963 zu lesen – aber es war eben eine falsche Lesart. Richtig ist, dass Eichmann Karriere machen wollte. Ich denke aber, dass das, was Arendt wollte, etwas anderes ist, als man ihr allgemein nachgesagt hat. Ich bin davon überzeugt, dass sie ihr Buch gegen eine verflachende zionistische Geschichtsdarstellung geschrieben hat. Sie hatte aber wesentlich weniger Material über Eichmann, als wir es heute haben – und das betrifft den ganzen Aspekt der persönlichen antisemitischen Äußerungen Eichmanns.

Arendts vielzitierter Begriff von der „Banalität des Bösen“ wird so auch mit Texten wie Eichmann vor Gericht wenn schon nicht widerlegt, so doch wesentlich differenzierter betrachtet und neu verhandelbar.

DR: Hannah Arendt schrieb gegen ein Geschichtsbild an und hat dabei einen Aspekt in den Vordergrund gerückt, den ich sehr wichtig finde, nämlich den Täter am Schreibtisch, dem es an Vorstellungskraft mangelt. Sie nahm aber, glaube ich, die falsche Person dafür. Ihr Motiv in Jerusalem war, das Übersehene zu betonen – vielleicht überzubetonen. Aber der entscheidende Punkt ist: Sie hat gewisse Materialien nicht gehabt, die das Bild von Eichmann seither massiv verändert haben.

AE: Der Abgrund ist tiefer als die reine Brutalität. Die Grausamkeit der Shoah ist nicht nur ein staatstheoretisches Problem. Sie basiert auf der Kultur des Antisemitismus, die über lange Zeit gewachsen ist – auch in Österreich, auch in Oberösterreich.

DR: Der entscheidende Punkt, sich mit diesem Prozess aktuell zu befassen, ist, sich mit der Frage nach den „Relativierungen“ – und das sind sie – zu befassen. Und diesen auch entgegenzuwirken. Dabei auch aufzuzeigen, was die antisemitische Dimension dabei ist. Und was die ganz lokale „Tradition“ dieser antisemitischen Kultur – oder auch: Unkultur –, die weit über Österreich hinausgeht. Deswegen ist es auch so besonders, dass wir das Stück an diesem Ort, dem Landesgericht in Linz, wo Eichmann aufwuchs, zeigen können.


* Willem Sassen, deutsch-niederländischer Nationalsozialist, NS-Propagandist und SS-Mann, konnte wie Eichmann nach Argentinien fliehen, wo sich die beiden anfreundeten und von 1956 bis 1960 regelmäßig trafen. Die 73 Tonbänder, die die Gespräche der beiden dokumentieren, übergab Sassen 1979 an Eichmanns Witwe.
** Bettina Stangneth: „Lüge! Alles Lüge!“ – Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers. Zürich, Hamburg 2012.
***
Josef Löwenherz war Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) während der Zeit des Nationalsozialismus sowie ab November 1942 Judenältester im „Ältestenrat der Juden in Wien“. 1945 wurde er als Kollaborateur mit dem NS-Regime verhaftet, das Ermittlungsverfahren jedoch bald darauf eingestellt. Er starb 1960 in New York an einem Herzinfarkt, nachdem man ihn wenige Tage zuvor ersucht hatte, seine Erlebnisse mit Eichmann für den bevorstehenden Prozess niederzuschreiben

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