
WINA: Sie sind Expertin für das sephardische Judentum. Wie sind Sie dazu gekommen, sich auf dieses Gebiet zu spezialisieren?
Sarah Stein: Ich begann meine wissenschaftliche Laufbahn mit einer tiefen Liebe zur jiddischen und osteuropäischen jüdischen Kultur, aber auch dem Interesse an der Untersuchung von Quellen, Menschen und Orten, die von der jüdischen Geschichte übersehen worden waren. So begann ich mich, mich vergleichend mit der jiddischen und ladinischen Kultur auseinanderzusetzen. Im weiteren Verlauf meiner Arbeit wandte ich mich mehr und mehr der jüdischen Welt des Mittelmeerraums zu, verlor aber nie die vielen Verbindungen zwischen Juden aus unterschiedlichen Orten und Kulturen aus den Augen. Spätere Forschungen untersuchten den weltweiten Boom und die Pleite der Straußenfedern um die Jahrhundertwende und stellten die Frage, warum Juden (sephardische und aschkenasische) auf allen Ebenen dieser Industrie überrepräsentiert waren, vom südlichen Afrika bis nach Nordafrika, von Großbritannien bis in die Vereinigten Staaten, mit vielen Zwischenstationen.
Obwohl ich mich auf die sephardische Kultur spezialisiert habe, war es mir immer ein Anliegen, die moderne Geschichte und die moderne jüdische Geschichte umfassend, vergleichend und integriert (aber niemals homogenisierend) zu betrachten. Dabei treten so viele faszinierende Unterschiede, aber auch unglaubliche Überschneidungen und Verbindungen zutage. Vielleicht liegen die persönlichen Wurzeln dieser Geschichte bei meinen Großeltern, die sowohl Ladino als auch Jiddisch sprachen – eine Mischung, die mich fasziniert und begeistert.
Warum ist das aschkenasische Judentum viel besser erforscht als das sephardische Judentum?
I Allein die demografische Entwicklung erklärt, warum der aschkenasischen jüdischen Kultur mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als der sephardischen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es weit über fünf Millionen Juden im Russischen Reich, im Vergleich zu etwa 250.000 im Osmanischen Reich. Die schiere Zahl führte zu immer vielfältigeren Institutionen, intellektuellen Traditionen, Druckerzeugnissen, religiösen Bewegungen, demografischen Zentren, Emigranten und so weiter. Doch die Demografie erzählt nie die ganze Geschichte: Wäre dies der Fall, wüssten wir viel mehr über die Geschichte der Frauen und Kinder, als wir wissen. Erfreulicherweise ist ein Umschwung im Gange, und es gibt viel mehr Orte zum Studium und zur Erforschung der sephardischen Kultur, Sprache und religiösen Praxis als je zuvor.
Wie würden Sie die markantesten Unterschiede zwischen dem aschkenasischen und dem sephardischen Judentum beschreiben?
I Ich denke, dass das Verständnis eines breiteren kulturellen Umfelds immer entscheidend für das Verständnis der jüdischen Geschichte ist. In der Neuzeit lebten die östlichen sephardischen Juden – das sind die Gemeinschaften, die ich untersuche – in mehrheitlich muslimischen Umgebungen und im Mittelmeerraum, und das hat sie in hohem Maß geprägt: die Musik, die sie liebten, das Essen, das sie aßen, die Kleidung, die sie trugen, die Landschaft, in der sie sich zu Hause fühlten, und so weiter. Die meisten aschkenasischen Juden lebten in mehrheitlich christlichen Umgebungen und in Ost-, Mittel- oder Westeuropa –- und diese Orte haben sie ebenso geprägt wie das Mittelmeer die sephardischen Juden. Wir könnten sicherlich über die vielen Dinge sprechen, die jüdische Frauen, Männer und Kinder über geografische und kulturelle Grenzen hinweg miteinander gemeinsam hatten, aber der Ort und das kulturelle Umfeld waren entscheidend für ihre Unterscheidung.
