Der Fluch der bösen Tat

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Jessica Durlachers neuer Roman Der Sohn – eine jüdische Familiengeschichte als Psychothriller. Von Anita Pollak

Sie sind schön, sie sind erfolgreich, sie sind reich. Die Journalistin Sara und ihr Mann, der Filmproduzent Jacob, leben mit ihren beiden Kindern in einer schicken Villa am Rand von Amsterdam. Doch mit dem plötzlichen Tod von Saras Vater bricht scheinbar unerklärlich das Böse in diese perfekte Familienidylle. Sara wird beim Jogging überfallen und vergewaltigt, ihr 19-jähriger Sohn Mitch hat sich in Amerika zum Kriegsdienst in Afghanistan verpflichtet, und kaum haben sich die Eltern an diesen Gedanken gewöhnt, werden sie und ihre 13-jährige Tochter Tess Opfer einer blutigen Heimsuchung im wahrsten Wortsinn. Vermummte Räuber brechen in ihr Haus ein und tun ihnen brutalste Gewalt an.

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Was hat dieser ganze Albtraum mit einer alten Pistole zu tun, die Sara unter der Schreibtischplatte ihres verstorbenen Vaters Herman Silverstein findet?

Was hier wie ein Thriller klingt, ist auch einer.

Allerdings einer mit doppeltem Boden. „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären.“ In Jessica Durlachers neuem Roman bewahrheitet sich dieses Schiller-Zitat wieder einmal. Der lange Schatten der Vergangenheit, den die Autorin als Tochter eines Holocaust-Überlebenden immer zu spüren glaubte, er holt ihre Protagonistin Sara auf das Schrecklichste ein. Und es wird die Aufgabe von Hermans Enkel Mitch, also der dritten Generation, sein, die Familie von diesem Fluch zu befreien. Mehr sollte hier zu Gunsten der Spannung von der eigentlichen Thriller-Handlung nicht verraten werden.

„Dies ist eine Geschichte mit verzweigten Wurzeln. Wie verzweigt und wie tief sie sind, davon erzählt dieses Buch.“ Diese Ankündigung der Ich-Erzählerin Sara löst Durlacher ein in ihrer Geschichte von Opfern und Tätern, von Schuld ohne Sühne, einer Holocaust-Geschichte, die viel mit Durlachers eigener Vater-Geschichte zu tun hat, wie überhaupt der gesamte Roman ohne Zweifel autobiografisch grundiert ist. Ja, mehr als das.

Die angesprochenen Wurzeln sind jüdisch

Herman war ein deutscher Jude aus Baden-Baden und überlebte die Nazi-Zeit als Einziger seiner Familie. Dieses Schicksal bestimmt sein weiteres Leben nach dem Krieg, seine Arbeit, seine Bücher, seine Zeit-Zeugenschaft, ja letztlich ist sogar die folgenschwere Auswahl eines Handwerkers, der den Wintergarten seines Hauses ausbauen soll, davon beeinflusst.

Schiwa wird nicht gesessen, als Herman völlig unerwartet stirbt, dafür konnte sich „keiner aus meiner heidnischen Familie erwärmen“, bedauert die Tochter, die immerhin weiß, was das heißt. Ihre Mutter ist keine Jüdin, doch mit dem jüdischen Ehemann Jacob kehrt Sara quasi wieder zurück ins väterliche Erbe. Letztlich mit allen Konsequenzen. Eine andere Wahl scheint sie gar nicht gehabt zu haben, denn die Vergangenheit ist offenbar noch nicht vergangen. Die Nachgeborenen der Opfer werden wieder Opfer, die Söhne der Täter wieder Täter. Aber Herman Silverstein hat nicht nur seine Geschichte, sondern eben auch seine Pistole vererbt … 

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In einen berührenden Familienroman bettet Durlacher ihren vielschichtigen Psychothriller ein. Und auch hier gibt es gleichsam ein ererbtes, jüdisches Familienmuster. Die eigenen Kinder vor Unheil zu bewahren, das gelingt weder Saras Vater noch später als Mutter ihr selbst: eine ebenso schmerzhafte Erkenntnis wie die, dass manche Geschichten nicht abgeschlossen sind, „auch wenn noch so herausfordernd ENDE darunter steht“.

LESEPROBE aus Der Sohn

Mitch ist mit seinen achtzehn Jahren das jugendliche Ebenbild meines Vaters. Und so gleichgültig und schnoddrig er normalerweise sein kann, so erwachsen, interessiert und vernünftig ist er im Beisein seines Großvaters.

