Jener Herr, der vollmundig behauptet hat, dass man umkommen würde, wenn man sich in Familie begibt, hat fetten Widerspruch verdient! Manchmal ist es ganz und gar nicht gefährlich, sich in Familie zu begeben, auch wenn man sich lange vor dieser gefürchtet hat. Halb gefürchtet ist nämlich auch nicht gestorben. Meine Kusine fürchtet sich ja prinzipiell nie. Und meine Kusine, die älteste des Kusinenpacks, das sich in der Kindheit um 1975 rudelartig über St. Petersburger Parks und Kaffeehäuser ergoss, hat ein – verglichen mit mir – noch bewegteres Leben. Zuerst einmal Russland–Israel. Dann, nach der Scheidung, Israel–Russland. Nach dieser Ehrenrunde recht eindeutig in ihrer Lebensansicht bestärkt erneut Russland–Israel, diesmal endgültig. Oder vorläufig endgültig, denn gerade war sie in Wien, ein schönes Wiedersehen nach fünf Jahren Sendepause, und hat sich unauffällig nach den Immobilien hier erkundigt, zum Kauf oder zur Miete, und ich stellte die Ohren sehr hoffnungsvoll auf. Es wäre einfach betörend, unsere kleine Familie in Wien ein wenig auszudehnen.
Es wäre wirklich, wirklich wundervoll. Ich bin ja, auch wenn man dies nicht so vermuten würde, eher ein Großfamilienbaby, das ist, was ich von klein auf gewohnt gewesen bin, und je singliger ich lebte, desto sehnsüchtiger nach vielstimmigem Dissens, äh, Diskurs wurde ich, denn die Großfamilie meiner Kindheit war alles, aber nicht einer Meinung, nicht eine einzige Sekunde lang. Hier also rudelten wir in einer Miniversion erneut, diesmal verstärkt von ihrem neuen Partner, der mich frappant an die Ausstrahlung meines Vaters erinnerte. Es blieb also irgendwie alles in der Familie. Wir saßen im Gasthaus Wild, dem Epizentrum einiger von mir verfasster Romane, und wir schafften es, familiär auf immerhin sieben Personen plus zwei Hunde anzuwachsen, und das war schon fast ein Drittel der vermissten Großfamilie, immerhin. Nur einmal blamierte ich mich, als ich dem neuen Spross am Familienbaum unabsichtlich ein Schweinsschnitzel andrehen wollte. In ihren Augen saß der Schalk, auf ihrem Finger ein zarter Verlobungsring, sie scherzte über den diesem zugehörigen Antrag und unterschlug mir das, was ich schon von ihrer Tochter wusste: Die Frage aller Fragen war im Schutzraum während eines Raketenbeschusses gestellt worden. Leben wider den Tod. „Komm mich besuchen“, sagte sie zu meiner Tochter. Und ich sah in dem Tochtergesicht, dass sich darin Angst abzuzeichnen begann. Das tat mir augenblicklich furchtbar weh. Für meine Kusine, für meine Tochter und für die Welt, in der sie leben.
Ich wünschte, sie wäre eine andere Welt, eine versöhnlichere, ruhigere. Aber das war sie auch nicht gewesen, als das Familienuniversum in diversen Urknällen an diversen St. Petersburger Riesentischen sich zu dehnen begann. Es ist nur so, dass man als Kind die Abgründe des Alltäglichen nicht so direkt begreift, außer seltsamen Gefühlen und eigenartigen Schwingungen, man hat das selige Glück, sich vor Monstern unter dem Bett zu fürchten, die weit davon entfernt sind, zu etwas Konkretem zu werden. Aber nun, ganz konkret: Ich hoffe, sie kommt nach Wien. Und ich zeige ihr dann alles: vom schönsten bis zum morbidesten Winkel. Meiner Seele und der ganzen Stadt.