
„Meine Frau ist sehr tolerant, denn ich verbringe den Großteil meiner Zeit in unserem The Place„, lächelt Tomasz Wiśniewski. Der promovierte Wissenschafter in polnischer und deutscher Literatur ist auf Einladung des Polnischen Instituts aus Białystok nach Wien gekommen, um von seinem außergewöhnlichen Herzensprojekt zu erzählen. Den Ort, an dem der 66-Jährige so viel Zeit verbringt, hat er selbst erdacht, erkämpft und mit tatkräftiger Unterstützung von Freiwilligen realisiert.
„Ich nenne unser Zentrum absichtlich nicht Museum, weil das manchen jungen Leuten doch etwas verstaubt klingt. The Place passt da besser, denn es ist ein Ort, an dem versucht wird, die Vergangenheit der jüdischen Bevölkerung von Białystok vor und nach der Shoah durch Fotos, Dokumente und Filme in Erinnerung zu behalten.“ Die knapp 300.000-EinwohnerStadt Białystok in Ostpolen liegt rund 180 Kilometer nordöstlich der Landeshauptstadt Warschau, nahe der belarussischen Grenze am kleinen Fluss Biała.
Unter dem Motto „Stille Helden“ organisierte Agnieszka Madany, die bei einer Studienreise für österreichische Lehrkräfte nach Polen auch Wiśniewski kennengelernt hatte, den Film- und Diskussionsabend in Wien. Diese Reisen, die gemeinsam mit der Plattform erinnern.at schon einige Jahre durchgeführt werden, bringen die Teilnehmenden an Orte jüdischer Geschichte. Bildungszentren und Gedenkstätten gewähren zusätzlich Einblicke in das gegenwärtige jüdische Leben in Polen. Madany, die im Polnischen Institut die Öffentlichkeitsarbeit, aber auch die kulturellen und gesellschaftspolitischen Agenden betreut, war von Wiśniewski, dem Einzelkämpfer, tief beeindruckt.
„Ich war sehr verärgert – aber Wut zeitigt ja auch Energie:
Ich begann systematisch nach jüdischen Menschen
in der Stadt zu suchen, und ich fand
die letzten paar Białystoker Juden.“
Tomasz Wiśniewski
„Wiśniewski hat hunderte Videos mit polnischen Zeitzeugen produziert und wurde dafür mehrfach international ausgezeichnet. Seine Dokumentationen zeigen beides: Menschen, die weggeschaut haben, und Menschen, die unter Lebensgefahr geholfen haben“, erzählt Madany. Laut Aufzeichnungen der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem wurden allein achtzig Personen aus Białystok als „Gerechte unter den Völkern“ für die Rettung von Juden geehrt. Von dem nichtjüdischen Hausmeisterpaar Jozef und Julianna Bartoszko, das diese Auszeichnung auch verdienen würde, weiß Wiśniewski zu berichten: Nachdem die deutschen Nazis 1941 die Große Synagoge der Stadt in Brand gesetzt hatten, weil sich mehr als 200 Juden dort versteckt hatten, retteten sie zwanzig Menschen vor dem sicheren Feuertod.

Tomasz Wiśniewski, 1958 in Olsztyn (Allenstein) geboren, zog schon sehr früh mit seinen Eltern nach Białystok. Warum interessiert ihn, der über Franz Kafka und Heinrich Böll gearbeitet hat, die Geschichte der vertriebenen und ermordeten Juden? „Das ist eine längere Geschichte, wollen Sie sie hören?“, fragt Tomasz etwas ungläubig und betont, dass er wissentlich keine jüdischen Wurzeln hat. „Meine Eltern waren sehr gebildet, deshalb wusste ich natürlich sehr früh, was sich ab 1939 politisch in unserem Land, gefangen zwischen Hitler und Stalin, ereignete hatte. Sowohl über unsere familiären Verluste im polnischen Widerstand als auch, dass drei Millionen polnische Juden vernichtet wurden. Doch den großen Unterschied machten meine Verhaftung und das Gefängnis.“
Was war passiert? Tomasz war bei der Einführung des Kriegsrechts in Polen 1981* erst 23 Jahre alt, ein Student, der Gitarre spielte, rauchte, Alkohol trank und viel las. „Es brauchte damals nicht viel, um in Ungnade zu fallen“, erinnert sich Wiśniewski, der erst nach neun Monaten Haft wieder freikam. „Ich war gar nicht so unglücklich, denn im Gefängnis gab es eine umfangreiche Bibliothek. Dort habe ich über den Widerstand und die Revolte im Ghetto von Białystok (siehe Kasten) gelesen, und diese Lektüre hat etwas in mir bewegt und verändert.“ Aber auch das Umfeld von Tomasz hatte sich gewandelt: Die meisten seiner Freunde waren 1982/83 ausgewandert, er blieb. Als Außenseiter abgestempelt, bekam er auch keinen Job an der Universität. „Deshalb wurde ich dann Bibliothekar an einer Mittelschule und verdiente zehn Dollar im Monat.“
Der junge Mann konzentrierte sich auf etwas anderes: „Ich habe begonnen, Unterlagen über die jüdische Bevölkerung zu suchen, aber kaum etwas gefunden. Ich war sehr verärgert – aber Wut zeitigt ja auch Energie: Ich begann systematisch nach jüdischen Menschen in der Stadt zu suchen, und ich fand die letzten paar Białystoker Juden“, erinnert sich Wiśniewski. Es waren zwar nicht mehr als zehn, aber indem er Stunden lang mit ihnen sprach, gelang es ihm, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen. Da hörte er plötzlich Geschichten über das gemeinsame Leben vor der Shoah, die alten Leute gingen mit ihm in der Stadt herum, zeigten Synagogen, Friedhöfe, Geschäfte oder einfach nur Wohnungen, in denen Jüdinnen und Juden gelebt hatten. „Ich wurde so etwas wie eine Fachmann für die jüdische Geschichte der Stadt. Man zeigte mir Fotos und Dokumente, die niemand vorher gesehen hatte.“ Historiker gehen davon aus, dass vor dem Krieg in Białystok etwa 50.000 Juden lebten, denn die Stadt war ein wichtiges Zentrum jüdischer Kultur, Religion und Wirtschaft.