Als meine Mutter, Tara und ich, inzwischen kichernd vor Erleichterung, das Ohr an die Küchentür drücken, hören wir zuerst Gebrumm und das Zusammenfegen von Scherben, dann wird das Radio angemacht, und zu guter Letzt ertönt sogar Gelächter.

Wir kommen uns ein kleines bisschen ausgebootet vor, aber in diesem Fall ist das kein so schlechtes Gefühl, weil Mitch es ist, der uns den Abend rettet.

Wir huschen in den Wintergarten zurück, wo Jacob und Tess unterdessen den Fernseher eingeschaltet haben. Meine Mutter findet Fernsehen ungemütlich. Wir sollten ein Gläschen trinken, findet sie, und stellt Knabbergebäck auf den Tisch. Den Wein müsst ihr euch dazudenken, sagt sie. Aus Solidarität mit meinem Vater und seinen Kohlrouladen lehne ich ab.

Als mein Vater eine halbe Stunde später auf einer gigantischen Platte seine dampfenden Kreationen hereinträgt, mit rot glänzendem Gesicht und besessenem Blick, ist alles vergeben und vergessen. Aus Liebe muckt keiner von uns auf, als er uns ganz ohne Humor anblafft, augenblicklich am Tisch Platz zu nehmen, da sonst alles kalt werde. Mitch trägt eine Schüssel mit Soße. Tess, die sonst nie zur Mithilfe zu bewegen ist, hat einen Soßenlöffel in der Hand und trällert aus unerfindlichem Grund lauthals das alberne Kinderlied, das Jacob ihr immer vorgesungen hat, als sie noch ganz klein war: „Drei Gäns im Haberstroh, saßen da und waren froh …“

Mein Vater tut uns auf, setzt sich, seufzt, puh! Unser erster Bissen wird zum feierlichen Moment. Die Rouladen sind köstlich, auch wenn wir das bei jedem Bissen beteuern müssen.

Es sollte das letzte Mal sein, dass wir sie von meinem Vater zubereitet aßen.

Nach allem, was passiert ist, weiß ich jetzt zumindest eines ganz sicher: dass die Besorgnis meines Vaters um uns nicht umsonst war. Wer so magisch denkt wie ich, könnte sogar behaupten, dass er uns mit dieser gigantischen Besorgnis beschützt hat. Unter seinem wachsamen Blick und seiner erbitterten Lenkung blieben uns Katastrophen, Unglücksfälle und Kriege erspart – und nach seinem Tod ging auffällig viel schief. Oder anders ausgedrückt: Bis zu seinem Tod war alles gutgegangen, aber dann war es damit vorbei. Vielleicht war das Schicksal ihm etwas schuldig gewesen, nach all dem, was es ihm angetan hatte, und als er nicht mehr war, gab es dann kein Halten mehr.

Oder ist Schicksal ein zu freundliches Wort für die Gewalt, der wir ausgesetzt wurden?

Ohne das „Gib acht!“, „Vorsicht!“, „Tu das lieber nicht!“ meines Vaters kann ich jetzt nur hoffen (und beten und flehen), dass ich in Zukunft genauso wie er in der Lage sein werde, die, die mir nahestehen, zu beschützen. Kraft meiner Liebe.

So magisch möchte ich denken.

Die Besorgnis meines Vaters erstreckte sich auf uns alle. Meine Schwester, mich mitsamt Mann und Kindern, meine Mutter natürlich, seine Frau Iezebel – wenn auch auf sie etwas weniger, weil sie dazu da war, stark zu sein und meinen Vater in allem, was er tat, zu unterstützen. Dass eben deshalb gerade Iezebel seine größte Besorgnis hätte gelten müssen – denn was wäre er ohne sie? –, diese logische Schlussfolgerung zog Herman Silverstein nie. Daran, dass er sich für eine Frau wie meine Mutter entschieden hatte, konnte man erkennen, dass er ein Überlebender war, ein Pragmatiker, der seinem Instinkt folgte, keinem Urinstinkt, sondern einem Instinkt, der ihm hart in die DNA eingebrannt worden war. Er hatte sich aus Liebe für sie entschieden, aber auch, und vielleicht lief das in seinem Fall auf dasselbe hinaus, weil sie ihm gewachsen war, stark war. Und wenn sie ihm gewachsen war, war sie allem gewachsen. Punkt. Um sie besorgt zu sein, würde alles nur noch schlimmer machen.

