Der Hauch des Sultans. Die Türkei auf Konfrontationskurs mit Israel.

Angesichts der antiisraelischen Haltung in der Türkei und der konkurrierenden Interessen in Syrien könnten die beiden Länder inmitten der anhaltenden regionalen Instabilität in einen ernsten Konflikt geraten.

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Nach dem Überraschungsangriff der Hamas auf Südisrael am 7. Oktober 2023 und dem Ausbruch des Gazakrieges waren im Westen die Sympathien anfangs noch auf Seiten des jüdischen Staates. Während diese aber schnell wieder verflogen, glaubte ein Großteil der arabischen und muslimischen Welt noch am Tag des Anschlages, dass dieses schlimmste Verbrechen an Juden seit dem Holocaust durch die palästinensische Terrororganisation niemals stattfand. Andere behaupteten, dass es sich um eine legitime Offensive gegen die israelischen Streitkräfte (IDF) handelte. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hob die Hamas sogar als „Mudschaheddin“ – eine Art „Befreiungsgruppe“ – hervor, die einen Kampf zum Schutz ihres Landes und Volkes führen. Während der autoritäre Machthaber hochrangige Hamas-Funktionäre in der Türkei beherbergt, hat laut israelischem Inlandsgeheimdienst Shabak die Terrororganisation dort sogar einen Kommandoposten eingerichtet, von dem aus sie Aktivisten rekrutiert und Operationen im Nahen Osten überwacht.

Überhaupt sind die Beziehungen zwischen Jerusalem und Ankara seit über einem Jahrzehnt angespannt, obwohl beide Länder während mehrerer Krisen sowohl diplomatische als auch Handelsbeziehungen aufrechterhielten. Mit dem Sturz der Assad-Diktatur und des neuen, von Rebellen geführten sunnitischen Regimes in Damaskus könnte sich Syrien nicht nur radikalisieren, sondern unter türkischem Einfluss auch zu einer ernsthaften Bedrohung an der Nordgrenze des jüdischen Staates werden. Israel könnte einer neuen Gefahr aus Damaskus ausgesetzt sein, die sich zu einer noch größeren Bedrohung als seine Vorgängerregierung – oder sogar dem Iran – entwickeln könnte“, sagt der ehemalige Shabak-Sicherheitsoffizier Jacov Bar Eli. „Die neuen Machthaber setzen sich aus extremistischen sunnitischen Rebellen zusammen und werden langfristig die Existenz des jüdischen Staates nicht akzeptieren. Das Problem wird sich verschärfen, wenn dieses islamistische Regime in der Praxis zu einem Stellvertreter Ankaras wird, das wiederum davon träumt, die osmanische Krone wiederherzustellen. Die Anwesenheit türkischer Abgesandter oder auch von Streitkräften in Syrien könnte die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen der Türkei und Israel erhöhen.“

Obwohl die Türkei das erste muslimische Land war, das Israel 1949 offiziell anerkannte, pflegen die beiden Länder seither eine komplexe Beziehung, die sowohl von Kooperation als auch Spannungen geprägt ist. Die Aufrechterhaltung diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zum jüdischen Staat und seinen arabischen Nachbarn hatte Priorität für die Türkei, die 1988 auch Palästina als Nation anerkannte. Vor allem in den 1990erJahren arbeiteten Jerusalem und Ankara im militärischen und geheimdienstlichen Bereich eng zusammen.

Wachsende Spannungen. „In den frühen 2000er-Jahren begannen die Spannungen beider Länder zuzunehmen“, erklärt Bar Eli. „Der Zusammenbruch des Nahost-Friedensprozesses und der Ausbruch der Zweiten Intifada belasteten die Beziehungen. In dieser Zeit kam es auch mit dem Aufstieg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter Recep Tayyip Erdogan zu einem Wandel in der türkischen Innenpolitik. Dessen Regierung schlug zunächst positive Beziehungen vor, konzentrierte sich dann aber auf die palästinensische Sache übte und zunehmend Kritik an Israel.“

