Der K(r)ampf des Sohnes

Dass seine Mutter eine Spionin war, erfuhr András Forgách Ende 2013. Über die schwierige Mission eines Sohnes und Schriftstellers, die ihn vom Sohn zum Vater machte.

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András Forgách. „Ein Buch über eine große Liebe – nicht über einen großen Verrat.“ © Antonio Olmos/Eyevine/picturedesk.com

Jonathan, seinen heiß ersehnten Sohn, konnte er erst zeugen, nachdem er selbst seine schwierige Mission als Sohn und Schriftsteller erfüllt hatte. „Seit meinem 40. Lebensjahr wünschte ich mir einen Sohn, aber es hat irgendwie nie geklappt. Es ist kein Zufall, dass mir dieses wunderbare Geschenk erst 20 Jahre später zuteilwurde, als ich das Buch über meine Mutter fertig hatte“, sinniert András Forgách. Ausdrucksstarke blaue Augen blitzen unter seiner grau-melierten, gelockten Haarpracht hervor. Es ist ein sonniger Sonntagmittag in einem Gastgarten in Budapest: Der erfolgreiche Schriftsteller, Übersetzer, Drehbuchautor und Theaterregisseur könnte sich locker zurücklehnen. Sein Bestseller ist inzwischen in sieben Sprachen übersetzt worden, um die Filmrechte rittern gerade einige Produzenten. Doch genau das – entspannen – kann er eben nicht. Die Körpersprache deutet auf Mitteilsamkeit hin.
Und mitzuteilen hat András Forgách viel, auch wenn er den Großteil seiner gleichermaßen schockierenden wie berührenden Familiengeschichte bereits zu Papier gebracht hat. Akte geschlossen – Meine Mutter, die Spionin heißt die Mischung aus Tatsachenroman, Gedicht und journalistischer Arbeit mit Dokumenten. Den unmöglich erscheinenden Spagat, wie man eine unerschütterliche Liebeserklärung an die Mutter mit deren konkretem Verrat – auch am eigenen Sohn – nicht literarisch verkitscht, sondern mit Bodenhaftung er- und überlebt, schafft Forgách auf bewundernswerte Weise. Auch wenn sein teils humoriger, teils verbissener Schmerz auf allen 346 Seiten durchsickert.
Im ersten Teil des Buches zieht er die Leserschaft mit fast unschuldig anmutender Situationskomik in den mickrigen Alltag einer Inoffiziellen Mitarbeiterin (IM) der ungarischen Geheimpolizei mit dem Decknamen „Frau Pápai“. „Zum Treffen erschien Frau Pápai pünktlich. Die Herren verspäteten sich um ein Viertelstündchen, wofür sie sich demütigst entschuldigten, um Frau Pápai anschließend einen Blumenstrauß anläßlich ihres 60. Geburtstags zu überreichen.“ Im Café beim Kuchen gibt es dann noch eine mit volkstümlichen Motiven bestickte Tischdecke, welche die „Herren“ vom Ministerium des Inneren der Jubilarin übergeben.

»Ich möchte nichts entschuldigen, aber auch nicht verurteilen, sondern das ganze Bild dieser erbärmlichen Tragik sichtbar machen.« 
András Forgách