„Erfreulicherweise ist ein Umschwung
im Gange, und es gibt viel mehr Orte
zum Studium und zur Erforschung der
sephardischen Kultur, Sprache und
religiösen Praxis als je zuvor.“
Wenn man an den Holocaust denkt, assoziiert man ihn vor allem mit aschkenasischen Juden und mit Europa. In einem Ihrer Bücher beschäftigen Sie sich mit dem Holocaust in Nordafrika. Warum ist diese Geschichte weitgehend ignoriert worden?
I Ja, das war ein Thema in zwei meiner Bücher, The Holocaust and North Africa und Wartime North Africa, die ich beide gemeinsam mit Aomar Boum herausgegeben habe. Wir beschreiben, dass die drei europäischen Mächte, die während des Krieges Nordafrika kontrollierten – Vichy-Frankreich, Nazideutschland und das faschistische Italien –, antisemitische Gesetze erließen, die Juden aus der Wirtschaft und der Arbeitswelt verdrängten und ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen, wenn sie sie vor dem Krieg besaßen. Aomar Boum und ich hüten uns davor, von einem „Holocaust“ zu sprechen, der sich in Nordafrika abspielte, da die Bewohner dieser Region nicht von einer Politik des Völkermords betroffen waren. Aber der Holocaust betraf nordafrikanische Juden und Muslime ebenso wie die rassistischen und antisemitischen Kampagnen der faschistischen Kriegsregime. Diese Regime deportierten Tausende von politischen Gegnern und ausländischen Flüchtlingen in ein ausgedehntes Netz von neu geschaffenen Gefängnissen und Arbeitslagern in Nordafrika, Westafrika und der Sahara. Und sie deportierten einige nordafrikanische Juden und ihre zumeist in Frankreich lebenden Nachkommen zur Vernichtung in die Todeslager der Nazis.
Diese Geschichten wurden bisher ignoriert, da ein Großteil der Wissenschaft den Zweiten Weltkrieg als eine rein europäische Geschichte betrachtet und sich dagegen sträubt, seine Grenzen – und das Pantheon seiner Täter und Opfer – auf den nordafrikanischen Kontext auszuweiten. Die Gründe für diesen Impuls sind komplex, aber es ist sicherlich an der Zeit, unsere historische Brille zu erweitern.

Tunesien. © akg-images / picturedesk.com; Yad Vashem
Wie hat der Holocaust in Nordafrika die Geschichte der dortigen jüdischen Gemeinden verändert?
I Schon lange vor dem Holocaust brachte der europäische Kolonialismus Konzepte der Ethnie und vorurteilsbehaftete Vorstellungen über Juden nach Nordafrika, die in muslimischen Gesellschaften nicht üblich waren. Und während der gesamten Ära des modernen Kolonialismus wurden die meisten antijüdischen Gefühle und Handlungen in Nordafrika nicht von den kolonialen Siedlern, nicht von den einheimischen Muslimen angestiftet. Wir müssen damit beginnen, darüber nachzudenken, wie der europäische Imperialismus lange vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begann, die Geschichte der muslimisch-jüdischen Beziehungen „ungeschehen“ zu machen. Dennoch hatten der Zweite Weltkrieg und der Holocaust tiefgreifende Auswirkungen auf diese Region. Die Juden litten emotional, finanziell und politisch und fühlten sich verletzlich, was wohl nie ganz verschwand. Dieses Gefühl ging einher mit einem zunehmenden regionalen Nationalismus und einem panarabischen Nationalismus, der die Juden vielerorts zu Außenseitern in der lokalen Politik machte. So begannen Juden, Nordafrika und den Nahen Osten zu verlassen, und zwar aus verschiedenen Gründen, die von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit variierten: Sie gingen nicht alle auf einmal, unter denselben Umständen oder aus denselben Gründen. Man könnte jedoch argumentieren, dass die Saat ihres Gefühls der Außenseiterschaft während der Kolonialzeit gepflanzt und während des Zweiten Weltkriegs genährt wurde, um dann später, in einer Ära des aufsteigenden Nationalismus, Früchte zu tragen.
