„Der Jude, wie er im Buch steht“

1590

Michael Köhlmeiers neues Opus bietet wie alle seine großen Zeitromane ein reiches, schillerndes Figurenpanorama. Einige dieser Personen sind Köhlmeier-Lesern nicht unbekannt, allen voran der Schriftsteller und Erzähler Sebastian Lukasser, der unverkennbar einige autobiografische Züge trägt.

Auch Robert und Jetti Lenobel waren vor langer Zeit bereits am Rand des Köhlmeier’schen Erzähluniversums aufgetaucht, nun sind sie ins Titel gebende Zentrum seines neuen Romans gerückt und mit ihnen unter ganz vielen menschlichen, zwischenmenschlichen und allzu menschlichen Problemen auch das ihrer jüdischen Identität.

Familienepos. Denn in der Familiengeschichte der Geschwister spiegeln sich vielfach jüdische Schicksale des 20. Jahrhunderts und werfen ihre langen Schatten bis in die Enkelgeneration, der Robert und Jetti angehören. Ein Großelternpaar ist im Holocaust ermordet worden, das andere hatte sich offenbar nach Israel retten können, dort aber 1967 gemeinsam Selbstmord begangen. Mutter Marlene kam als Fünfjährige mit einem Kindertransport nach England und nach dem Krieg verwaist und verwirrt nach Wien zurück. Nahezu verwaist blieben auch die noch kaum erwachsenen Geschwister in der elterlichen Wohnung, nachdem die alleinerziehende Mutter – der geheimnisvolle Vater war früh verschwunden – in eine psychiatrische Anstalt gebracht werden musste. Dass Robert Psychoanalytiker und orthodoxer Freudianer wird, erscheint nur konsequent. „Der Psychoanalytiker ist der Jude, wie er im Buch steht.“ Die wunderschöne Jetti hingegen mäandert zwischen verschiedenen Ländern, Jobs und Liebhabern erfolgreich durchs Leben, bis sie eine alarmierende Mail der Schwägerin Hanna – „Komm, dein Bruder wird verrückt“ – von Irland nach Wien ruft.

530 Seiten später kommt der vermisste Robert schließlich an. In Jerusalem, im „Land der Väter“, sucht er seinen eigenen Weg zur Klagemauer.

„Wenn ich sagte, ich bin Jude, weil ich jüdisches Blut habe, dann wäre ich ein Rassist. Wenn ich sagte, ich bin Jude, weil ich der jüdischen Religion angehöre, wäre ich ein Lügner.“

Ausufernd fabulierend, detailverliebt und atmosphärisch dicht entspannt Köhlmeier eine weit verzweigte, in vieler Hinsicht typisch wienerische Familiengeschichte aus dem „jüdischen Nachgeborenenklischee“, mit ihren Traumata und Krisen, ihren Ver- und Entliebungen, in der alle ununterbrochen auf der Flucht zu sein scheinen, vor ihren Bindungen und vor sich selbst.

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