Bis zu seinem Tod war alles gutgegangen, aber dann war es damit vorbei. Vielleicht war das Schicksal ihm etwas schuldig gewesen, nach all dem, was es ihm angetan hatte, und als er nicht mehr war, gab es dann kein Halten mehr.

Das galt nicht für die „zarten Pflänzchen“ – seine Bezeichnung für Tara und mich –, die er mit Iezebel in die Welt gesetzt hatte. (Und später die gleichermaßen zarten Pflänzchen, die ich in die Welt setzte.)

Uns zarte Pflänzchen hatte er gezeugt, nachdem die schlechte, böse, kalte Welt, in der schon seine Eltern ermordet worden waren, auch ihm für immer Tageslicht und Gras und Himmel und Sachertorte mit Sahne hatte nehmen wollen. Unsere Geburt forderte die Probleme doch geradezu heraus. Daher hätte Herman uns, wenn es nach ihm gegangen wäre, am liebsten gleich bei unserer Ankunft angekettet in seinem Schreibtisch aufbewahrt, ganz behutsam natürlich, in Lavendelkissen gebettet. Dann hätte er uns von Zeit zu Zeit hervorgeholt, uns etwas Gutes zu essen gegeben und uns dann wieder weggeborgen, wobei unsere Ketten fest in der Wand hinter dem Schreibtisch verankert gewesen wären.

Herman erblickte in allem, was Tara und ich machten, ob wir nun etwas außer Haus unternahmen oder einfach nur die Treppe hinauf- oder hinuntergingen, sofort die Gefahren, das drohende Unheil, und nur dank seiner Beschwörungen (und der Magie jenes Wortes „Vorsicht!“ aus seinem besorgten Mund) blieben wir von allem verschont, was er schon bildhaft vor sich sah.

So jedenfalls habe ich es verinnerlicht, und dieser Glaube ist mir auch jetzt, Jahre später, da ich diese Geschichte erzähle, immer noch hoch und heilig.

Wer hat es an Besorgnis fehlen lassen, als Herman starb? Keine von uns jedenfalls, weder seine Töchter noch seine Frau. Tara und ich, die, von der Aufgeregtheit unseres Vaters um unser Wohlergehen behütet, eine ziemlich sorglose Kindheit hatten, kannten eigentlich nur eine wirkliche Sorge, und das war Hermans Gesundheit. Er tat zwar immer, als ob er über alles Menschliche und Irdische erhaben wäre, aber er hing wahnsinnig am Leben und hatte eine Heidenangst vor Krankheit und Tod. 

Die Narben sind in unserem Kopf, und nur Worte können dem Ganzen im Nachhinein einen gewissen Sinn geben.

Ob sich daran in seinen letzten Wochen etwas änderte, kann ich nicht sagen. Mir jedenfalls wurde in jenen Wochen erstmals bewusst, dass es Seiten im Leben meines Vaters gab, ja womöglich sogar in seiner Persönlichkeit, die mir völlig unbekannt waren. Hatte er uns wie immer vor diesen unbekannten Seiten behüten wollen? Oder spielten seine „zarten Pflänzchen“ in diesem Zusammenhang einfach keine so große Rolle? Das Einzige, was ich wusste, war, dass die Antwort etwas mit seiner Mutter Zewa, meiner unbekannten Oma, zu tun hatte. Und natürlich mit Wagner. Schon damals fasste ich den festen Vorsatz, ein Buch über Zewa zu schreiben, doch es bedurfte einiger Nackenschläge, bevor die Zeit dafür reif war. „Manifestationen des Bösen“ könnte man sie auch nennen.

Was heute ist, verdanken wir nur dem Vorausgegangenen. Was daraus folgt, ist simpel: Wir leben weiter, wir sind noch da … Die Narben sind in unserem Kopf, und nur Worte können dem Ganzen im Nachhinein einen gewissen Sinn geben. Zusammenhang gleich Sinn gleich eine Form der Akzeptanz.

Dass die Angst nicht weg ist und wahrscheinlich nie weggehen wird, ist Fakt. Auch daran werden wir uns gewöhnen, auch das Schlimmste wird irgendwann normal.

Dies ist eine Geschichte mit verzweigten Wurzeln. Wie verzweigt und wie tief sie sind, davon erzählt dieses Buch.


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