Bis zur Nazizeit gab es in Wien sogenannte „türkische Juden“, die auch eine eigene Synagoge hatten. Sie kamen aus dem Osmanischen Reich. Sind Sie bei Ihren Recherchen auch auf diese Gruppe gestoßen? Welche Rolle spielten sie zu ihrer Zeit – vor allem um 1900 – im Weltjudentum?

I Wien gehörte zu den Emigrationszielen, die osmanische und sephardische Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wählten, wobei man von einer „globalen sephardischen Diaspora“ aus den osmanischen Ländern sprechen kann, die zu entstehen begann. Es gibt viele bevorzugte Ziele, darunter Frankreich, England, Kanada, Südafrika, die Vereinigten Staaten, Mexiko, Kuba, Argentinien und darüber hinaus. Einige derjenigen, die sich für Wien entschieden, erhielten bereits um die Jahrhundertwende legale Papiere von den österreichisch-ungarischen Behörden: Diese Papiere wurden verlängert, weil das Regime eine kaufmännische Bevölkerung anwerben wollte, insbesondere aus Zentren wie dem osmanischen Saloniki (dem heutigen Thessaloniki in Griechenland). Ich habe die Geschichte einiger dieser Personen und Familien in einem Buch mit dem Titel Extraterritorial Dreams: European Citizenship, Sephardi Jews, and the Ottoman Twentieth Century festgehalten. Selbst vor dieser Zeit gibt es Belege dafür, dass sephardische Juden Verbindungen nach Wien unterhielten: Ein einflussreicher Verleger und Zeitungsredakteur aus Saloniki aus dem 19. Jahrhundert namens Sa’adi Besalel A-Levi, dessen Memoiren ich zusammen mit Aron Rodrigue unter dem Titel Eine jüdische Stimme aus dem osmanischen Saloniki veröffentlicht habe, spricht von einer Reise nach Wien in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aus seinen Memoiren lernen wir unter anderem, dass die Grenzen zwischen der sephardischen und der aschkenasischen Welt ebenso fließend waren wie zwischen dem Osmanischen Reich und anderen Teilen Europas.
Heute gibt es in Wien wieder eine sephardische Gemeinde, deren Mitglieder sich als bucharische Juden bezeichnen – sie kamen ab den 1970er-Jahren aus dem zentralasiatischen Raum der ehemaligen Sowjetunion. Haben Sie auch über die bucharischen Juden recherchiert?
I Das gehört leider nicht zu meinem Fachgebiet.
DER BARON AWARD
Der Salo W. und Jeannette M. Baron Award wurde 2020 an der Universität Wien ins Leben gerufen und wird von der Salo W. und Jeannette M. Baron Stiftung/Knapp Family Foundation gefördert. Die Auszeichnung würdigt herausragende wissenschaftliche Leistungen in sämtlichen Disziplinen. Gefördert werden dabei Arbeiten, die das Verhältnis von Juden und Nichtjuden sowie die gesellschaftliche Wahrnehmung des Judentums beleuchten. Mit dem Preis wird zugleich das Vermächtnis des Ehepaars Baron geehrt. Salo W. Baron (1895–1989) war ein bedeutender jüdischer Historiker des 20. Jahrhundert. Seine Frau Jeannette (1911–1985) unterstützte seine wissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten.
Die diesjährige Preisträgerin Sarah Stein habe mit ihren Arbeiten, die den Mittelmeerraum und sephardische Studien ebenso umfassen wie die Aufarbeitung der Nazi-Verfolgung in Nordafrika, „unser Verständnis der jüdischen Geschichte neu definiert“, so die Begründung. Neben ihrem außerordentlichen Forschungseifer beeindruckte sie auch durch ihre Leidenschaft für die Lehre.