Der Antisemitismus, der gerne zur Seite geschoben wird

Die Nähe des traditionellen christlichen Judenhasses zum modernen eliminatorischen Antisemitismus werde in der deutschen Antisemitismus-Debatte immer noch verschleiert, meint der deutsche Jurist Tilman Tarach. Sein Befund ist auf Österreich wohl ebenso umzulegen. Mit Teuflische Allmacht hat er nun ein Buch zu dem Thema vorgelegt.

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„Der Vater der Juden ist der Teufel. Jesus Christus. NSDAP Eschenbach“, steht auf einer Tafel, deren Foto das Cover von Tarachs Buch ziert. Aufgenommen wurde es im Juli 1935 am Ortseingang von Eschenbach in Bayern, es befindet sich heute im Stadtarchiv Nürnberg. Damit vermittelt der Autor bereits die Botschaft, die sich wie der sprichwörtliche rote Faden durch das Buch zieht: Erst auf Basis des christlichen Judenhasses, genährt von Jahrhundert zu Jahrhundert, konnte der Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten entstehen. Damit ist es aber auch bis heute schwer, den Judenhass wirklich nachhaltig zu überwinden, denn die Gesellschaft sei bis heute von diesen tief sitzenden christlichen Mustern geprägt.

Tarach führt ein ums andere historische Beispiel an, das von der Ablehnung von Juden und Jüdinnen zeugte, der Höhepunkt dabei natürlich die Shoah, doch davor eine lange Kette von Vorwürfen, die schließlich in unliebsame Vorkommnisse und Verfolgung mündeten.

Da ist etwa das Bild des „Christusmörders“, das auch Adolf Hitler immer wieder in Reden bemühte, wie Tarach nachzeichnet. Da ist aber auch das Gerücht des „Kindermordes“. Christliche Kinder würden von Juden getötet und deren Blut dann für die Zubereitung ritueller Speisen verwendet. Die erste solche Erzählung geht auf das Jahr 415 zurück und stammt aus der Region Antiochia, Hochkonjunktur hatte sie seit dem Hochmittelalter. Von „Ritualmordlegenden“ spricht die Wissenschaft heute, und – surprise, surprise – auch Der Stürmer der Nazis, der grundsätzlich antiklerikal ausgerichtet war, bediente diesen Topos. Antiklerikal: ja. Antichristlich: nein.

Die Verfolgung und Ermordung von Juden, ihre
Vertreibung, der Raub an ihrem Eigentum zogen sich als Konstante durch die europäische Geschichte als Teil des Selbstverständnisses des Christentums.
Anetta Kahane

„Die Verfolgung und Ermordung von Juden, ihre Vertreibung, der Raub an ihrem Eigentum zogen sich als Konstante durch die europäische Geschichte als Teil des Selbstverständnisses des Christentums“, schreibt Anetta Kahane im Geleitwort zum Buch. Es habe zwar Phasen ohne Grausamkeiten gegeben, „doch die Drohung, die Erinnerung, das Muster, nachdem sich Juden niemals sicher sein dürfen, sich nicht willkürlich dem nächsten Pogrom ausgesetzt zu sehen, gehörten zur Kulturtechnik Europas und sind tief eingegraben.“

Tarach macht seinerseits gleich zu Beginn seines Buches klar: Es sei keines über die „Verbrechen der Kirchen“. Es gehe eben vielmehr um die Frage, in welchem Verhältnis die Gründungsmythen und Leitideen der christlichen Lehre als solche zum Antisemitismus stehen. Das betreffe den nationalsozialistischen Antisemitismus ebenso wie den heutigen israelbezogenen. Eine seiner spannenden Schlussfolgerungen: In Ländern ohne größeren christlichen Bevölkerungsanteil wie Indien, Thailand, Vietnam oder China sei das Ressentiment gegen die Juden nie gesellschaftlich relevant geworden. Anders sehe es in der islamischen Welt aus. Dort habe sich der Antisemitismus im letzten Jahrhundert – und damit schon vor und unabhängig von der Gründung Israels – verschärft. Eine erhellende und ernüchternde Lektüre.

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