Tatsächlich verschlechterte sich das Verhältnis beider Länder mit dem Aufstieg des neuen türkischen Premiers. Ankaras Verurteilung des Gazakrieges im Dezember 2008 markierte den Beginn einer düstereren Ära, die sich mit dem Streitgespräch zwischen Erdo an und Israels Ex-Präsident Shimon Peres in Davos nur kurze Zeit später fortsetzte. Der Höhepunkt war der IDF-Angriff auf die von zahlreichen Antisemiten gecharterte Gaza-Flottille im Jahr 2010, bei dem neun türkische Bürger ums Leben kamen. Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch US-Präsident Donald Trump 2017 führte zu weiteren diplomatischen Auseinandersetzungen, und Erdo an kündigte nach fast jeder Krise an, die militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Israel auszusetzen. Doch überraschenderweise haben sich die wirtschaftlichen Verbindungen der beiden Länder in den letzten 20 Jahren deutlich ausgeweitet. Im Jahre 2022 wurden die diplomatischen Beziehungen sogar vollständig wiederhergestellt und blieben auch bis zum Überfall der Hamas auf die israelischen Ortschaften entlang des Gazastreifens relativ stabil.

„Die Anschläge vom 7. Oktober lösten eine Zeitenwende in den bereits zerrütteten Beziehungen zwischen Ankara und Jerusalem aus“, erklärt Hay Eytan Cohen Yanarocak, Türkei-Experte am Moshe Dayan Center der Universität Tel Aviv. „Seit Beginn des Krieges führt die Türkei eine beispiellose Hetze gegen Israel. Mittlerweile hat das Ausmaß ihrer Propaganda die Grenzen legitimer Kritik überschritten und ein hohes Maß an Antisemitismus erreicht.“

Während Erdogan zunächst noch beide Seiten zur Zurückhaltung aufrief, verschärfte er innerhalb weniger Tage seine Rhetorik, indem er sich lautstark auf die Seite der Palästinenser stellte und gleichzeitig Israels Vorgehen in Gaza als Völkermord und Kriegsverbrechen bezeichnete. Die Hamas verteidigte er als legitime Widerstandsbewegung und lobte sie nach dem 7. Oktober als Befreier, während er das Vorgehen des jüdischen Staates in Gaza verurteilte und mit den historischen Gräueltaten der Kreuzzüge und des Zweiten Weltkriegs gleichsetzte. „Der türkische Präsident glaubte, dass dieser Waffengang nur eine weitere Runde der Gewalt sei“, erzählt Cohen Yanarocak. „Aber nach den ersten Wochen wurde ihm klar, dass Israel einen umfassenden Krieg gegen die Hamas führte. Da Erdogan von der gleichen Ideologie der Muslimbruderschaft wie die Terrororganisation beeinflusst ist, begann er die Beziehungen zu Jerusalem zu verschlechtern.“

Gefahr für die kurdische Minderheit. Israel hat im Laufe der Jahre geheime Beziehungen zu den Kurden unterhalten und sieht sie als möglichen Verbündeten gegen gemeinsame Feinde. Der Sturz des Assad-Regimes hat die Autonomie der von den USA unterstützten kurdischen Gruppen in Syrien infrage gestellt. Die protürkischen neuen islamistischen Machthabern könnten bald ihre Gebiete bedrohen; und da auch die Türkei ihren dortigen Einfluss ausweiten will, befürchten Experten, dass das NATO-Mitglied zu einer ernsthaften Bedrohung für den jüdischen Staat werden könnte.

„Es besteht die Möglichkeit einer künftigen militärischen Konfrontation zwischen beiden Ländern“, erläutert Efrat Aviv vom Begin-Sadat Center for Strategic Studies an der Bar-Ilan-Universität. „Die jüngsten Entwicklungen in Syrien führen dazu, dass Ankara wie auch Jerusalem Bodentruppen für ihre Interessen einsetzen, jeder in unterschiedlichen Gebieten. Auch wenn ein kriegerisches Szenario in dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Staat momentan noch nicht vorstellbar ist, könnten die geopolitischen Veränderungen schwerwiegende Folgen in der Region haben.“

Die Historikerin meint, dass es trotz dieser angespannten und komplexen Beziehung nicht im Interesse der USA sei, wenn zwei seiner wichtigsten Verbündeten in einen solchen Konflikt geraten. Sie glaubt, dass mit der Trump-Regierung der amerikanische Einfluss auf Ankara wachsen wird. Erdogan wird Israel weiter als „Terrorstaat“ bezeichnen und seine Führer mit historischen Tyrannen vergleichen, wenn auch die Handlungen seiner Regierung relativ kontrollierter bleiben, was eine Diskrepanz zwischen feuriger Rhetorik und tatsächlicher Politik offenbart. Es sind kühne Worte für das lokale Publikum, aber ein eklatanter Mangel an Umsetzung in Bezug auf internationale Maßnahmen.