Einladung nach Israel. Ein weiteres einschneidendes Erlebnis – außerhalb des Gefängnisses – motivierte Wiśniewski, seinen langjährigen Kampf für The Place mit aller Kraft und trotz negativem Bescheid durch die politischen Instanzen fortzusetzen. „Noch unter dem kommunistischen System hatte ich schon über tausend Stunden meiner Gespräche mit den Menschen in Białystok auf Band und Video aufgezeichnet. Ich habe sie befragt, wie das Zusammenleben vor dem Krieg war, und es war natürlich kein Paradies, aber man hat sich gegenseitig nicht umgebracht“, so der dynamische Mann. „Ich wollte wissen, wer von den polnischen Nachbarn geholfen hat, wer nicht. Aber keinesfalls die Schande vieler Polen unter den Teppich kehren.“
Dieses Material konnte er auch journalistisch gut verwerten: Im Universitätsmagazin veröffentlichte Tomasz rund 200 kleine Geschichten über die ehemaligen jüdischen Bewohner der Stadt, wie sie lebten, wie sie medizinisch und sozial organisiert waren. 1987 erhielt der Privatforscher einen handschriftlichen polnischen Brief aus Israel: „Da schrieb mir ein Michael Flicker, dass ihm einige meiner Kolumnen zugeschickt worden waren, und er lud mich zu sich ein. Ich war einen Monat in Israel, forschte in Tel Aviv im Beit Hatefutsot (seit 2005 umbenannt in ANU – Museum of the Jewish People)**– und war den ganzen Monat lang betrunken! Die Białystoker Landsmannschaft in Israel zählt etwa 300 Personen, und jeden Tag holte mich ein anderer gegen fünf Uhr Nachmittag vom Archiv ab, ich wurde in den Familien herumgereicht und musste täglich Wodka trinken“, lacht Tomasz. „Doch während meiner Erzählungen über Białystok haben die meisten geweint, es war herzzerreißend – nach diesem Israel-Aufenthalt kam ich als komplett anderer Mensch in meine Stadt zurück.“
Wiśniewski gründete 2016 den Verein Museum der Juden von Białystok und der Region, konnte aber erst vor einem Jahr The Place eröffnen. Von den lokalen Behörden kam Lob und eifriges Schulterklopfen für das Ein-Mann-Projekt – aber keinerlei finanzielle Unterstützung. „Von offizieller Seite macht man Gedenkfeiern, um sich so die Hände zu säubern“, konstatiert ein ernüchterter Tomasz. „Wir verdanken alles etwa 20 privaten Unterstützern, darunter einem katholischen Arzt, der uns monatlich tausend US$ überweist.“
Ganz unbekannt ist Wiśniewski nicht, denn er hat schon zahlreiche Auszeichnungen eingeheimst und einige Bücher verfasst, u. a. über den jüdischen Erfinder des Esperanto, den Białystoker Augenarzt Ludwig Zamenhof. Er brachte sich diese Sprache ebenso bei wie Hebräisch, um ein Buch über jüdische Friedhöfe in den umliegenden ehemaligen Stetln verfassen zu können. Bisher sind es neun Bücher, u. a. veröffentlichte er in den USA den Reiseführer The Jewish Bialystok and surroundings, der auch in der New York Times besprochen wurde.