Aber außer, dass es dabei um András Mutter ging und er bis 2013 nichts davon wusste: Was war so außergewöhnlich daran, dass eine Frau zwischen 1975 und 1985 in Budapest, also mitten im Kalten Krieg, zur Informantin wurde? Nur weil Bruria, András’ Mutter, 1922 in Jerusalem geboren wurde? „Sie handelte als stramme, radikale Anti-Zionistin und linientreue, prinzipienfeste Kommunistin. Meine Mutter war ideologisch motiviert, dagegen waren ihre Führungsoffiziere nur gelangweilte, pflichterfüllende Bürokraten“, so Forgách. „Sie spürt keine Grenzüberschreitung, weil sie ja nur mit ihren Genossen spricht. Sie will auch mehrmals aufhören, weil ihre ‚konstruktiven Vorschläge‘ vom Ministerium nicht realisiert werden.“ Dass seine Mutter und Jahre davor der Vater weder zur Bespitzelung erpresst noch davon reich wurden, lässt den Sohn gelassener analysieren: „Sie waren überzeugt, dass sie auf der richtigen Seite stehen, blieben auch nach der ungarischen 1956-Revolution Stalinisten. In Israels Kriegen zählten nur die Palästinenser zu den Opfern.“ Die Spionage gegen die Zionisten konzentrierte sich vorerst auf Besuche von Zionistenkongressen und die Übersetzung von hebräischen Berichten ins Ungarische.
War es für András sauberer oder erträglicher, dass aus ideologischen Motiven spioniert wurde? „Nicht wirklich. Aber meine Mutter ließ sich nur die Flugspesen nach Israel zahlen – sie hätte das Geld nie gehabt –, um ihren Vater Mordechai Avi-Shaul, den sie abgöttisch liebte, zu besuchen.“ Brurias ungarische Eltern waren bereits 1921 ausgewandert, ihr Vater war ein angesehener Gelehrter und Übersetzer deutscher Klassiker ins Hebräische. „Damit mein Bruder und ich nach Israel mitfahren konnten, hat sie Pässe erledigt, das war ihr ganzer Profit“, erzählt András, der den zweiten Teil des Buches in Gedichtform Bruria und Marcell als Ehepaar widmet.
Forgáchs Vater Marcell entkam 1939 nach Palästina und überlebte als einziger seiner Familie die Ausrottung der ungarischen Juden. Die ungarische Familie von Bruria wiederum gehörte zu den wenigen Überlebenden des faschistischen Pfeilkreuzler-Terrors. Beim Studium in Jerusalem lernen die beiden einander kennen. Marcell verliebt sich unsterblich in „seine Ingrid Bergman“; bei Bruria brennt die Liebe nicht so stark. Ihr Zusammenhalt besteht in der antizionistischen und kommunistischen Überzeugung: Sie kehren 1947 nach Ungarn zurück, vier Kinder werden geboren, darunter András 1952. Bruria, die spätere „Frau Pápai“, arbeitet als Krankenschwester und tritt 1975 in die Fußstapfen ihres Mannes, der als parteitreuer Journalist bereits seit vielen Jahren mit dem „Ministerium für Inneres“ zusammengearbeitet hat. Als dieser zum Pflegefall wird, gleitet die Mutter in seine Rolle.

András Forgách: Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin S. Fischer 2019, 352 S., € 24