Israel hat im Laufe der Jahre geheime Beziehungen zu den Kurden unterhalten und sieht sie als möglichen Verbündeten gegen gemeinsame Feinde.

So konstruiert er einerseits eine Verschwörungstheorie von einer imaginären Bedrohung eines israelischen Angriffs auf die Türkei, während er andererseits auf internationaler Ebene sein Land als Regionalmacht darstellt, das in der Lage sei, in Konflikte im Nahen Osten einzugreifen, und dabei auf frühere Aktionen in Libyen und Berg-Karabach verweist. Obwohl die Beziehungen zu Israel nicht formell herabgestuft wurden, haben sich die Spannungen durch den Abzug der Botschafter erhöht. Die Unterstützung des Völkermordprozesses Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) trägt zu weiteren Spannungen bei, deren langfristige Folgen ungewiss sind.

„Erdogan hat Angst, seine Macht zu verlieren“, erzählt Aviv. „Sowohl islamistische Elemente als auch die Opposition stehen seinen Beziehungen zum jüdischen Staat kritisch gegenüber, und einige seiner Handlungen und Äußerungen gegen Israel sind das Ergebnis dieses Drucks. Auch will er innenpolitisch punkten, indem er versucht, günstige Bedingungen für die sichere Rückkehr von Millionen syrischer Flüchtlinge zu schaffen, die aufgrund des Konflikts in der Türkei geflohen waren.“

Die Türkei-Expertin erklärt Ankaras Unnachgiebigkeit, was dessen Interessen in Syrien angeht, und Erdogan möchte seinen Einfluss dort festigen. Dafür strebt er eine neue Regierung unter seiner Schirmherrschaft an. „Dazu gehören massive Investitionen, auch in kurdischen Gebieten“, so Aviv. „Die syrische Gesellschaft soll protürkisch werden. So glauben sie die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen vollständig zu unterdrücken.“

In Israel ist man sich sicher, dass sich die Beziehungen zur Türkei wohl nicht verbessern, solange Erdogan und seine Islamisten an der Macht sind, ja, eher das Gegenteil eintreten wird. Selbst wenn ihn ein anderes Regime ersetzen sollte, das dem jüdischen Staat gegenüber weniger kritisch eingestellt ist, wird es einige Zeit dauern, bis die Wogen geglättet sind. Die türkische Gesellschaft wird Zeit brauchen, um die antisemitische öffentliche Meinung zu ändern, da die antiisraelische und antizionistische Stimmung dort sehr stark ist.

„Trotz allem sind die Beziehungen zu Israel für die Türkei sehr wichtig“, schließt Jacov Bar Eli. „So wird u. a. auch der Zugang zu den Palästinensern sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland aufrechterhalten. Doch auch der jüdische Staat, der von Feinden umgeben ist, braucht keinen weiteren.“ Eine militärische Konfrontation zwischen beiden Ländern könnte das Mächtegleichgewicht der Region nachhaltig beeinflussen, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Israel, das sich noch immer im Krieg befindet und das Trauma des schockierenden Grenzangriffs der Hamas noch nicht verkraftet hat, ist gegenüber der Möglichkeit ähnlicher Überraschungen an anderen Grenzen weniger tolerant geworden. Es ist fest entschlossen, eine Rückkehr iranischer Stellvertreter im Libanon und in Syrien zu verhindern. „Israel wird nicht noch einmal zulassen, dass der Iran seine nördlichen Grenzen bedroht“, weiß Bar Eli, „auch um den Preis einer Konfrontation mit der Türkei. So wie die Türkei es sich erlaubt hat, in Syrien einzumarschieren, kann das Land nicht von Israel verlangen, dass es seine Truppen von dort abzieht. Der jüdische Staat muss seine Interessen schützen.“

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