The Place, ein Straßenlokal mit zwei Räumen für Video- und Filmvorführungen und tapeziert mit unzähligen Fotos, haben innerhalb eines Jahres bereits 4.000 Interessierte besucht. Zehn- bis fünfzehn Prozent der Besucher sind jüdische Menschen aus aller Welt, etwa die Hälfte kommt aus der Stadt selbst und der Rest aus ganz Polen. „Freunde warnten mich, ,sie werden dir die Fenster einschlagen‘, aber das stimmte nicht, im Gegenteil: Viele Einwohner sind uns für diese Initiative dankbar. Es finden Vortrags- und Diskussionsabende statt – und erst kürzlich kamen 60 Personen, um an einem Schabbat-Abend mit einem US-Reform-Rabbiner aus Warschau mit uns zu feiern. Der Eintritt ist kostenlos, weil wir eine NGO sind – daher verbringe ich, als völlig Unerfahrener, sehr viel Zeit mit den Formularen für Zuschussansuchen. Zum Glück haben wir schon etwas von der deutschen Regierung und der Rothschild Foundation in London erhalten. Wir streben weniger nach Geld, unser Wunsch ist es, Partnerorganisationen für unser Projekt zu gewinnen!“
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Jüdisches Leben in Białystok
Das in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gegründete Dorf, welches später zur Stadt Białystok wurde, ging 1685 in den Besitz der Familie Branicki über. Bereits 1663 wurde in der Chronik vermerkt, dass in Białystok 75 Frauen und Männer jüdischen Glaubens im Alter von mindestens 14 Jahren lebten: Das wusste man so genau, weil sie Kopfsteuer zahlten. Die Familie Branicki gründete die Stadt im Jahre 1691. Sie regte Juden an, sich hier niederzulassen, baute für sie Häuser, Geschäfte und stiftete sogar eine Synagoge. Die jüdische Gemeinde erlebte eine sehr dynamische Entwicklung. Durch die mehrfachen Teilungen Polens litten Jüdinnen und Juden jedoch wiederholt an den Auswüchsen einer repressiven Politik: Die wirtschaftlichen Erfolge von Juden, die vor allem Pioniere in Industrie und Textilwirtschaft waren, nahmen massiv ab. Unter der russischen Teilungsmacht (1795–1807) entwickelte sich die Haskala (jüdische Aufklärung), auch repräsentiert durch den Augenarzt Ludwik Zamenhof, der zur besseren Verständigung zwischen Chassidim und seiner Gruppe das Esperanto erschuf. Erst Anfang der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts entstand die zionistische Bewegung Chowewej Zion, die Juden zur Auswanderung nach Palästina anregte.
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Das Ghetto von Białystok und die Ausrottung der Juden
Bei Kriegsausbruch am 1. September 1939 war die jüdische Bevölkerung auf rund 50.000 Personen angewachsen. Zwei Wochen später besetzte die deutsche Wehrmacht die Stadt, und bald danach wurde sie der weißrussischen sozialistischen Sowjetrepublik einverleibt. Das jüdische Leben brach zusammen, zeitgleich kamen tausende jüdische Flüchtlinge aus den von Nazi-Deutschland besetzten Teilen Polens nach Białystok: Dadurch schätzt man, dass bis zu 60.000 Juden vorort waren. Die systematische Liquidation der Juden begann im Juni 1941 sowohl mit Massenerschießungen wie gruppenweisen Deportationen. Ende Juli 1941 wurde in Białystok ein Ghetto errichtet, in dem auch Jüdinnen und Juden aus den umliegenden Stetln zusammengepfercht wurden. Im Februar 1943 wurden die rund 17.500 noch verbliebenen Einwohner des Ghettos in die Vernichtungslager Treblinka und Auschwitz verfrachtet. Der jüdische Widerstand im Ghetto agierte bereits ab 1942. Als die Hunderten jüdischen Männer und Frauen im Ghetto von Białystok ihre Revolte startete, war an Überleben nicht zu denken – nur einzelne Kämpfer konnten sich retten. Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatten 300 bis 400 Białystoker Juden entweder als Partisanen oder in Arbeitslagern überlebt, aber nur eine Handvoll kehrte zurück.

* Am 13. Dezember 1981 rief Armeechef Wojciech Jaruzelski (1923–2014) in Polen das Kriegsrecht aus. Es folgten bittere Jahre der Unterdrückung und des Freiheitskampfes im Untergrund. Die Gewerkschaft Solidarnos´c´ wurde verboten, Gewerkschaftsführer wurden inhaftiert und gequält, Oppositionelle zusammengeschlagen und getötet. Trotzdem befreite sich Polen als erstes Ostblockland vom kommunistischen Regime.
** ANU – Museum des jüdischen Volkes befindet sich auf dem Campus der Universität Tel Aviv in Ramat Aviv und wurde 1978 eröffnet. Von 2011 bis 2021 wurde es umfangreich ausgebaut. Vorgestellt werden 4.000 Jahre Geschichte und Gegenwart des Judentums auf 6.700 Quadratmetern Fläche.