Der Satan und die Heiligkeit

Seinen Namen kennt heute in Israel jedes Kind. Als zionistischer Nationaldichter, als Pionier der neuhebräischen Literatursprache war Chaim Nachman Bialik (1873–1934) bereits zu Lebzeiten weit über die Grenzen des damaligen Palästina hinaus berühmt und verehrt. Geboren wurde der Sohn eines Holzhändlers in Wolhynien, in der heutigen Westukraine, wo auch seine Erzählungen spielen, die jetzt erstmals in wunderbarer deutscher Übersetzung vorliegen.

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Nur einen Tag zu spät ist Jossi mit seiner Familie ins Dorf übersiedelt, einen einzigen Tag, nachdem Juden die Ansiedlung dort verboten worden war. Das Unheil, das damit seinen Lauf nimmt, lässt sich zunächst Zeit, denn für die Gesetzeshüter des Bezirks ist ein illegal im Ort wohnender Jude eine willkommene Einkommensquelle. Von gemästeten Gänsen, Branntwein, Tabak bis hin zu „Spenden“ nehmen sie alles, und von allem immer mehr. So gemolken, wohnt diese jüdische Familie in „heimeliger Heiligkeit“ friedlich inmitten der Bauern, einer schickt sogar seinen Sohn in den jüdischen Cheder, weil es sonst keine Schule im Ort gibt. Bis im sechsten Jahr der „Satan“ der scheinbaren Idylle ein jähes Ende bereitet. Trotz höherem „Steuerbetrag“ lassen die neuen Statthalter die Strenge des Gesetzes in voller Härte walten, und wenige Stunden vor dem Sederabend muss die Familie ihr festlich geputztes Haus mit der wenigen fahrbaren Habe verlassen. Selbst Die beschämte Trompete, so der Titel der Geschichte, muss angesichts dieser Schmach verstummen.

Schikanen, Willkür der Obrigkeiten, Enteignung und Plünderungen bis hin zu gelegentlichen Pogromen zu erdulden, gehörte zur Voraussetzung der jüdischen Existenz in den Dörfern nicht nur Wolhyniens, wo Chaim Nachman Bialiks Erzählungen angesiedelt sind.

Liebesgeschichte. Bestenfalls bestimmen gegenseitige Feindschaft und Misstrauen das Verhältnis zwischen den Volksgruppen, wie in der Liebesgeschichte Hinter dem Zaun, wo sich eine kinderlose russische Witwe mit ihrem armen Findelkind Marinka hinter anwachsenden Barrikaden von ihren jüdischen Nachbarn abschottet. Durch löchrige Zäune und nachbarlichen Hass hinweg werden Noah, das einzige Kind des jüdischen Holzhändlers, und Marinka aber über viele Jahre kindliche Freunde und später mehr. Obwohl kein einziger Kuss geschildert wird, „platzt die ganze Erzählung schier von Libido“, unübersehbar in symbolträchtigen Naturbeschreibungen, wie die israelische Autorin Ayelet GundarGoshen in ihrem einfühlsamen und kundigen Nachwort aufzeigt.

„Man kann und sollte sich heute noch
das Vergnügen
gönnen, Bialik zu lesen.“
Ruth Achlama

 

Ob die Geschichte gut ausgeht, hat der Erzähler mit einem Fragezeichen der Erwartungshaltung der Lesenden überlassen. Dass er den Konflikt zwischen verbotenem Eros und gebotener Ehe selbst erfahren hat, beweist ein erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlichter Briefwechsel Bialiks mit der jüdischen Malerin Ira Jan, mit der er während seiner Zeit in Odessa ein Verhältnis hatte.

Gewalt und Idylle. Umso vordergründiger allgegenwärtig ist die Gewalt. Geschunden und geprügelt von der Ziehmutter wird Marinka und Noah, der missratene Sohn, der lieber mit anderen „Gojim“ im Dorf herumstreunt, als im Cheder zu lernen, vom Vater schon mal halbtot geschlagen.

Ein wahrer „Meisterohrfeiger“ ist der Tate Schmuliks, des Ich-Erzählers, im autobiografisch grundierten Episoden-Reigen Wildwuchs. Sechs Jahre alt war Bialik, als sein Vater starb und er in die Obhut des strengen orthodoxen Großvaters gegeben wurde. Die Trennung von der Mutter, der frühkindlichen Umgebung und seiner Kinderliebe „Feigele“ weht als beständiges Trauma durch die ansonsten nostalgisch verklärten Erinnerungen. Besonders liebevoll porträtiert erscheint darin ein verehrter Lehrer, der dem fantasiebegabten Jungen die Freuden des Lernens religiöser Texte inmitten der umgebenden Landschaft eröffnet.

Zart, poetisch und lyrisch besingt diese Prosa die beseelte Natur als Schöpfung G’ttes in biblischen Gleichnissen und den verträumten Ort der Kindheit als paradiesischen Nabel der Welt, so wie Marc Chagalls verzauberte Bilder sein Witebsk ewig erinnern.

Klagelied. Gleichsam als grausames Erwachen in der Realität beschließt das weithin bekannte Poem In der Stadt des Tötens den Band. Nach dem Massaker des 7. Oktobers ist Bialiks immer noch erschreckende Verdichtung des blutigen Pogroms von Kischinew aus dem Jahr 1903 wiederum ins kollektive israelische Gedächtnis gerufen worden, aus dem es ohnehin nie verschwunden war. Ebenso wenig wie der Nationaldichter selbst, an den in Israel Plätze, Orte und Straßen erinnern, dessen Verse jedes Kind begleiten.

Ruth Achlama hat das Wagnis unternommen, nicht nur dieses berühmte Klagelied in modifizierter neuer Form zu präsentieren, sondern auch Bialiks Erzählungen erstmals ins Deutsche zu übersetzen, aus einem Hebräisch von vor hundert Jahren, das Bialik aus den Heiligen Schriften in den Alltag gehoben hat. „Man kann und sollte sich heute noch das Vergnügen gönnen, Bialik zu lesen“, ist Ruth Achlamas Resümee.

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