Aktivitäten der Mutter. Warum schrieb Forgách nicht über „meine Eltern, die Spione“? „Die Akte über meinen Vater ist komplett verschwunden. Über die Aktivitäten meiner Mutter erfuhr ich zum ersten Mal Ende 2013 durch einen Anruf.“ Dieses Telefonat brachte die Wende in seinem irdischen Leben – doch er glaubt auch an eine „Botschaft aus dem Jenseits“, die ihm sein Mentor und verstorbener Freund geschickt hat.
Kennt man die Vorgeschichte zwischen Forgách und György Petri, einem der berühmtesten Lyriker Ungarns, fällt es schwer, gegen den himmlischen Zufall zu argumentieren. Petri gehörte ebenso wie der Philosophiestudent András und weitere Freunde zu den intellektuellen Dissidenten ab den 1980er-Jahren. Weil sie sich auch eine Wohnung teilten, war es für die Geheimpolizei leicht, sie unter ständiger Beobachtung zu halten: Über György Petri wurde wegen seiner Aktivitäten in der demokratischen Opposition von 1975 bis 1988 ein Publikationsverbot verhängt, daher veröffentlichte er den ersten Samisdat in Budapest.
Da „Frau Pápai“ auch auf den eigenen Sohn, seine Freunde und Studienkollegen angesetzt war, tauchte ihr Name 2013 bei den Recherchen über György Petri auf: Petris Sohn arbeitete an einer Biografie für seinen 2000 verstorbenen Vater. „Mein Bekannter bei der Behörde machte mich darauf aufmerksam, dass die Gefahr bestünde, dass Petris Sohn – der zu den Orbán-freundlichen Kreisen zählt – die Geschichte meiner Mutter für den Boulevard skandalisieren und so für seine subjektiven Zwecke benutzen könnte“, berichtet Forgách.
Da hieß es schnell handeln, um dieser unbeeinflussbaren Entblößung mit einer eigenen Publikation zuvorzukommen. Um ein Jahr exklusiv Einsicht in das Material über „Frau Pápai“ nehmen zu können, musste Forgách einen wissenschaftlichen Auftrag von einer Universität vorweisen. „Das war besonders wichtig, denn als Privatperson ist man der Willkür der Beamten ausgeliefert, bekommt nach zwei, drei Jahren Antwort – und vielleicht ein Blatt Papier.“ Während der ältere Bruder Péter als Medienkünstler und Filmemacher das Vorhaben unterstützte, lehnte es Schwester Zsusza vehement ab. „Sie beschuldigte mich, schmutzige Familienwäsche an die Öffentlichkeit zu zerren. Doch das stimmt so nicht: Das geht viel tiefer, als nur schmutzige Wäsche zu waschen. Denn einerseits zeigt es auf, wie das politische System damals funktionierte und andererseits – was mir noch wichtiger war und ist –, wie diese Menschen wirklich waren: Sie sind nicht nur Spitzel, ihr Leben hatte auch andere Facetten, die ich herausarbeiten konnte. Reduziert man sie nur auf das eine, nimmt man ihnen alles Persönliche weg“, echauffiert sich der verratene Sohn, dessen Mutter auch ihn – als er 28 Jahre alt war – zur Anwerbung als IM empfohlen hatte. „András ist sehr schweigsam“, lautete ihre Empfehlung.
Wer das Buch liest, erkennt, dass Forgách für sich richtig entschieden hat, die Deutungshoheit seiner Familiengeschichte nicht anderen zu überlassen. Denn „Frau Pàpai“ alias Bruria Avi-Shaul war keine Meisterspionin oder Femme fatale, sondern eine unglückliche Ehefrau, liebende, warmherzige Mutter, die an ihrer unerträglichen Heimatlosigkeit litt: die tragische Hassliebe für Israel und das ewige Fremdsein in Ungarn.
Sie beide waren Bewohner des Nirgends, weder Ungarn noch Juden, weder Ausländer noch Genossen noch Volksgenossen. Als Genossen zu jüdisch, als Juden zu kommunistisch, als Kommunisten zu ungarisch, als Ungarn zu fremd. Volklose Ungenossen. Bewohner von Scheol waren sie gewesen, zu Bewohnern der Hölle sind sie geworden, Bewohner ihrer persönlichen Hölle.

Andenken an die Mutter. Bei der eigenen Aufarbeitung im dritten Teil hadert Forgách mit sich; er taumelt zwischen seiner grenzenlosen Mutterliebe und selbstgestellten Fragen, auf die es keine Antworten mehr gibt. „Ich konnte dieses Thema weder als Schriftsteller noch als Sohn auslassen, wenn ich in Frieden mit mir und dem Andenken an meine Mutter leben will. Ich möchte nichts entschuldigen, aber auch nicht verurteilen, sondern das ganze Bild dieser erbärmlichen Tragik sichtbar machen“, erzählt Forgách. Durch das Reden hat sich der stolze Vater etwas entspannt und kann die Käsetorte doch noch genießen. Wo sieht er die Zukunft seines kleinen Sohnes? „Ich möchte, dass er ein Europäer ist.“ Dann viel Glück, Jonathan.

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